Kapitel 3

Als John Mackenzie am nächsten Morgen vom Wecker aus einem rastlosen Schlaf gerissen wurde, erinnerte ihn das Klingeln in seinen Ohren blitzartig an die Geschehnisse der Nacht.

Der Gedanke, dass er das Mädchen vielleicht vor ihrem Angreifer hätte retten können, hätte er nur rechtzeitig seinen Weg am Verrätertor vorbei zum Byward Tower angetreten, war ihm unerträglich. Er schleppte sich in die Küche und warf einen Blick auf seinen Dienstplan. Die nächsten beiden Tage war er ganztägig für die Touristenführungen durch den Tower eingeteilt. Von morgens bis abends im Stundenrhythmus Gruppen durch die Festung zu führen, war ohnehin anstrengend, aber wie er das in seinem Zustand schaffen sollte, war ihm ein Rätsel.

Vielleicht wusste Doc Hunter Rat. Die Gemeinschaft der Beefeater, die mit ihren Familien im Tower lebte, verfügte neben einem eigenen Priester auch über einen hauseigenen Arzt, der gleich neben seiner Wohnung kleine Praxisräume hatte. John hatte den alten Herrn außer zur Einstellungsuntersuchung noch nicht konsultiert, hatte ihn dort aber als ruhigen und gründlichen Mann kennen gelernt.

Als John läutete, öffnete ihm Dr. Hunter persönlich. Mit einem Blick auf die Frühstückskrümel auf dem Pullover des Arztes entschuldigte sich John für sein frühes Erscheinen.

„Keine Sorge, Mackenzie. Ich bin sicher, Sie haben einen triftigen Grund für Ihr Kommen.“ Der Doktor winkte ihn herein. „Setzen Sie sich und erzählen Sie, was los ist.“

Verkehrte Welt, dachte John, während er in den Besuchersessel sank. Wie oft hatte er während seiner Dienstjahre mit ähnlichen Worten Ratsuchende begrüßt.

„Doc, mein Tinnitus ist wieder da. Sie wissen doch, dass ich in meinem letzten Jahr bei der Armee einen Gehörsturz hatte und danach sehr lange unter diesen Ohrgeräuschen litt?“ Hunter sah ihn aufmerksam an.

„Natürlich, Mackenzie. Sie sagten mir bei der Einstellungsuntersuchung, dass der Stress Ihrer Tätigkeit der Auslöser dafür war und Sie deshalb entschieden, Ihren Posten aufzugeben.“ John nickte und lehnte sich im Sessel zurück.

„In den letzten Jahren engte sich mein Aufgabengebiet immer mehr ein. Während ich früher Ansprechpartner bei allen möglichen Problemen der Armeeangehörigen war, von Mobbing über Schlafstörungen und Drogenmissbrauch bis zu Beziehungsproblemen, wurde ich in den letzten paar Jahren fast ausschließlich in der Arbeit mit traumatisierten Soldaten eingesetzt. Als die Anti-Terror-Einsätze unserer Streitkräfte zunahmen, gab es immer mehr Männer und Frauen, die bei den Einsätzen Unvorstellbares erlebten. Trotz aller Therapieverfahren, in denen wir ausgebildet wurden, trotz unseres Einsatzes rund um die Uhr, war alles, was wir tun konnten nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“

John holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.

„Ich spürte, wie die Schicksale der meist jungen Leute mich immer mehr belasteten; dazu kam die Hilflosigkeit, weil ich nicht mehr für sie tun konnte. Als ich schließlich zu zweifeln begann, ob unsere militärischen Einsätze wirklich immer sinnvoll sind, wusste ich, ich kann meine Arbeit so nicht weitermachen. Der Gehörsturz hat mir klargemacht, dass ich den Dienst schnellstmöglich quittieren muss, um einen Neuanfang zu machen.“

Der Arzt öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber John winkte ab. „Ich hatte ja auch großes Glück. Diese Stelle zu bekommen, wieder in England sein zu können, meine Familie wieder öfter als zweimal im Jahr zu sehen… Mir ging es gut, die ersten Monate hier. Aber dieser Todesfall gestern Nacht –“

„Mackenzie, hören Sie mir zu“, unterbrach der Arzt ihn sanft, aber nachdrücklich.

