Kapitel 13

„John, weißt du, was du da von mir verlangst? Es verletzt alle Prinzipien, Informationen aus einer laufenden Ermittlung – noch dazu einer, die nicht in mein Ressort fällt – unautorisiert nach außen zu geben. Abgesehen davon kann es mich meine gesamte Karriere kosten, wenn das aufkommt.“

John tat es beinahe körperlich weh, seine Schwester in eine so folgenschwere Zwickmühle gebracht zu haben. Schon als Kind war Maggie ein sehr geradliniger Mensch gewesen, klug, fleißig und pflichtbewusst. Gleichzeitig hatte sie sich immer schon leidenschaftlich für Schwächere eingesetzt. Folgerichtig war sie in jedem Jahr ihrer Schulzeit zur Vertrauensschülerin gewählt worden.

„Ich weiß, Maggie. Ich würde dich auch nicht darum bitten, wenn die Lage nicht so verzweifelt wäre.“ In der Leitung herrschte Stille. Schließlich hatte seine Schwester eine Entscheidung gefällt.

„Verdammt. Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Sie schnitt Johns Dankesworte ab und fuhr fort. „Aber du wirst keiner Menschenseele verraten, woher du diese Informationen hast, versprich es mir. Niemandem!“

John versprach es.

„Komm heute zum Abendessen. Alan ist gestern nach Brüssel geflogen, aber die Kinder freuen sich sicher, dich endlich einmal wiederzusehen. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten.“

Als John auflegte, war ihm ein wenig leichter zumute.

Gleich darauf rief Bonnie an. „Dieser Richard!“, schimpfte sie erbost. „Gerade kam ein Anruf von ihm. Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, seine Mutter hätte eine ruhige Nacht gehabt und wirkte nun wieder etwas gefasster, sagte er nur, ich solle sie schön grüßen und er würde dann morgen vorbeischauen. Heute hätte er eine Reihe wichtiger Termine. Was sagen Sie dazu? Ich weiß gar nicht, warum Marcia ihn so vergöttert. Seine Masche als liebender Sohn zieht er wohl nur für die Öffentlichkeit durch, aber in Wirklichkeit ist er ein egoistischer, kalter Fisch.“ Sie redete sich immer mehr in Rage, bis sich ihr Ton mit einem Mal schlagartig änderte. „Marcia, wieso sind Sie aufgestanden? Ich bringe Ihnen sofort Ihren Tee, legen Sie sich nur wieder hin. Ich habe gerade John Mackenzie erklärt, wie schön es doch ist, dass Richard sich trotz seiner immens wichtigen Termine morgen die Zeit nimmt, um seine Mutter zu besuchen.“, flötete sie. Dann leiser, „Ich versuche, Sie zu erreichen, sobald er da ist. Wiedersehen, John.“

Mit dem Gefühl, auf der Stelle zu treten, legte er frustriert auf. Vor dem Gespräch mit Maggie heute Abend würde er offensichtlich nichts Neues herausfinden. Ein Blick in den Kalender zeigte ihm, dass Weihnachten mit Riesenschritten näher rückte. Er beschloss, den heutigen Tag für seine Einkäufe zu nutzen, nachdem Doc Hunter seinen Verband gewechselt hatte und er mit Mullins gesprochen hatte.

Während der Arzt sehr zufrieden war – „Die Wunde hat sich nicht entzündet. Wenn Sie´s noch ein, zwei Tage ruhiger angehen lassen, sind Sie so gut wie neu.“ – fand John Chief Mullins am Rande eines Tobsuchtsanfalls vor.

Bonnies Schreibtisch war mit ungeöffneter Post übersät. Mit dem Brieföffner traktierte Mullins gerade einen dicken Umschlag.

„Wie soll ich den ganzen Betrieb hier am Laufen halten, wenn ich Stunden und Tage damit vergeude, mich sinnlos mit diesen hirnlosen Vollidioten von der Polizei herumzustreiten und dann auch noch den Job meiner Sekretärin übernehmen muss. Wo ist die verdammte Schere?“ Er hielt inne, als sein Blick auf Johns frisch verbundene Hand fiel. „Was haben Sie denn angestellt?“

„Kleiner Fütterungsunfall, nichts Ernstes. Ab morgen bin ich wieder im Dienst.“

„Hm.“ Mullins warf den Briefumschlag hin und lehnte sich an Bonnies Schreibtisch.

