Am Nachmittag des 24. Dezember stieg John in die Circle Line, die ihn hinaus nach Kew bringen sollte. Die Wagen waren kaum besetzt. Alle Geschäfte waren geschlossen, so dass keine abgehetzten Geschenkesucher unterwegs waren.
Gepäck und Geschenke hatte er Maggie mitgegeben, die mit Tante Isabel bereits gestern nach Kew gefahren war. Während die Bahn aus der Stadt hinausfuhr, lehnte John sich in seinem Sitz zurück und streckte die Beine aus. Der Trubel der letzten Tage hatte ihn kaum zur Ruhe kommen lassen.
Nach der langen Nacht im Club hatte sein Wecker zu gewohnt früher Stunde geläutet und er war ohne zu überlegen aufgestanden. Erst, als mit dem ersten Schluck kräftigen Darjeelings sein Gehirn wieder zu arbeiten begann, fiel ihm ein, dass George ja wieder da war und er daher nicht mehr für die Morgenfütterung verantwortlich war. Er schlug sich mit der Hand auf die Stirn. Da er nun ohnehin wach war, beschloss er, George zur Hand zu gehen.
Der Ravenmaster blickte ihn erstaunt und mit noch etwas glasigen Augen an. „John, was tust du hier? Leidest du unter Schlaflosigkeit?“
„Eigentlich nicht, aber die Macht der Gewohnheit hat mich aus den Federn getrieben. Also dachte ich, was soll´s, dann leiste ich dir einfach Gesellschaft.“ Während sie Seite an Seite arbeiteten, fragte George, „Wie geht es deiner Nichte? Denkst du, ich kann sie besuchen? Ich würde mich gern persönlich bei ihr bedanken.“
„Natürlich. Komm doch heute mit mir mit. Ich werde sie nach meinem Dienst besuchen.“ Er gab George einen frisch gespülten Napf zum Abtrocknen. „Sie ist ein wildes Huhn, deshalb leidet sie sehr darunter, dass sie sich kaum bewegen kann mit ihrem gebrochenen Bein. Auch, dass sie nun nicht zu diesem Hilfsprojekt in Südafrika kann, hat sie schwer getroffen.“
„Das arme Ding. Und alles, weil sie mir helfen wollte. Sie muss ein wunderbarer Mensch sein, sich so für andere einzusetzen.“
John musste lächeln. „Das ist sie. Ich bin auch zuversichtlich, dass sie bald etwas Neues findet, mit dem sie sich beschäftigen kann. Manchmal kommt sie mir vor wie ein Gummiball, immer in Bewegung und nicht unterzukriegen.“
Auch Mullins und Marcia hatten sich ihnen angeschlossen und Renie hatte es genossen, ihre Abenteuer für ein aufmerksames Publikum noch einmal auszubreiten. George hatte ihr einen riesigen Plüschraben mitgebracht, den Renie mit kindlicher Begeisterung entgegennahm. Mullins stülpte ihr feierlich eine der hohen dunkelblauen Mützen über den Kopf, wie sie die Beefeater tragen. „Hiermit ernenne ich Sie auf Grund Ihrer Verdienste um ein unverzichtbares Mitglied unserer Mannschaft zum Ehren-Beefeater, Miss Hughes.“
Renie strahlte. „Vielleicht könnte ich ja eines Tages ein richtiger Beefeater werden. Das wäre doch was, der erste weibliche Beefeater.“ Alarmiert wich Mullins zurück.
„Dazu müsste sie ja zuerst zur Armee gehen.“, raunte John ihm amüsiert zu. „Das würde sie nie im Leben tun, also keine Sorge.“
Dann hatte John die halbe Nacht damit verbracht, Geschenke zu verpacken. Als er fertig war, türmte sich in seiner Küche ein Berg von rot und golden glänzenden Päckchen auf. Am nächsten Morgen ging er zu Bonnie hinüber.
„Oh, darf ich das gleich aufmachen? Die Neugierde bringt mich sonst um.“, sagte sie, als er ihr sein Geschenk überreichte.