„Ich habe Ihre Personalakte gesehen und weiß, dass Sie einen guten und wichtigen Job gemacht haben. Ihre Vorgesetzten hielten große Stücke auf Sie. Aber Sie sind nun mal ein Mensch – und wie bei jedem Menschen sind Ihre Möglichkeiten einfach begrenzt. Ich verstehe, dass das Leiden der anderen irgendwann einfach zu viel wurde. Und nun glaubten Sie, im Tower einen sicheren Hafen gefunden zu haben, wo es endlich nicht mehr um Leben und Tod geht. Da ist es doch nur menschlich, wenn dieser gewaltsame Tod in unserer Mitte Sie aus der Fassung bringt.“ John schüttelte den Kopf.

„Das allein ist es nicht. Aber, so wie es aussieht, habe ich vielleicht Mitschuld am Tod der jungen Frau.“

Bass erstaunt sah der Arzt ihn an. John schilderte ihm die Geschehnisse des Vorabends. Dabei fiel ihm ein, dass er dem Superintendenten gar nichts von der Gestalt erzählt hatte, die er durch die Water Lane davoneilen gesehen hatte. Schließlich langte er bei der Vermutung Whittingtons an, die Studentin wäre auf dem Weg zum Ausgang getötet worden.

„Verstehen Sie, Doc, es muss kurz nach 22.00 Uhr passiert sein, als die Gruppe nach dem Zapfenstreich hinausging. Wäre ich schnurstracks zu meinem Posten gegangen, hätte ich den Tatort nur kurz nach ihnen passiert und hätte den Angriff vielleicht verhindern können.“

„Warten Sie mal. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es so hätte ablaufen können.“, wandte der Arzt kopfschüttelnd ein.

„Wieso nicht? Wenn das Mädchen sich am Ende der Gruppe befand, während alle dem Ausgang zustrebten, wäre dies doch für den Mörder der geeignete Moment gewesen, zuzuschlagen.“

„Unsinn. Denken Sie doch nach: Der Wachhabende, der die Gruppe während der Schlüsselzeremonie begleitet, hat strengste Order, beim Verlassen des Towers stets am Ende der Gruppe zu gehen, damit keiner zurückbleibt.“ Aufgeregt sprang John aus dem Sessel.

„Aber natürlich, Sie haben recht! Dass ich daran nicht gleich gedacht habe. Wenn Conners vorschriftsmäßig beim Hinausgehen die Nachhut gebildet hat, kann der Mord gar nicht zu diesem Zeitpunkt passiert sein! Ich muss sofort mit ihm reden. Tausend Dank, Doc.“ Schon wollte er zur Tür hinaus. Doch der Doktor rief ihn energisch zurück.

„Stopp! Junger Mann, Sie wissen, dass wir etwas gegen den Tinnitus unternehmen müssen. Ansonsten laufen Sie Gefahr, dass das Ohrklingeln Sie wieder über Monate begleitet. Also bekommen Sie jetzt erstmal eine Infusion und dann schreibe ich Sie für die nächsten Tage krank.“

John wusste, dass der Arzt recht hatte und gab sich geschlagen.

Eine Stunde später lauschte er ungeduldig, wie Michael Conners am Tower Green, dem Hinrichtungsplatz innerhalb der Festungsmauern, einer dick vermummten Besucherschar die Geschichte von Lady Jane Grey, der „Neuntagekönigin“ Englands erzählte. Trotz seiner auffällig fahlen Gesichtsfarbe und den tiefen Augenringen schien der Beefeater ganz in seinem Element. Gefesselt lauschte die Besucherschar seinem Vortrag.

„Ebenso wie vor ihr zwei der Frauen von Heinrich dem Achten, Anne Boleyn und Catherine Howard, fand auch die erst siebzehnjährige Jane Grey an dieser Stelle den Tod. Jane war eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Schon in jungen Jahren war sie vielseitig interessiert und gebildet und sprach unter anderem Latein und Griechisch. Als Urenkelin Heinrichs des Siebten stand sie in der Thronfolge nur an vierter Stelle, dennoch wollte ihr machthungriger Vater, der Herzog von Suffolk, seine jugendliche Tochter unbedingt auf dem englischen Thron sehen. Dazu wurde sie, gerade fünfzehnjährig, gegen ihren Willen mit Guilford Dudley, dem Spross einer anderen einflussreichen Familie vermählt.

