Kapitel 4

Eine Stunde später fand er sich vor der St. Paul´s Cathedral wieder. Einige Arbeiter stellten vor dem Portal gerade einen riesigen Weihnachtsbaum auf. Auch die Geschäfte in der Cannon Street hatten schon begonnen, Lichterketten aufzuhängen. John freute sich sehr darauf, nach so vielen Jahren die Weihnachtszeit wieder in der Heimat zu verbringen. Er malte sich aus, wie er sich in den nächsten Wochen ins Getümmel stürzen würde, um Geschenke für seine zahlreiche Verwandtschaft zu besorgen. Bedauernd schob er diesen Gedanken wieder beiseite und lenkte, einem spontanen Einfall folgend, seine Schritte zum Old Bailey, wo sich das Büro seiner Schwester Maggie befand.

Die junge Dame am Empfang der Staatsanwaltschaft wählte eine Nummer, sprach kurz und drückte ihm dann den Telefonhörer in die Hand. „Bitte sehr. Ms. Hughes ist am Apparat.“

„John! Suchst du nach weiblicher Begleitung für ein schickes Mittagessen oder ist was passiert?“, drang die Stimme seiner Schwester an sein Ohr.

„Beides“, erwiderte er trocken.

Zehn Minuten später saßen sie sich in einer Nische von Maggies Lieblingsitaliener gegenüber. Während Maggie die Tageskarte studierte, ließ John seinen Blick über ihr Gesicht schweifen. Abgesehen von ihrer hochgewachsenen, eher hageren Figur, die ihr Vater an alle drei Mackenzie-Geschwister vererbt hatte, waren sie sich äußerlich völlig unähnlich. Maggie entsprach mit ihrem glatten blonden Haar, das sie in der Regel zu einem Knoten hochgesteckt trug und ihren klassisch-strengen Outfits ganz dem Bild der seriösen Staatsanwältin. John dagegen genoss es, sein braunes Wuschelhaar endlich nicht mehr militärisch kurz schneiden zu müssen und bevorzugte außerhalb des Dienstes eher sportlich-legere Kleidung.

„Wieso siehst du mich so an, John-Boy?“ Mit diesem Spitznamen hatte sie ihn seit ihrer Kinderzeit geärgert.

„Du hast da an der Stirn eine erste Falte, weißt du das?“, neckte er sie. Spielerisch drohte sie ihm mit der Gabel.

„Du bist doch wohl nicht nur gekommen, um mir Beleidigungen an den Kopf zu werfen, oder? Jetzt rück schon mit der Sprache raus. Warum wolltest du mit mir reden?“ John spießte eine Olive auf und betrachtete sie versonnen.

„Denkst du, ich eigne mich zum Privatschnüffler?“

Die Glocke von St. Peter ad Vincula schlug halb zehn. John fror erbärmlich. Gerne wäre er in dem Lagerraum im obersten Stock des Bloody Towers ein paar Schritte gegangen, fürchtete aber, im Dunkeln über irgendeinen Gegenstand zu stolpern. So hüpfte er auf und ab, in der Hoffnung, ein wenig warm zu werden. Aus dem verstaubten Fenster konnte er auf die verlassene Water Lane hinunterschauen. Direkt gegenüber lag das Verrätertor in seiner dunklen Nische. Bis auf das Dröhnen in seinen Ohren, das mal abflaute und dann wieder anschwoll, war kein Laut zu hören.

Als er sich heute Nachmittag von Maggie verabschiedet hatte, war ihm bereits klar gewesen, dass er dem Drängen des Chiefs nachgeben und versuchen würde, zur Lösung des Mordfalls beizutragen. In ihrer praktischen Art hatte Maggie gemeint, „Die Geschichte wird dir – bei deiner angeborenen Neugierde – sowieso in nächster Zeit nicht aus dem Kopf gehen, also kannst du genauso gut die Zeit nutzen, etwas herauszufinden. Und es wäre doch einfach zu schön, wenn du am Ende vielleicht unserem geliebten Cousin sogar einen Schritt voraus wärst.“ John musste sich eingestehen, dass ihm dies diebische Freude bereiten würde.