„Es ist zum Kotzen, Mackenzie. Gestern habe ich mit den Männern über den Fußballabend letzte Woche gesprochen. Die meisten konnten mir genau sagen, welche Spielzüge jedem einzelnen Tor vorausgegangen waren und wer wen wie gefoult hatte, aber ansonsten hat keiner etwas mitbekommen. Logischerweise kann sich keiner erinnern, wer wann den Raum verlassen hat.“ Er seufzte. „Haben Sie schon mit Richard gesprochen?“

„Nein, Sir, er hat Bonnie gesagt, er würde doch erst morgen wieder herkommen.“ Zu gerne hätte er Mullins von seinem Gespräch mit Maggie erzählt, aber sein Versprechen verpflichtete ihn zum Stillschweigen. Missmutig griff Mullins erneut nach dem Brieföffner.

„Dann stecken wir fest. Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren. Ich kann meine Verpflichtungen als Kommandant dieser Einheit auch nicht länger ruhen lassen, um jemandem beizustehen, der jede Hilfe ablehnt.“ Er seufzte. „Und ich brauche auch Bonnie schnellstmöglich wieder hier, sonst drehe ich noch durch. Von mir aus engagieren wir eine Krankenschwester für Marcia, falls das nötig ist. Und nun lassen Sie mich allein, damit ich anfangen kann, dieses Chaos in den Griff zu bekommen.“ John zog sich eilig zurück.

Eine Stunde später tauchte er in die vorweihnachtliche Glitzerwelt der Konsumtempel von Knightsbridge ein. Bewaffnet mit einer langen Einkaufsliste ließ er sich von der Menge dick vermummter Menschen ins Kaufhaus Harrods hineinschieben.

Wie immer überkamen ihn in der prunkvollen Lebensmittelabteilung zwischen den vielen Theken mit Spezialitäten aus aller Welt Kindheitserinnerungen. Eine Tasse heiße Schokolade und eine Süßigkeit in diesen Räumen, die sich seither kaum verändert hatten, war für die drei Mackenzie-Geschwister oft der krönende Abschluss eines samstäglichen Stadtbummels der gesamten Familie gewesen.

Nun stand er staunend vor einer endlos langen Anrichte mit handgemachten Pralinen. Ingwerstäbchen, Himbeer-Champagner-Trüffel, Mokkapralinen, Kompositionen aus Marzipan und Nougat und auch in seinen Augen ungewöhnlichen Zutaten wie Rosmarin, Chili und Calvados.

Spontan erstand er für Maggie eine kleine Auswahl aus liebevoll verpackten Nuss-Schokoladen-Kreationen. Als er erheblich später zur Kasse ging, quoll sein Einkaufskorb schier über: Darjeeling- und Earl Grey-Tees für seine Mutter, mit der er die Leidenschaft für das britische Nationalgetränk teilte, dazu schottisches Shortbread, das Lieblingsgebäck seines Vaters, und dessen bevorzugte Marke bitterer Orangenmarmelade. Sein Bruder David würde sich über die biologisch angebauten Kaffeesorten aus Costa Rica, Panama und Brasilien freuen, Maggies Ehemann Alan über eine Flasche Ardbeg-Whisky.

Er deponierte alles in einem Schließfach des Kaufhauses und wanderte weiter in die Spielzeugabteilung. Wenig später gesellten sich zu den Leckereien in seinem Depot ein großes Plüschpferd, mehrere Puzzles und zwei Modellautos.

Auf dem Weg in die Sportabteilung passierte er einen Sonderstand mit herrlich weichen Kaschmirschals, denen er nicht widerstehen konnte. Er hatte bereits für seine Auswahl bezahlt, als ihm ein leuchtend roter Schal ins Auge sprang. Der würde Bonnie sicher gut stehen. Kurz entschlossen packte er erneut sein Portemonnaie aus.

Danach steuerte er einen gut sortierten Buchladen an. Aus seinem Plan, mit dem Bildband über die Dinosaurierausgrabungen das Geschäft prompt wieder zu verlassen, wurde nichts. Bücher waren eine seiner Leidenschaften. Er genoss es, in die Welten, die sich zwischen ihren Seiten auftaten einzutauchen.