Just zwei Wochen später starb König Edward mit nur fünfzehn Jahren. Janes Vater und ihr Schwiegervater, der Edwards engster Berater gewesen war, wollten die Thronfolge durch die älteste Tochter Heinrichs des Achten, die fanatisch katholische Mary Tudor, die als Bloody Mary in die Geschichte einging, um jeden Preis verhindern. Sie ließen Jane wenige Tage nach Edwards Tod hastig und ohne großes Zeremoniell hier im Tower zur Königin krönen. Von Jane wissen wir, dass sie diese Ehre nur auf immensen Druck ihrer Familie annahm. Sie selbst wünschte nicht, die englische Krone zu tragen.

In jenem turbulenten Juli 1553 kam es zwischen Janes protestantischen Anhängern und Marys Gefolgsleuten zu erbitterten Kämpfen. Mary Tudor gewann den Machtkampf sehr schnell und ließ Jane Grey und ihren Ehemann Guilford Dudley nach ihrer Krönung wegen Hochverrats verhaften und als Gefangene in den Tower bringen. Mary stellte Jane in Aussicht, sie könne der Todesstrafe entgehen, wenn sie sich zum katholischen Glauben bekenne. Als Jane jedoch auch nach mehreren Monaten der Haft standhaft blieb und Mary sie zunehmend als machtpolitisches Risiko ansah, befahl sie die Enthauptung von Jane Grey und ihrem Ehemann.

Was für Jane sehr bitter gewesen sein muss: Ihre Familie, die sie noch kurz zuvor unbedingt auf den Thron setzen wollte, unternahm nichts, um das Mädchen zu retten. Am 12. Februar 1554 wurde das Urteil vollstreckt: Auf ihrem Weg hierher zum Schafott musste Lady Jane noch den Anblick des enthaupteten Leichnams ihres Gatten ertragen, der auf einem Karren an ihr vorbeirumpelte. Nach Augenzeugenberichten war die junge Frau, die für ganze neun Tage die Königin von England gewesen war, trotz allem sehr gefasst, als sie das Schafott betrat.

Nachdem sie einen Psalm gebetet hatte, vollzog der Henker seine Aufgabe. Ihre letzte Ruhestätte fanden Jane und Guilford hier in unserer Kapelle St. Peter ad Vincula.“

Während Michael Conners am Ende der Führung noch für ein paar Fotos posierte, musste John sich beherrschen, seinen Kollegen nicht einfach wegzuzerren. Endlich gingen die letzten Touristen zufrieden schnatternd davon.

„Michael, können wir kurz reden? Es ist wichtig.“ Conners schien vor seinen Augen ein wenig zusammenzusacken, als wäre seine Energie mit dem Ende der Führung aufgebraucht.

„Natürlich, John. Ich habe jetzt eine halbe Stunde frei und könnte eine Tasse Tee zum Aufwärmen gebrauchen.“ John lud ihn in seine Wohnung ein, die nur ein paar Schritte entfernt war. Als beide über dampfenden Tassen in Johns kleiner Küche saßen, wandte sich John eindringlich an seinen Kollegen.

„Michael, als ihr gestern nach dem Zapfenstreich den Innenhof des Towers verlassen habt und durch die Water Lane hinausgegangen seid – hast du dich da am Ende der Gruppe befunden?“ Gequält sah Conners ihn an.

„John, ich schwör´s dir, als wir hinausgegangen sind, war ich ständig als Nachhut hinter der Gruppe. Es war exakt so, wie es an jedem Abend war. Naja, nicht ganz, weil George Campbell mit einer kleinen Besuchergruppe ebenfalls da war. Nachdem George mir erklärt hatte, dass das irgendwelche VIPs waren, haben wir die Herren vorgelassen, als sich das Geschehen der Schlüsselzeremonie von der Water Lane in den Innenhof verlagert hat. Nach dem Zapfenstreich hat George die Herren direkt in den Club gebracht, ist also nicht mit mir und meiner Truppe zum Ausgang gegangen. Ich sage dir, ich habe keine Ahnung, wann der Mord passiert sein kann, aber auf jeden Fall war es nicht während des Hinausgehens.“ Er rieb sich müde das Gesicht.