„Aber natürlich. Ich möchte doch wissen, wie Sie damit aussehen.“
„Wow, was für ein herrlicher Schal, so weich! Und die Farbe – die ist ja traumhaft. Vielen Dank, John.“ Sie legte sich den Schal um und drehte sich vor dem Spiegel.
„Steht Ihnen ausgezeichnet, Bonnie. Frohe Weihnachten.“
„Ich habe auch etwas für Sie.“ Sie verschwand hinter den Bergen von Weihnachtspost, die sie gerade sortierte. Jeden Morgen wurde die Post für die Belegschaft des Towers am Tor abgegeben und Bonnie verteilte sie dann.
In durchsichtige Folie gewickelt übergab sie ihm zwei kunstvoll bemalte chinesische Essschalen mit passenden Stäbchen. „Weil Sie doch gerne asiatisch kochen.“
„Die sind wirklich wunderschön, Bonnie, tausend Dank.“ John bewunderte die filigranen blauen Zeichnungen auf dem Porzellan.
„Vielleicht können wir sie ja gemeinsam einweihen“, schlug sie etwas verlegen vor.
Und liefern Edwina Dunders wieder Stoff für ihre Klatschgeschichten, dachte John amüsiert.
„Klar machen wir das nach den Feiertagen, wenn ich wieder da bin. Nun wünsche ich Ihnen ein schönes Weihnachtsfest, Bonnie.“
„Moment noch, John. Nehmen Sie doch gleich Ihre Post mit, ja? Sie haben ein Paket aus Deutschland bekommen und jede Menge Briefe.“ John dankte ihr und verabschiedete sich.
Als er über den Hof ging, schlug die Uhr von St. Peter ad Vincula neun. Maggie wollte um neun kommen, um meine Sachen abzuholen, fiel ihm ein. Schleunigst strebte er zu seiner Wohnung hinüber. Auf dem Weg traf er George, der auf dem Tower Green mit Gworran scherzte. „George, hast du eine Minute? Ich muss einen Haufen Geschenke zum Tor schaffen, wo meine Schwester sie gleich abholen wird.“
„Natürlich. Gehen wir.“
Während sie zu Johns Wohnung eilten, fuhr George fort, „Der Chief war so nett, mir für die ersten Tage hier keine Wach- und Besucherdienste zu geben. Ich habe heute nur einen Termin: Nachmittags gibt es einen Fototermin im St. Bartholomew´s. Dort wird der Scheck mit dem Erlös des Weihnachtsmarktes überreicht. Natürlich übernimmt Edwina Dunders das, aber Mullins soll auch dabei sein. Er sagte, er will mich mit auf dem Foto haben.“ Er hielt inne, als er gleich hinter der Eingangstür über eines der Präsente stolperte. John ließ seine Post fallen und bemühte sich, seinen alten Freund aufzufangen und sich für die Unordnung zu entschuldigen, als das Telefon klingelte.
„Hier ist eine tolle Blondine, die sagt, sie wäre deine Schwester. Und sie ist nicht gerade besonders erbaut darüber, dass du nicht schon längst gestiefelt und gespornt hier bist. Mann, so eine Frau lässt man doch nicht warten, selbst wenn sie nur die eigene Schwester ist.“, feixte Adams.
John stöhnte. „Gib sie mir bitte.“
„John? Wo bist du? Ich stehe in einer Kurzparkzone.“
„Maggie, es tut mir leid, ich habe die Zeit übersehen. Ich bin sofort bei dir. Und lass dich nicht von Adams anmachen, der ist ein berüchtigter Schwerenöter.“ Hastig suchte er einige große Tüten zusammen und brachte sie ins Wohnzimmer.
„Stopf einfach alles, was da herumliegt, hinein, George.“ Schwer bepackt mit den Geschenken und Johns kleiner Reisetasche wankten sie hinaus.
Als Maggie George erblickte, klärten sich die unheilvollen Wolken auf ihrer Stirn auf.