Und so amüsierte sich Michael Conners, der sich gerade auf den Weg zum Karatetraining machte, zwei Stunden später über seinen zerzaust aussehenden Kollegen, der eilig aus einem Taxi sprang und sich mit Hilfe des Fahrers einen Berg Päckchen und Tüten auflud. Gehindert durch die verletzte Hand, verlor John auf dem Weg zum Eingang unvermeidlich einige der Päckchen.

Conners sprang ihm bei. „Hallo, John. Komm, ich helfe dir beim Tragen. Wenn ich mich zum Training ein paar Minuten verspäte, macht das nichts.“ John bedankte sich erleichtert und sie eilten in der Dämmerung über das Tower Green.

„Ich möchte mich keinesfalls wieder für die Abendfütterung der Raben verspäten.“ Conners warf einen betonten Blick auf Johns linke Hand und grinste.

„Beim Mittagessen habe ich schon unterschiedliche Geschichten gehört, was dir gestern passiert ist. Abbott sagte, einer unserer Raben hätte dir einen Finger abgehackt. Denham meinte, du hättest dich beim Herrichten des Futters selbst geschnitten. Die Version, die Raben hätten dir aufgelauert und sich alle vereint auf dich gestürzt, konnte keiner von uns glauben.“ John musste wider Willen lachen.

„Keine Sorge, es sind noch alle Finger dran. Ich erzähle dir die Geschichte mal in einer ruhigen Minute, Michael. Aber jetzt muss ich wirklich los.“

„Oh, zur Abwechslung einmal pünktlich“, begrüßte Maggie John, als sie ihm die imposante Eingangstür ihres Hauses in Belgravia öffnete. Sie umarmten sich und er überreichte ihr die Naschereien, die er heute gekauft hatte. Ihre Augen leuchteten auf.

„Mmh, dunkle Schokolade und Macadamia-Nüsse, meine Lieblingskombination. Ich danke dir, Bruderherz.“ Sie verpasste ihm einen herzhaften Kuss. Von hinten kam Bella angerannt und warf sich in die Arme ihres Onkels. John schwenkte sie herum.

„Hallo, mein Mädchen. Wie geht es dir?“

„Guuuuuuut. Gestern durfte ich in der Reitstunde zum ersten Mal galoppieren!“

„Donnerwetter, du musst mir beim Essen alles darüber erzählen. Wo ist dein Bruder?“

„Yo, John.“ Sein ältester Neffe Tommy kam herangeschlurft.

„Äh, yo.“ Mit seinen vierzehn Jahren fühlte Tommy sich zu alt für eine Umarmung, also reichte John ihm die Hand. Fasziniert starrte er den klobigen Silberring an, der die Nase seines Neffen zierte.

„Der ist wohl neu?“ Er bemühte sich, seinen Ton neutral zu halten. Tommys Augen leuchteten auf.

„Ja, cool, was?“

„Äh…“

„Kommt, wir essen jetzt. Ab zum Händewaschen.“ Geistesgegenwärtig hatte Maggie ihren Bruder vor einer Antwort gerettet.

„Ich hätte ihn erwürgen können, als er gestern mit diesem Ding hereinspaziert ist, einfach so, mir nichts, dir nichts.“, raunte sie John zu, während die Kinder im Badezimmer verschwanden. „Und Alan gleich mit dazu. Er findet dieses widerliche Teil, das seinen Sohn verunstaltet, „lässig“. Na, eigentlich kein Wunder.“

Alan Hughes hatte sich in seinen jungen Jahren regelmäßig auf dem Dachboden seiner Großmutter versteckt, um an allen möglichen technischen Geräten herumzuschrauben und er hatte wie ein Besessener Stunden und Tage mit den damals aufkommenden Computerspielen verbracht. Dann hatte er angefangen, selbst Spiele zu programmieren und an Gleichgesinnte zu verhökern. Für die Schule war dadurch verständlicherweise keine Zeit geblieben und so hatte er mit sechzehn Jahren ohne Abschluss die Lehranstalt verlassen. Seither hatte sein außerordentliches Talent für das Programmieren ihm zu seiner eigenen florierenden Firma verholfen, die die Computersysteme internationaler Organisationen gegen Angriffe von außen schützte.