„Das habe ich auch diesem geschniegelten Polizisten gesagt, aber der hat mir sowieso kein Wort geglaubt. Der Kerl hat mich behandelt wie einen Schwerverbrecher.“

Ein freudloses Lachen von John ließ ihn stutzen.

„Das war sicher Superintendent Whittington, nicht wahr?“ Conners nickte erstaunt.

„Kennst du den Widerling etwa?“

„Das kann man leider sagen. Er ist mein Cousin.“

Nachdem John sich von seinem Kollegen verabschiedet hatte, schenkte er sich eine zweite Tasse Tee ein und ging zum Fenster. Während er seinen Blick über den Innenhof des Towers schweifen ließ, merkte er, wie der Druck auf seiner Brust nachließ. Er glaubte Michael Conners und damit war es unmöglich, dass der Mord nach dem Zapfenstreich passiert war. Whittington lag mit seiner Vermutung falsch und er selbst hätte die Tat auf keinen Fall verhindern können. Als er Punkt 22.00 Uhr das Wachhäuschen am White Tower betreten hatte, musste die junge Frau bereits tot gewesen sein.

„Mr. Mackenzie? Superintendent Whittington erwartet Sie um elf Uhr im Büro des Kommandanten zu einer zweiten Vernehmung.“

Mit einem grimmigen Lächeln legte John den Telefonhörer auf. Simon würde sich wundern. Diesmal würde er ihm anders entgegentreten. Aber erst einmal wollte er nach Gworran sehen.

Im Hof waren die üblichen Touristenscharen unterwegs. Die Spurensicherer mussten die ganze Nacht durchgearbeitet haben, um ihre Arbeit soweit abzuschließen, dass der Tower heute bereits wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte.

Der Rabe hockte allein in der Voliere, seine Gefährten verbrachten wie immer den Tag draußen auf dem Gelände des Towers. Gestutzte Flügel verhinderten, dass sie wegflogen. Aus dem Schuppen, der an die Voliere angebaut war, drangen Geräusche. John klopfte an die Holztür und ging hinein. George Campbell war dabei, die Futternäpfe der Raben zu reinigen.

„Morgen, John. Ich warte gerade auf den Tierarzt. Gworran ist krank.“.

Sogleich überfiel John wieder ein schlechtes Gewissen.

„Das ist mir gestern Abend schon aufgefallen. Ich wollte dir Bescheid geben –“

„Wann war das? Hast du versucht, mich telefonisch zu erreichen?“, fiel ihm Campbell in ungewohnt scharfem Ton ins Wort.

„Nein, ich war gerade auf dem Weg zum Wachdienst. Ich wollte dich aus dem Byward Tower anrufen, aber bei dem ganzen Wirbel gestern Nacht bekam ich keine Gelegenheit mehr dazu. Es tut mir leid.“

Der Ravenmaster nickte, nun wieder freundlicher.

„Mach dir keine Sorgen, John. Der Tierarzt wird schon herausfinden, was ihm fehlt. Wahrscheinlich hat er wieder mal etwas Unverdauliches gefressen.“ Er wandte sich wieder den Fressnäpfen zu.

„Willst du mir helfen? Ich muss noch die Voliere säubern und das Futter herrichten.“ Bereitwillig streifte sich John eine der Schürzen über, die an einem Nagel hingen und begann, Näpfe zu schrubben.

„Eigentlich war es gut, dass du gestern nicht bei mir angerufen hast. Ich war ohnehin mit Richard im Club und so hättest du nur Marcia aus dem Schlaf gerissen.“, meinte Campbell.

„Ah ja, Adams hat gestern erwähnt, dass dein Sohn ein paar Leute in den Club eingeladen hatte.“, fiel es John ein. Der Ravenmaster lächelte stolz.

„Richard wollte seinen Parteifreunden seinen alten Vater, den Beefeater, vorführen. Sein Wahlkampfmanager sagt, bei den Wahlen wird Richard der Bezug zur britischen Tradition gut zu Gesicht stehen. Und ich unterstütze ihn natürlich, so gut ich kann. Marcia hätte auch dabei sein sollen, aber sie hatte wieder eine ihrer Migräneattacken.“

Während der letzten Monate hatten ihre Gespräche sich häufig um Georges und Marcias ambitionierten Sohn gedreht, der hoffte, bei der nächsten Unterhauswahl einen Sitz für die konservative Tory-Partei zu erringen. John hatte den jungen Anwalt ein paar Mal getroffen und hielt ihn insgeheim für einen arroganten Popanz. Dennoch hörte er geduldig den Lobliedern zu, die dessen Vater auf Richard sang.