Auf dem Rückweg zum Tower hatten einige Ideen in seinem Kopf Gestalt angenommen. Als erstes wollte er Mullins vorschlagen, Conners die Besuchergruppe bei der heutigen Schlüsselzeremonie abermals nach demselben Ablauf wie immer führen zu lassen. Er selbst wollte sich im Hintergrund halten und herausfinden, wann es einen unbeobachteten Moment gäbe, in dem der Mörder zugeschlagen haben konnte.

Zu seiner Enttäuschung unterrichtete ihn Mullins, dass Whittington ihn mit demselben Ziel am späten Nachmittag gebeten hatte, ihn und zwei seiner Beamten in Zivil an der Schlüsselzeremonie teilnehmen zu lassen.

„Wir wollen dem Superintendenten ja nicht auf die Nase binden, dass wir unsere eigenen Nachforschungen anstellen. Also werden wir Sie irgendwo verstecken, von wo Sie einen guten Überblick haben. Und ich weiß auch schon, wo.“

Mullins kannte nach fünfzehn Jahren Dienst im Tower alle Gebäude wie seine Westentasche und hatte ihn in der hereinbrechenden Dämmerung hinauf in den Bloody Tower geführt, in dem während der Rosenkriege im 15. Jahrhundert die jugendlichen Prinzen Edward und Richard gefangen gehalten worden waren. Zweihundert Jahre später waren die Gebeine zweier Jungen bei Grabungsarbeiten im Tower aufgetaucht. Bis heute herrscht Unklarheit darüber, ob die beiden Prinzen während der blutigen Auseinandersetzungen der Häuser Lancaster und York in ihrem Gefängnis ermordet wurden oder ihnen doch auf geheimnisvolle Art und Weise die Flucht gelungen war.

Der Lagerraum, der direkt unter den Zinnen des Bloody Towers lag, war perfekt für einen Beobachtungsposten geeignet, hatte er doch Fenster zur Water Lane und auf der entgegengesetzten Seite zum Innenhof. So konnte John die gesamte Schlüsselzeremonie verfolgen. Wenn sie nur endlich losginge!

Die Zeiger der Kirchenuhr schienen sich kaum vorwärts zu bewegen, während die Kälte trotz seiner dicken Kleidung förmlich in ihn hineinkroch. Sehnsüchtig dachte John an sein gemütliches Sofa und den spannenden Schmöker, der dort lag. Doc Hunter wäre kaum begeistert, könnte er ihn hier sehen.

„Spannen Sie die nächsten Tage mal so richtig aus. Am besten wäre es, Sie würden wegfahren. Vielleicht aufs Land, zu Ihren Eltern?“, hatte er John heute Morgen mit auf den Weg gegeben. Nachdem John dem Chief gesagt hatte, dass er ihm soweit es ihm irgend möglich war, mit internen Nachforschungen helfen würde, hatte diesen plötzlich ein schlechtes Gewissen geplagt.

„Mackenzie, ich bin wirklich äußerst dankbar, dass Sie das übernehmen, aber ist das mit Ihrem Gesundheitszustand auch vereinbar?“

„Vermutlich nicht“, hatte John grinsend geantwortet. „Aber ich möchte es trotzdem versuchen.“

Mit dem Glockenschlag 21.45 Uhr ging die Tür des Byward Towers auf und Michael Conners trat heraus, gefolgt von einer Besucherschar. John hob sein Fernglas an die Augen und ließ den Blick über die rund drei Dutzend Köpfe schweifen. Es waren jeden Abend an die vierzig Personen zur Schlüsselzeremonie zugelassen.

Ein Großteil der kostenlosen Eintrittskarten musste Monate im Voraus schriftlich bestellt werden. Spontane Besucher hatten keine Chance, noch eingelassen zu werden. Für Einladungen, die von einem der Beefeater ausgesprochen wurden, gab es ein kleines Kontingent zusätzlicher Plätze. Dies hatte es gestern Abend Richard Campbell ermöglicht, im Namen seines Vaters Parteifreunde in den Tower einzuladen. Die abendliche Abschließzeremonie war ein eindrucksvolles Erlebnis. Das Gefühl, in den historischen Mauern Zeuge eines Rituals zu sein, das seit dem Mittelalter in ununterbrochener Folge unverändert stattfand, bewegte die meisten Menschen und die Atmosphäre in der spärlich beleuchteten Water Lane tat ihr übriges. Doch heute Abend hatte eine andere Art von Erregung die Gruppe erfasst.