Maggie und Alan hatten es geschafft, all diejenigen Lügen zu strafen, die vor über zwanzig Jahren prophezeit hatten, die Beziehung dieser so unterschiedlichen Menschen würde keine zwei Monate halten.

John lachte. „Ach, Maggie, du und Alan, ihr habt euch immer schon gut ergänzt, auch wenn eure Ansichten manchmal auseinandergehen. Mach dir keine Sorgen, Tommy wird sich schon nicht gleich den Hells Angels anschließen.“ Dabei fiel ihm etwas ein. „Hast du in letzter Zeit mit Mum gesprochen?“

Während sie die sämige Kürbissuppe verzehrten, diskutierten die beiden Geschwister lebhaft über Emmeline Mackenzies ungewöhnliches neues Interesse an der Red Hat Society.

„Wie bitte? Oma in einem lila Kleid?“ Bella kicherte. Sogar Tommy verzog einen Mundwinkel nach oben. Maggie schob ihren leeren Teller von sich.

„Eine meiner älteren Kolleginnen, die leitende Staatsanwältin für Wirtschaftsstrafverfahren, ist auch dort Mitglied. Ich denke, sie genießt die Aktivitäten dieser Gruppe als Kontrast zu ihrem Berufsleben. Die Red Hat Sisters haben sich auf die Fahnen geschrieben, die humorvollen und auch frivolen Seiten des Lebens gemeinsam auskosten zu wollen.“ Sie stand auf, um die Teller abzuräumen. „Ich finde es gut, dass Mum mal aus ihrem ewigen Kreislauf ausbricht. Schließlich hat das Leben noch andere Seiten zu bieten, als Haus und Garten, Enkel und Gartenclub.“ Auf dem Weg zur Küche drehte sie sich noch einmal um. „Ach übrigens, John, hast du schon gehört, dass Tante Isabel dieses Jahr mit uns Weihnachten feiern wird?“ Erstaunt sah John auf.

„Wie kommt das denn? Ist ihr die weite Reise nicht zu beschwerlich?“ Maggie zuckte die Schultern.

„Mit dem Flieger ist sie von Inverness in einer Stunde hier. Mum hat mich heute angerufen und mich gebeten, sie am 23. Dezember am Flughafen abzuholen und nach Kew zu bringen.“ Sie kicherte. „Scheinbar hatte Tante Isabel sich einfach selbst über die Feiertage eingeladen. Mum war einigermaßen aufgebracht, dass Isabel ihr am Telefon schlicht mitgeteilt hat, wann sie ankommen wird und dass sie eine extra Heizdecke in ihrem Zimmer wünscht. Ach, und natürlich bringt sie Sir Walter Scott mit.“ John sah seine Schwester an, als hätte sie den Verstand verloren. Auch Bella merkte auf.

„Sir Walter Scott? Von dem haben wir gerade in der Schule etwas gelernt. Er hat Ivanhoe geschrieben. Aber ist der nicht schon lange tot?“

„Über hundertsiebzig Jahre, Schätzchen. Aber Tante Isabels Walter Scott ist kein Schriftsteller, sondern ein Hund. Unsere Großtante ist nämlich nicht nur Schaffarmerin, sondern auch eine bekannte Hundezüchterin und Walter ist – oder war, sollte ich besser sagen, ihr letzter Champion. Mittlerweile ist er wohl schon in einem ziemlich gesegneten Alter. Ohne ihn geht sie nirgendwohin.“

„Jetzt kann ich mich wieder erinnern.“, sagte John. „Hat sie nicht irgendeine Terrier-Rasse gezüchtet? Als wir zuletzt bei ihr waren, hatten sie doch einen Rüden mit Namen Robert the Bruce, nicht wahr?“

„Du hast recht. Es waren Scotch Terrier und ihre besten Hunde trugen immer die Namen schottischer Nationalhelden.“ Maggie schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie ist nun mal Schottin durch und durch. Ich bin ja gespannt, ob sie und Mum sich wieder Redegefechte liefern werden. Dann werden die Weihnachtstage sicher amüsant.“ John nickte grinsend.