„Dann warst du den ganzen Abend im Club?“, fragte er beiläufig nach. Die Gestalt, die er in der Water Lane beobachtet hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf.

„Nicht ganz. Richard, sein Wahlkampfmanager und die Gäste bekamen zuerst eine kleine Privatführung. Dann haben wir im Club zu Abend gegessen und ich habe die Gäste zur Schlüsselzeremonie begleitet, während Richard und sein Manager irgendwelche wichtigen Telefonate führten. Als es zu Ende war, bin ich mit den Leuten wieder zurück in den Club gegangen und wir haben noch etwas getrunken. Nach kurzer Zeit kam die Order, dass jemand vermisst wird und wir bis auf weiteres im Club bleiben sollten, um die Suchaktion nicht zu stören. Dank Richards Einfluss hat die Polizei uns als Erste vernommen, so dass wir dann gehen konnten. Der Gedanke, einer dieser werten Herren hätte etwas mit so einer abscheulichen Sache zu tun, ist ohnehin abwegig. Das sah auch dieser feine Superintendent so.“

Das Eintreffen des Tierarztes unterbrach ihre Unterhaltung. Feiner Superintendent! John schnaubte abschätzig, als er über den Hof zum Büro des Kommandanten ging. Das passt so richtig zu Simon, dass er vor den honorigen Politikern katzbuckelt. Wahrscheinlich hat er befürchtet, dass sie Verbindungen zum Haushaltsausschuss haben, der über das Budget der Metropolitan Police bestimmt, dachte er ungnädig.

Wenn der Ravenmaster die Wahrheit gesagt hatte und er nach der Schlüsselzeremonie den Club nicht mehr verlassen hatte, musste John sich gestern Abend getäuscht haben. John wollte dem Mann, den er inzwischen als Freund betrachtete, nur zu gern uneingeschränkt Glauben schenken. Aber er musste sich eingestehen, dass Zweifel an ihm nagten. Hin- und hergerissen, ob er Whittington nun von seiner Beobachtung erzählen sollte oder nicht, betrat er den Verwaltungstrakt des Towers.

Im Vorzimmer von Chief Warder Patrick Mullins, dem Kommandanten der Beefeater, führte Bonnie Sedgwick das Regiment.

Sie sah sichtlich entnervt auf, als John klopfte. Dann entspannte sich ihre Miene zu einem Lächeln.

„Ach, Sie sind´s. Sie haben wahrscheinlich einen Termin mit Ihrer Majestät?“ Auf Johns verwirrten Blick hin dämpfte sie ihre Stimme und winkte ihn näher heran.

„Ich spreche von Ihrer Majestät, dem Superintendenten. Sie haben ihn ja sicher schon kennengelernt? Eins muss ich ihm lassen, er sieht fantastisch aus und er hat wirklich Stil – aber nur, was seine Kleidung betrifft. An seinen Umgangsformen muss er noch arbeiten. Er und der Chief sind jetzt schon eine Stunde lang da drin und fetzen sich, was das Zeug hält. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee, während Sie warten?“ John setzte sich dankbar. Auf seine neugierige Frage, worüber die beiden streiten würden, blinzelte Bonnie verschwörerisch.

„Lauschen Sie einfach. Die beiden brüllen so, dass man das Meiste problemlos durch die Tür hören kann.“ Tatsächlich drang die kräftige Stimme von Chief Mullins gleich darauf zu ihnen heraus.

„Zum letzten Mal, Whittington. Keiner meiner Leute hat seine Dienstpflichten verletzt, da können Sie sicher sein.“

„Mullins, Sie hören mir jetzt mal zu –“

„Nein, Sie hören mir gefälligst zu. Seit über siebenhundert Jahren findet die Schlüsselzeremonie an jedem Tag exakt um dieselbe Zeit statt, auch ihr Ablauf hat sich über die Jahrhunderte nicht geändert. Nimmt man einmal jenen denkwürdigen Abend während des zweiten Weltkriegs aus, als zu Beginn der Zeremonie Bomben auf das Wachgebäude fielen. Und selbst da klopften die Männer lediglich ihre Uniform aus und die Zeremonie wurde mit einer halbstündigen Verspätung fortgeführt.“ John meinte, ein Zähneknirschen zu hören.