Die Blicke aller wanderten unablässig zum Verrätertor und auf den Gesichtern der meisten Touristen spiegelten sich wohlige Gruselschauer wider. Hätte nicht wie stets striktes Film- und Fotografierverbot geherrscht, wäre ein Blitzlichtgewitter über die Water Lane gezogen.

Im dämmrigen Licht dort unten hätte John seinen Cousin trotz des scharfen Fernglases fast nicht erkannt. Whittington hatte sich augenscheinlich alle Mühe gegeben, inkognito zu bleiben. Da er die Ermittlungen im spektakulärsten Mordfall des Jahres leitete, war sein Bild heute in der gesamten Regenbogenpresse zu sehen gewesen. Mit dem sorgfältig inszenierten Pressefoto, das ihn im perfekt geschnittenen Anzug und mit einem siegesgewissen Lächeln auf den Lippen zeigte, hatte er heute Abend kaum Ähnlichkeit. Wahrscheinlich hat er sich die ausgebeulten Hosen und die unförmige Winterjacke von seinem Sergeant ausgeliehen, mutmaßte John erheitert. Ein karierter Schal, der selbst aus der Entfernung aussah, als stammte er aus einem der Billigläden, die alles für ein Pfund verkauften, verdeckte sein Gesicht bis zur Nase.

Michael Conners behielt die Gruppe wachsam im Auge, während er vor Beginn der Zeremonie einige historische Fakten nannte und dann alle Anwesenden zur Ruhe ermahnte. Er postierte die Gruppe genau vor dem Geländer der Nische, die zum Verrätertor führte. Das war der übliche Platz für die Besucher während des ersten Teils der Zeremonie. Vor der Gruppe bezogen zwei Armeeangehörige Stellung, mit ihren traditionellen hohen Bärenfellmützen und aufgepflanzten Bajonetten.

Punkt 21.53 Uhr öffnete sich das Tor abermals. Die Silhouette von Chief Mullins zeichnete sich scharf gegen das warme Licht von drinnen ab. In der einen Hand hielt er eine Laterne, in der anderen den großen zeremoniellen Schlüsselbund. Er schritt auf das Verrätertor zu, wo er von den beiden Soldaten in Empfang genommen wurde. Gemeinsam schlossen sie die Tore des Towers feierlich für die Nacht ab. Auf dem Weg zum Queen´s House im Innenhof des Towers stellte sich ihnen vor dem Durchgang des Bloody Towers ein weiterer Wachsoldat entgegen. Nach einem kurzen Wortwechsel ließ der Soldat den Chief wie jeden Abend durch den Bloody Tower hindurch in den Innenbereich des Towers passieren und er schloss sich der Eskorte an. Nachdem die nun vierköpfige Gruppe den Durchgang passiert hatte, wurde sie im Innenhof von einer größeren Truppe Wachsoldaten in Empfang genommen.

Wie elektrisiert sprang John hoch und musste sich beherrschen, seine Nase nicht gegen die staubige Fensterscheibe zu pressen. Unten in der Water Lane führte Michael Conners die Besucher, die begierig waren, die weiteren Geschehnisse im Innenhof zu verfolgen und hinter ihm her drängten, ebenfalls durch den Durchgang des Bloody Tower. John musste nicht aus dem anderen Fenster hinaussehen, um zu wissen, was nun dort vor sich ging. Die Besucher mussten unmittelbar hinter dem Durchgang stehen bleiben, nur wenige Schritte entfernt von Chief Mullins. Von dort konnten sie beobachten, wie die Wachtruppe die Gewehre präsentierte und der Chief deklamierte, „Gott schütze Königin Elizabeth“. Exakt mit dem Schlag der Glocke antwortete die Truppe daraufhin „Amen“ und der Trompeter blies den Zapfenstreich. Chief Mullins brachte den Schlüsselbund ins Queen´s House direkt am Tower Green, wo er über Nacht aufbewahrt wurde, und die Garde war entlassen. Daraufhin wurden die Besucher wieder zurück durch den Durchgang und die Water Lane zum Ausgang geführt.