„Mr. Campbell, was für eine Freude, Sie wieder zu Hause zu sehen. Wie geht es Ihnen?“ George zog galant die Mütze ab. „Mrs. Hughes, dank Ihrem Bruder und Ihrer Tochter geht es mir wieder sehr gut. Ich hoffe, Maureen wird schnell wieder gesund.“
Maggie winkte ab. „Sie treibt mich schon wieder zur Raserei. Gestern Abend sagte der Arzt ihr, dass sie über die Feiertage im Krankenhaus bleiben soll. Da hat sie ihm wohl ein Buch nachgeworfen. Wirklich, das Kind ist unverbesserlich!“ John entfuhr ein Lachen, das er erfolglos als Husten zu tarnen versuchte. Seine Schwester funkelte ihn an. „Das ist nicht lustig. Bei allem Verständnis, das ich für sie habe – so etwas geht einfach nicht. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie die Oberschwester mich am Telefon zusammengestaucht hat.“
John setzte seine Tüten ab, da ihm die Hände taub wurden. „Aber Maggie, wir können Renie doch wirklich nicht alleine in London lassen, während die ganze Familie in Kew feiert. Das wäre grausam.“
Maggie hob resigniert die Hände. „Ich weiß auch nicht, wie wir das Dilemma lösen sollen. Vielleicht fällt dir ja etwas ein. Ich für meinen Teil muss jetzt schleunigst zum Flughafen und Tante Isabel abholen. Gnade mir Gott, wenn ich zu spät ankomme.“ Also schleppten die Männer ihre Last so schnell es ging zu Maggies Auto und sie brauste davon.
Während sie zurückgingen, fragte John, „Was gibt es Neues von Richard? Hat er seine Aussage gemacht?“ George zuckte ein wenig traurig mit den Schultern. „Ich habe schon Dutzende Male versucht, ihn zu erreichen. Gestern Abend hat es endlich geklappt. Er sagte aber nur, er hätte sehr viel zu tun, nachdem er plötzlich ohne seinen Wahlkampfmanager auskommen muss. Was mit der Polizei war, dazu sagte er gar nichts. Aber er will heute Abend vorbeikommen, dann wird er schon alles erzählen.“
John sah seinen Freund forschend von der Seite an. Auch wenn George sich um einen neutralen Ton bemüht hatte, war doch offensichtlich, dass er vom Verhalten seines Sohnes enttäuscht war. Das grandiose Bild, das die Campbells von ihrem einzigen Sohn hatten, bekam weitere Risse.
Zurück in seiner Wohnung tigerte er unentschlossen von seiner Küche ins Wohnzimmer und wieder zurück. Schließlich fasste er einen Entschluss und rief Chief Mullins an. „Ich muss wegen meiner Nichte dringend mit Dr. Farnsley sprechen. Können Sie mich heute zu diesem Fototermin ins Krankenhaus mitnehmen?“
„Natürlich. Seien Sie kurz nach fünfzehn Uhr vorne am Tor, dort sammle ich George und Edwina ein und fahre uns alle zum Krankenhaus.“
„Dazu müsste ich die Schicht tauschen, da ich heute für die Nachmittagsführungen eingeteilt bin.“
„Kein Problem. Dann setzen wir Sie gleich von zehn bis fünfzehn Uhr ein und Denham soll stattdessen von zwölf bis siebzehn Uhr einspringen. Ich kümmere mich darum. Bis später.“
In Paradeuniform lächelten George und Chief Mullins in die Kamera. Edwina hielt gemeinsam mit dem Chefarzt den stattlichen Scheck und auch Patricia hatte sich in einem lavendelfarbenen Kostüm dekorativ in Positur gestellt. Der Zeitungsfotograf drückte fix ein paar Mal auf den Auslöser. „Schon fertig, Leute. Müsste nach den Feiertagen erscheinen.“ Patricia dankte ihm überschwänglich und geleitete den Mann hinaus.
„Doktor – bitte, hätten Sie eine Minute?“ John trat schnell auf Dr. Farnsley zu, bevor dieser in den Katakomben der Klinik verschwinden konnte.