„Was um Himmels Willen hat das mit unserer Situation hier zu tun?“

„Ich wollte Ihnen damit klarmachen, wie ernst jeder Beefeater seine Pflichten nimmt. Der Gedanke, einer der Männer, die an dieser ehrwürdigen Zeremonie teilnehmen, hätte seine Pflichten vernachlässigt, ist geradezu lachhaft. Und jetzt, denke ich, sollten Sie sich endlich Ihrer Aufgabe widmen, diesen schrecklichen Mord aufzuklären. Auf Wiedersehen, Superintendent.“

Die Tür öffnete sich schwungvoll und Whittington trat widerstrebend heraus. Sein ansonsten makelloses Auftreten hatte ein wenig gelitten. Doch er gab sich noch nicht geschlagen.

„Sie haben wohl vergessen, dass Sie und Ihre ganze Einheit als Special Constables der Londoner Polizei unterstellt sind. Ich werde jetzt an geeigneter Stelle Beschwerde einlegen, dass Ihre Kooperation bei der Aufklärung dieses Kapitalverbrechens sehr zu wünschen übrig lässt. Sie werden mich noch kennen lernen.“ Mit einem Blick auf John knurrte er noch, „Mit dir werde ich mich später unterhalten.“ Damit fegte er durch die Ausgangstür. John fiel ein Stein vom Herzen. Ein weiteres Verhör war ihm vorerst erspart geblieben.

„Ah, Mackenzie. Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Mit Ihnen wollte ich sowieso sprechen.“

Der Chief winkte John in sein Büro. Mullins setzte sich und nahm eines der zahlreichen Flugzeugmodelle zur Hand, die die Regale und auch den Schreibtisch bevölkerten. Die Fliegerei war seine große Leidenschaft. Er war ein ranghoher Offizier der Royal Air Force gewesen, bevor er in den Tower kam. Seine Frau war vor einigen Jahren gestorben. Seitdem verbrachte er seine Freizeit meist auf einem kleinen Privatflugplatz in Surrey, wo er zusammen mit anderen Luftsportbegeisterten ein kleines Motorflugzeug besaß. Er war ein Mann mit natürlicher Autorität und ohne Allüren, den John zutiefst respektierte.

Schließlich stellte Mullins den Modellflieger zur Seite.

„Mackenzie, mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie sich gestern zu Ihrem Dienstbeginn im Byward Tower verspätet haben. Angeblich wegen eines unserer Raben?“ John rutschte unwillkürlich etwas tiefer in seinen Ledersessel.

„Sir, Sie haben recht. Es tut mir leid –“ Weiter kam er nicht.

„Papperlapapp. Unsere Raben sind wichtige Mitglieder der Tower-Gemeinschaft. Unser Ravenmaster hat mir schon berichtet, dass Sie sich für die Tiere interessieren und ihm auch häufig bei seinen Aufgaben helfen. Daher sind ein paar Minuten Verspätung verzeihlich.“ John starrte seinen Kommandanten überrascht an. Dieser lächelte milde und griff zum Telefon.

„Einen Moment, Mackenzie.“ Dann sprach er in den Hörer.

„George? Patrick hier. Wie geht es ihm?“ Nach einigen Momenten lachte er leise und legte gleich darauf auf.

„Gworran hat wieder einmal an einer Antenne geknabbert. Gerade, als der Tierarzt eintraf, kam der Grund seines Unwohlseins auf natürliche Weise zum Vorschein: eine kleine Schraube. Kein Wunder, dass ihm die im Magen gelegen hat. Seine Großmutter hatte die gleiche Eigenart. Wir mussten sie vor mehreren Jahren frühzeitig in Pension schicken, weil sie die Fernsehantenne unseres Doktors einige Male zerstörte. Jetzt aber wieder zu Ihnen.“

Chief Mullins zog aus einer Schublade einen Grundriss des Towers und den Dienstplan des gestrigen Tages heraus, dazu die Bücher, in denen die Aufzeichnungen in den Wachstuben geführt wurden.