John wusste nun, wann der Mord passiert sein musste: Sobald der Chief und seine Eskorte im Durchgang verschwunden waren, hatte die ganze Gruppe nach vorne gedrängt. Der begleitende Beefeater war gezwungen, vor den Leuten her zu gehen, um sie rechtzeitig auf der anderen Seite des Bloody Towers zu stoppen. Blieb jemand aus der Besucherschar zurück, war er für einen Zeitraum von wenigen Minuten unbeobachtet. John ballte die rechte Hand triumphierend zur Faust und machte sich auf den Rückweg in seine Wohnung, um sich einen wohlverdienten heißen Tee zu gönnen.

Am nächsten Morgen fand er sich als erstes in Mullins´ Büro ein, um Bericht zu erstatten.

„Sir, ich fürchte, die Situation lässt nur einen möglichen Schluss zu“, endete er zögernd.

„Heraus mit der Sprache, Mackenzie.“

„Entweder ist der Täter jemand, der den Ablauf der Schlüsselzeremonie und die örtlichen Gegebenheiten sehr gut kennt, oder es handelt sich um eine Verzweiflungstat und derjenige hatte einfach unwahrscheinliches Glück, einen unbeobachteten Moment zu erwischen. Allerdings kann ich mir letzteres kaum vorstellen.“ Mullins hielt es nicht mehr in seinem Sessel. Er sprang auf und schritt erregt im Zimmer auf und ab.

„Wir dürfen dennoch keine Möglichkeit ausschließen. Wie wäre es damit? Jemand aus der Gruppe hatte irgendeine Verbindung zu Miss Feldmann. Rein zufällig hat er sie hier bei der Zeremonie wieder getroffen und im Affekt erwürgt.“

„Wäre es in dem Fall nicht viel einfacher gewesen, sie nach dem Verlassen des Towers zu verfolgen und in einer stillen Seitenstraße anzugreifen? Das Risiko, entdeckt zu werden, wäre doch außerhalb unserer Mauern viel geringer gewesen. Man hätte das Mädchen auch nicht innerhalb von Minuten vermisst und der Täter hätte viel leichter abtauchen können.“, wandte John ein.

„Aber das setzt voraus, dass der Täter rational dachte. Vielleicht war es eine Affekthandlung. Ich könnte mir das durchaus vorstellen. Natürlich, so könnte es gewesen sein: Das Mädchen hatte einen Mann aus der Gruppe sitzengelassen und der sah einfach rot, als er sie hier wieder traf und er rächte sich ohne Rücksicht auf Verluste. Wie wäre es denn mit einem unserer politischen Gäste? Die machen schließlich immer wieder Schlagzeilen mit irgendwelchen Affären.“

Der Chief erwärmte sich zusehends für seine Theorie. John schüttelte bedauernd den Kopf.

„Michael Conners sagte mir, Georges kleine Gruppe hätte als erstes den Innenhof betreten dürfen. Also konnte keiner von ihnen in der Water Lane zurückbleiben.“ Der Chief hatte eine neue Idee.

„Sie haben doch selbst erzählt, dass in der Besuchergruppe eine ganze Reihe von Deutschen war. Ich wette, die Polizei wird feststellen, dass einer der Männer das Mädchen vorher schon kannte.“

„Das ist natürlich möglich, Sir.“, äußerte John vorsichtig. Er konnte verstehen, warum der Chief sich verzweifelt an die Vorstellung klammerte, ein Außenstehender wäre der Schuldige.

„Da wir der Polizei die Ermittlungen in diese Richtung überlassen müssen, möchte ich die Zeit nutzen, um mich um unsere eigenen Leute zu kümmern. Wenn Sie mir den Dienstplan des Tattages überlassen könnten, könnte ich mich an die Arbeit machen und feststellen, wo jeder zum fraglichen Zeitpunkt war und ob es Zeugen dafür gibt.“ Dann fiel ihm noch etwas ein. „Vielleicht gab es ja auch in der Touristengruppe jemanden, der auf Grund eines früheren Besuchs mit dem Ablauf bereits vertraut war. Vielleicht könnten Sie jemanden beauftragen, die Namen der Gruppe mit unseren alten Besucherlisten zu vergleichen?“

„Hervorragende Idee, Mackenzie. Ich werde Conners gleich darauf ansetzen.“ Als John hinausging, rief Mullins ihm hinterher.

„Wie geht es eigentlich mit Ihrem Ohrensausen?“

John stutzte und horchte in sich hinein. Tatsächlich waren die nervtötenden Geräusche stark abgeklungen. Vielleicht war ja eine Mörderjagd gar kein so schlechter Therapieansatz.


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