„Was sie wohl für einen Grund hat, nach so vielen Jahren wieder einmal herzukommen? Na, sie wird es uns schon mitteilen. Auf jeden Fall freue ich mich, das alte Mädchen wiederzusehen.“

Während sie den Gemüseauflauf aßen, hörte sich John geduldig die Pferdegeschichten seiner Nichte an, bis er das Gefühl hatte, er müsste selbst loswiehern.

„Hey, was ist das denn? Ihr veranstaltet hier eine Dinnerparty und sagt mir nichts?“ Mit gespielter Entrüstung stand Maggies Älteste in der Tür. Maureen Hughes, genannt Renie, die von ihrer Mutter deren soziale Ader und Organisationstalent und von ihrem Vater eine gehörige Portion von Unbeirrbarkeit – oder, wie Maggie es genannt hätte, Dickköpfigkeit – und Abenteuerlust geerbt hatte, studierte im zweiten Jahr Anthropologie in London.

Da sie partout so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen wollte, hatte sie ihr komfortables Zuhause für ein winziges Zimmer in einer Wohngemeinschaft aufgegeben. Nur zähneknirschend akzeptierte sie, dass ihre Eltern einen Teil ihres Lebensunterhaltes finanzierten. Den Rest verdiente sie sich selbst, indem sie bei Starbucks hinter der Theke stand, so oft es neben ihrem Studium ging.

Maggie umarmte ihre Tochter. „Hallo, mein Schatz. Ich wusste gar nicht, dass du heute vorbeikommen wolltest. Komm, setz dich, du kommst gerade rechtzeitig zur Nachspeise.“

„Onkel John! Was machst du denn hier? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Lass dich drücken.“ Da John bei Renies Geburt bereits im Ausland gewesen war, hatten sie sich über die Jahre nur selten gesehen. Dennoch bestand eine besondere Sympathie zwischen beiden. Renie ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und verkündete, „Eigentlich wollte ich nur schnell einen Packen von meinen Sachen vorbeibringen. Aber wenn das so ist, dann bleibe ich heute Nacht hier und wir können uns gemütlich unterhalten.“

„Natürlich kannst du hierbleiben, Renie. Es ist mir sowieso lieber, wenn du nachts nicht allein unterwegs bist.“

Renie rollte bei den Worten ihrer Mutter belustigt die Augen.

„Ach, Mum, sei doch nicht immer so gluckenhaft. Mir passiert schon nichts. Übrigens konnte ich mein Zimmer für das nächste halbe Jahr an eine Kommilitonin aus Ecuador untervermieten. So lange ich in Südafrika bin, brauche ich es ja nicht. Oh, ich kann kaum noch erwarten, dass es losgeht.“ Während sie gesprochen hatte, hatte sie mühelos eine Schale Pudding verdrückt. Sie holte sich einen großzügigen Nachschlag.

„Erzähl mal, Renie. Was wirst du dort tun?“

Erfreut über das Interesse ihres Onkels schilderte sie ihm haarklein, welche Aufgaben in Mhluzi, einem Township nordöstlich von Johannesburg, auf sie warteten.

„Es wird also ganz toll werden und wir können wirklich etwas für die Leute bewirken“, schloss sie schließlich mit leuchtenden Augen und fuhr im selben Atemzug fort „Nun erzähl du aber mal von dieser Mordgeschichte im Tower. Das Mädchen war ja wie ich an der LSE. Aber diese Businesstypen an der Wirtschaftsfakultät haben mit uns Sozialwissenschaftlern so gut wie nichts zu tun. Die haben meistens nur Dividendenausschüttungen und Börsenkurse im Kopf.“

John warf seiner Schwester einen schnellen Seitenblick zu. Sie presste die Lippen aufeinander.

„Renie, ich weiß auch nicht viel mehr, als die Zeitungen schreiben.“, sagte er vorsichtig.

„Denkst du, euer Ravenmaster ist wirklich der Täter? Als du uns damals bei unserem Besuch im Tower vorgestellt hast, hat er eigentlich sehr nett gewirkt.“

„George und ich sind Freunde. Daher fällt es mir schwer zu glauben, dass er ein Mörder sein soll.“, antwortete John ausweichend. Renies hellwacher, prüfender Blick erinnerte John lebhaft an den Superintendenten.

„Gibt es denn Hinweise auf eine Verbindung zwischen ihm und Julia?“, bohrte sie weiter.