„Wir sind uns einig, dass Conners beim Verlassen des Towers die ganze Gruppe vor sich im Blickfeld hatte?“, begann er unvermittelt. John nickte.

„Demnach muss der Mord bereits vor dem Ende des Zapfenstreichs passiert sein, genauer gesagt im Zeitraum zwischen 21.45 Uhr, als die Touristengruppe in die Water Lane geführt wurde, und zirka 22.00 Uhr. Wie mir Whittington sagte, hat die Analyse der Aufzeichnungen unserer Sicherheitskameras keine brauchbaren Hinweise ergeben. Auf Grund der Größe der Gruppe und der Lichtverhältnisse lässt sich auf dem vorhandenen Material nichts Brauchbares erkennen.“ Mullins seufzte.

„Wenn man bedenkt, dass sich im Umkreis von hundert Metern rund um die Kronjuwelen nicht einmal eine Maus bewegen könnte, ohne mehrfach gefilmt zu werden, ist es eigentlich eine Schande, dass wir am entgegengesetzten Ende des Towers nur das Notwendigste an Überwachung haben. In der Water Lane selbst haben wir nur zwei Kameras. Die eine ist auf den Eingang am Byward Tower gerichtet, die zweite auf den Gruppenausgang weiter östlich. Keine der beiden erfasst den Bereich vor dem Verrätertor. Wahrscheinlich wird es sich für die Zukunft nicht vermeiden lassen, noch mehr Überwachungskameras zu installieren.“ Er kritzelte etwas auf ein Papier und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf John.

„Nach den Aufzeichnungen der Torwache haben Sie den Tower um 21.56 Uhr betreten. Reichlich spät, muss ich sagen.“ Er runzelte die Stirn und bedachte John mit einem strengen Blick.

„Nun ja, trotzdem haben Sie sich Punkt 22.00 Uhr bei Ihrem Offizier gemeldet. Ihre Wohnung, in der Sie sich umziehen mussten, liegt ein ganzes Stück weit weg von der Water Lane. Daraus ziehe ich den Schluss, dass Sie mit dieser Geschichte nichts zu tun haben können.“ John räusperte sich.

„Das ist richtig, Sir. Auch wenn unser Freund, der Superintendent, da seine Zweifel zu haben scheint.“ Mullins lachte auf.

„Dieser Whittington, das ist vielleicht ein bornierter Schnösel. Solche Lackaffen habe ich in meinem Leben schon zur Genüge gesehen, mit ihrem Upper class-Akzent und ihren einflussreichen Verbindungen. Die meisten von diesen Typen waren im Ernstfall nicht zu gebrauchen.“ Plötzlich schlug er sich mit der Hand auf den Mund.

„Donnerwetter, nun habe ich ganz vergessen, dass dieser Mensch ja mit Ihnen verwandt ist, wie er mir sagte. Nichts für ungut, Mackenzie.“ Doch John grinste nur breit.

„Sir, mein Kompliment für Ihre Menschenkenntnis. So schnell hat bisher noch niemand meinen Cousin durchschaut. Der Fairness halber muss ich aber sagen, dass er den Ruf hat, ein cleverer Ermittler zu sein.“ Mullins wiegte nachdenklich den Kopf.

„Hm. Ich möchte mich ungern darauf verlassen, dass er diesen Fall lösen wird. Wie Sie sich vorstellen können, ist es unser oberstes Interesse, dass diese Geschichte schnell wieder aus den Schlagzeilen verschwindet. Heute früh hatte ich schon diverse Anrufe von ganz oben deswegen. Unsere verehrte Dienstherrin –“, er warf einen Blick auf das königliche Porträt an der Wand – ist not amused, wie ich höre. Wir müssen also alles in unserer Macht stehende tun, damit der Mörder dieser jungen Frau gefunden wird, und zwar flott.“

„Was meinen Sie, Chief? Scotland Yard arbeitet doch sicher mit Hochdruck daran. Was könnten wir noch zusätzlich tun?“

Mullins stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er hockte sich auf die Schreibtischkante und fixierte John mit einem durchdringenden Blick.