„Ja, Mr. Mackenzie?“
„Sie erinnern sich an meine Nichte Maureen?“
Der Arzt ließ ein ironisches Lächeln aufblitzen. „Wer könnte diese junge Dame je vergessen? In den wenigen Tagen, seit sie hier ist, hat sie durch ihre … eigenwilligen … Aktionen schon einen hohen Bekanntheitsgrad beim Personal erlangt.“
Zerknirscht sah John den Arzt an. „Sie ist wirklich ein wenig impulsiv. Sehen Sie, deshalb denken wir als ihre Familie auch, sie sollte besser über die Feiertage in unserer Obhut sein. Die gesamte Verwandtschaft kommt bei meinen Eltern in Kew zusammen und wir möchten das Mädchen nur höchst ungern allein in London lassen. Vor allem, da sie doch gerade das Opfer eines versuchten Mordanschlages geworden ist und soweit ich weiß, der Täter immer noch nicht gefasst werden konnte.“ John beobachtete den Arzt genau und merkte, dass dieser ins Wanken geriet.
Er spielte seine letzte Trumpfkarte aus. „Mrs. Whittington-Armsworth wird auch da sein, da sie die Gattin meines Cousins ist. Mit Sicherheit wird sie ein Auge darauf haben, dass Maureen keinen Unsinn macht und sich hübsch ruhig verhält.“
„Ah, na wenn das so ist. Natürlich vertraue ich Patricia, äh, Mrs. Whittington-Armsworth hundertprozentig…“
„Das freut mich zu hören, Dr. Farnsley.“ Patricia war zurückgekommen und bedachte den Arzt mit einem schmelzenden Blick.
„Äh, da sind Sie ja, meine Liebe. Mr. Mackenzie bat mich gerade, noch einmal über die Möglichkeit einer kurzzeitigen Entlassung seiner Nichte nachzudenken. Nun höre ich, dass Sie Weihnachten alle gemeinsam verbringen werden. Ich denke, dann kann ich es vertreten, Maureen für zwei, drei Tage in Ihre Obhut zu entlassen. Aber sie darf das Bein keineswegs belasten! Wir können Ihnen einen Rollstuhl mitgeben. Sie müssen aber für ein geeignetes Transportfahrzeug sorgen, denn selbstverständlich können wir sie nicht in einem Krankenwagen zum Verwandtenbesuch chauffieren.“
„Da finden wir schon eine Lösung, Doktor. Und schließlich wird ja auch mein Mann da sein, der, wie Sie ja wissen, Superintendent bei Scotland Yard ist und diesen schrecklichen Mordfall gerade zum Abschluss bringt. Bei uns wird Maureen also sicher wie in Abrahams Schoß sein.“
„Danke für deine Hilfe, Patricia.“, sagte John, nachdem sich Dr. Farnsley verabschiedet hatte. „Ich werde gleich Alan anrufen. Er soll versuchen, ein rollstuhlgerechtes Fahrzeug aufzutreiben.“
„Nicht nötig. Unser Kinderhospizverein hat einen solchen Wagen, den kann Alan sich ausleihen. Ich kümmere mich gleich darum.“
„Das ist wirklich sehr nett von dir.“ John bemühte sich, sein Erstaunen über Patricias plötzliche Fürsorglichkeit zu verbergen.
„Keine Ursache, John. Schließlich ist Maureen eine wichtige Zeugin in Simons bisher größtem Fall.“
„Konnten seine Leute Owen mittlerweile finden?“
Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Simon denkt, er hat sich zum Kontinent abgesetzt. Hat er es erstmal in die Europäische Union geschafft, kann er wegen der fehlenden Grenzkontrollen überall untertauchen.“
Patricia sah aus, als empfände sie dies als persönlichen Affront gegen ihren Mann, dem der gerechte Ruhm verwehrt bleiben würde, wenn der Mordverdächtige nicht gefasst wurde.
„Na, er wird dir sicher alles über die weiteren Entwicklungen erzählen, wenn wir in Kew sind. Ich muss los, John. Grüße Maureen von mir.“ Sie glitt davon wie eine lavendelblaue Wolke auf passenden Pumps.