„Äh…“

Wieder rettete Maggie ihren Bruder, indem sie ihre wissbegierige Tochter ermahnte, „Renie, zügle deine Neugierde. Erstens ist dies kein geeignetes Thema für ein Abendessen mit deiner neunjährigen Schwester und zweitens kannst du dir doch denken, dass John als Mitglied der Beefeater über interne Vorgänge nichts sagen darf.“

„Aber wir sind doch hier unter uns – “, begehrte Renie auf, ließ das Thema aber nach einem mörderischen Blick ihrer Mutter wohlweislich fallen.

Nachdem John mit den drei Kindern ein lebhaftes Tischfußball-Match geführt hatte, fanden die beiden Erwachsenen Zeit, sich ins Wohnzimmer zurückzuziehen. Einige Augenblicke lang genossen beide schweigend den Anblick des lodernden Feuers im offenen Kamin, während sich der riesige Familienkater King Olaf häuslich auf Johns Schoß einrichtete. John kraulte den Kater unterm Kinn.

„Renie ist eine tolle junge Frau. Sie geht zielstrebig ihren Weg und ist bei allem, was sie tut, mit Leidenschaft dabei.“

Maggie schnaubte.

„Ja, sie weiß genau, was sie will und sie ist ungeheuer zäh darin, das auch zu erreichen. Wenn ich bedenke, wie viele Diskussionen ich mit dem Kind schon hatte! Schon in der Vorschule hat sie angefangen, mit mir Auseinandersetzungen zu führen, egal über was. Vom Pausenbrot über die Hausschuhe bis hin zur Frage, warum wir in England Linksverkehr haben. Was war ich froh, dass das Jurastudium mich argumentieren gelehrt hat.“ Sie kicherte. „Und sie ist wohl einer der der stursten und neugierigsten Menschen auf Gottes Erde. Nein und warum waren ihre ersten Worte.“

„Nun gib schon zu, Maggie, dass du stolz auf deine große Tochter bist. Du hast auch allen Grund dazu. In zwanzig Jahren sehe ich sie schon als Entwicklungshilfeministerin oder Präsidentin der Welthungerhilfe.“ Die Geschwister lachten.

„Und ich wüsste sogar noch einen weiteren Beruf, in dem sie gut wäre: Kriminalpolizistin. Sie ist clever, will den Dingen auf den Grund gehen und sie kann einen schon jetzt beinahe so gut in die Mangel nehmen wie unser geliebter Cousin.“

Dies brachte sie zu dem Anlass, aus dem er heute Abend hier war. „Hast du irgendetwas herausfinden können, Maggie?“

„Ja. Aber John, du darfst keinesfalls mit jemandem über unser Gespräch reden.“

„Das habe ich dir doch schon versprochen. Du kennst mich, ich würde nie dein Vertrauen missbrauchen.“

„Ja, natürlich…. Also, bis jetzt weiß die Metropolitan Police Folgendes: Obwohl die Tote tatsächlich zeitweise in der Konzernzentrale beschäftigt war, wo auch dieser von Düntzen arbeitet, ließ sich bisher keinerlei Verbindung zwischen den beiden finden. Stattdessen hat sich leider herausgestellt, dass es mindestens einen Kontakt zwischen Miss Feldmann und einem Mitglied der Familie Campbell gab: Von ihrem Handy aus wurde in der Wohnung der Campbells angerufen.“ John sog scharf die Luft ein.

„Dann hat George also gelogen? Verdammt.“

Maggie wog zweifelnd den Kopf.

„Es ist nicht bewiesen, dass sie mit George gesprochen hat. Es könnte ja auch seine Frau am Apparat gewesen sein oder vielleicht sogar der Sohn, falls er gerade zu Besuch bei seinen Eltern war. Weiter: George hat am Tag des Mordes zwanzigtausend Pfund bei seiner Bank abgehoben und diese wenige Tage später wieder bis auf den letzten Pence auf sein Konto eingezahlt.“

„Zwanzigtausend Pfund! Ich habe gesehen, wie er mit einem Geldbündel in der Bank verschwand, aber dass es so viel war, hätte ich nicht gedacht.“ John seufzte. „Oh je, das sieht schlecht für George aus. Wenn ich Kriminalbeamter wäre, würde sich mir der Gedanke aufdrängen, die Studentin hätte versucht, George zu erpressen und er hätte sie bei der Übergabe des Geldes umgebracht.“