„Ihnen ist doch klar, dass der Kreis derer, die dieses Verbrechen begangen haben können, sehr begrenzt ist? Da ist zum einen die Touristengruppe, sechsunddreißig Leute. Dann die sechsköpfige Politikertruppe, die Richard Campbell und sein Wahlkampfmanager, Nigel Owen, in den Club eingeladen haben. Von der militärischen Garde waren vierzehn Mann im Tower. Zehn von ihnen waren aktiv an der Schlüsselzeremonie beteiligt und hätten ihre Plätze im kritischen Zeitraum nicht verlassen können, daher scheiden sie als Verdächtige aus. Die anderen vier bewachten zusammen mit zwei von uns die Kronjuwelen. Dann haben wir unseren guten Doktor und unseren Priester mit ihren Ehefrauen, dazu Sid, unseren Barmann. Und schließlich: die Beefeater, von denen gestern einschließlich mir und Ihnen zweiunddreißig anwesend waren. Die restlichen vier sind im Urlaub. Dann kommen noch die hier lebenden Ehepartnerinnen in Betracht. Von den sechs minderjährigen Kindern unserer Männer befand sich keines hier. Wie Sie ja wissen, besuchen sie alle Internate. Wenigstens über sie brauchen wir uns keine Gedanken zu machen.“

Mullins fuhr sich erregt über seinen ohnehin schon zerzausten Rotschopf. „Verstehen Sie mich, Mackenzie: Natürlich liegt es mir fern, einen meiner Männer einer solchen Sache zu verdächtigen, aber dennoch kann ich es nicht völlig ausschließen, dass einer von ihnen darin verwickelt ist. Und deshalb möchte ich, dass Sie Nachforschungen anstellen!“ John dachte, er hätte sich verhört.

„Wie bitte, Sir?“

„Erstens: Nur drei von uns haben ein wasserdichtes Alibi. Das bin ich, weil ich die Schlüsselzeremonie durchgeführt habe. Dann Conners, der für die Touristen zuständig und damit ständig im Blickfeld der Leute war. Und schließlich Sie. Alle anderen hatten entweder frei oder waren für Wachdienste eingeteilt, so dass erst überprüft werden muss, wo sie zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich waren. Zweitens: Wie ich höre, hat Doc Hunter Sie für die nächsten Tage krankgeschrieben. Lassen Sie mich raten: Ihr Tinnitus plagt Sie wieder?“ John nickte stumm.

„Sie haben also ein wenig Freiraum in nächster Zeit. Drittens: Sie sind dazu ausgebildet worden, Menschen zuzuhören, ihr Verhalten zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen. Viertens: Sie sind noch nicht lange Mitglied der Beefeater und damit der unvermeidlichen Seilschaften, die sich in der Truppe bilden. Ihnen würde ich zutrauen, auch möglicherweise schmerzliche Erkenntnisse über Mitglieder der Einheit nicht unter den Teppich zu kehren. Kurzum: Sie sind der ideale Kandidat für unsere internen Ermittlungen.“

Mullins hob abwehrend die Hand, als John den Mund öffnete. „Mir ist bewusst, dass ich Sie nicht dazu zwingen kann. Aber ich möchte Sie bitten, es sich zu überlegen. Ich vertraue Whittington nicht, punktum. Er hat nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch MI5 im Nacken sitzen, die bei einem Kapitalverbrechen in unmittelbarer Nähe der Kronjuwelen natürlich auf den Plan treten. Polizei und Geheimdienst haben die besten Möglichkeiten, unsere Touristengruppe und die werten Politiker zu überprüfen. Aber was unsere Männer betrifft, sitzen wir hier an der Quelle und haben den besten Einblick. Selbstverständlich werden wir Ihre Nachforschungen geheim halten.“ Mit einem Blick auf die Uhr stand er auf.

„Ich habe jetzt einen Termin. Bitte denken Sie darüber nach und geben Sie mir heute Nachmittag Bescheid, wie Sie sich entschieden haben. Ach, und übrigens: Falls Ihnen ein Reporter über den Weg läuft – wir geben keinerlei Kommentar ab.“

Damit war John entlassen. Wie so oft, wenn sich die Gedanken in seinem Kopf im Kreis drehten, hatte er das Bedürfnis nach einem langen Spaziergang.


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