„Die Theorie verfolgt Simon ebenfalls.“

„Wenn Scotland Yard schon so niederschmetternde Indizien gefunden hat, warum gehen sie dann nicht an die Öffentlichkeit damit? Ich verstehe das nicht.“

„Darauf allein lässt sich kein Fall aufbauen und das weiß Simon. Gerade bei so einer Geschichte von nationalem Interesse darf er sich keinen Fehler erlauben. Und es gibt auch noch ein, zwei Haare in der Suppe.“ John beugte sich erregt nach vorn.

„Was ist das? Nun sag schon“

„Zum einen sind die Tory-Herren, die mit George bei der Schlüsselzeremonie waren, so gut wie sicher, dass er sie zu keinem Zeitpunkt verlassen hat – “

„Damit hat George ein Alibi!“ Wie elektrisiert sprang John aus dem Sessel. King Olaf hatte alle Pfoten voll zu tun, um sich mit einem Satz vor einem Sturz zu retten. Sichtlich beleidigt zog er sich zurück.

„Tut mir Leid, Dicker. Aber das ist ja phantastisch!“

„Immer langsam, John. Keiner von ihnen ist bereit, Georges stete Anwesenheit auch vor Gericht zu beschwören, da sie sich ihrer Sache eben nur fast sicher sind. Dennoch wecken ihre Aussagen Zweifel daran, dass George während des Appells im Innenhof sich, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, minutenlang hätte entfernen können.“

„Okay. Du sagtest, es gäbe ein, zwei Haare in der Suppe – was also noch?“

„Schon lange, bevor die Kollegen in Deutschland eine mögliche Verbindung des Managers zu Julia Feldmann überprüfen konnten, erhielt die Polizei einen anonymen Hinweis auf eine Verwicklung des Ravenmasters in die Sache. Daraufhin startete Simon einfach ins Blaue hinein die Aktion mit den Fingerabdrücken aller Beefeater. Und Bingo – hatte er George im Sack.“ John stand wie vom Donner gerührt.

„Ein anonymer Anrufer? Wer könnte das sein?“

Maggie zuckte die Achseln.

„Das konnte bisher nicht ermittelt werden. Um ehrlich zu sein, interessiert Simon das auch nicht. Da er keinen anderen Verdächtigen hat, versucht er jetzt mit aller Macht, trotz der Ungereimtheiten ein Geständnis von George zu bekommen. Aber dein Freund übt sich beharrlich in Stillschweigen und treibt Simon damit noch zur Raserei.“

Beide Geschwister konnten sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen.

„Simon hat nun vor, Marcia so schnell wie möglich zu befragen. Ihr Arzt hat ihm bis jetzt ein Verhör untersagt, da er die Gefahr eines Nervenzusammenbruchs sieht, aber Simon wird sich nicht länger hinhalten lassen. Er hat vor, morgen mit einem forensischen Psychiater im Tower anzurücken, um ihre Vernehmungsfähigkeit kritisch zu prüfen.“ John runzelte die Stirn.

„Hm. Das wird sicher schwierig für Marcia. Dennoch verstehe ich, dass Simon mit ihr sprechen will. Niemand kann bezeugen, dass sie sich zur fraglichen Zeit wirklich in ihrer Wohnung aufgehalten hat. Und letzten Endes könnte es sein, dass George wirklich unschuldig ist und die Aussage verweigert, um seine Frau zu schützen.“ Spontan ergriff er Maggies Hände und drückte sie.

„Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Du bist ein großes Risiko eingegangen, um George zu helfen, aber die Informationen sind es wert, denke ich.“ Auf dem Weg zur Haustür fragte er, „Wie hast du es eigentlich geschafft, unauffällig an sie heranzukommen?“ Maggie legte den Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf.

„Du möchtest das gar nicht wissen, John. Und nun pass auf dich auf und sieh zu, was du für deinen Freund tun kannst.“

Am Eingang zur U-Bahn entschied John kurzerhand, nicht zurück zum Tower zu fahren. Er musste ein wichtiges Gespräch führen.


Загрузка...