Die U-Bahn erreichte die Vororte und fuhr aus dem Dunkel des Tunnels hinaus in das fahle Licht des Winternachmittages. Als John an Renies Reaktion zurückdachte, musste er lächeln. So überschießend, wie sie reagierte, wenn ihr etwas gegen den Strich ging, so überschäumend war sie auch in ihrer Begeisterung. Hätte sie gekonnt, wäre sie im Bett auf und ab gehüpft. So hatte sie sich mit einem markerschütternden Freudengeheul und einer stürmischen Umarmung für ihren Onkel zufrieden geben müssen.
Maggie, die von Kew aus anrief, um sich besorgt nach ihrer Tochter zu erkundigen, war höchst erstaunt, als Renie sie ausgelassen begrüßte. Nachdem Maggie gehört hatte, dass sie nun doch Weihnachten alle gemeinsam würden verbringen können, fiel ihr ein Stein vom Herzen. „Gib mir bitte mal deinen Onkel.“ Renie reichte den Hörer weiter und trommelte fröhlich mit ihren Händen auf die Bettdecke.
„John, ich danke dir. Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk für uns. Und glaub mir, wir können erfreuliche Nachrichten hier gut brauchen.“
„Was ist los?“
„Dreimal darfst du raten. Mum und Tante Isabel – sie waren keine fünf Minuten unter einem Dach, als es schon losging. Walter hat Eddie durchs Esszimmer gejagt und der Kater ist in seiner Panik die Brokatvorhänge hinaufgeklettert. Wie die jetzt aussehen, kannst du dir ja vorstellen. Mum schrie, die verdammte Töle wäre schuld, dass ihre kostbarsten Vorhänge jetzt Müll wären. Da ist Isabel natürlich wild geworden. Auf ihren geliebten Champion lässt sie ja nichts kommen. Sie keifte zurück, solche altbackenen Vorhänge hätte sowieso kein Mensch mehr und außerdem hätte die räudige Katze Walter provoziert.“ John konnte sich lebhaft vorstellen, wie seine Mutter auf diese Bezeichnung ihres Rassekaters King Edward, eines Bruders von Maggies vierbeinigem Hausgenossen, reagiert hatte.
„Wenn Dad und ich nicht eingegriffen hätten, wären die beiden noch handgreiflich geworden, fürchte ich.“
„Walter und Eddie?“
„Quatsch, natürlich Mum und Tante Isabel. Es ist wirklich eine Schande, wie sich zwei ältere Damen, Stützen der Gesellschaft, so vergessen können. Es hat sich einfach nichts geändert, obwohl sie sich bestimmt zehn, fünfzehn Jahre nicht gesehen haben.“ Maggie schnaubte. Dann begann sie zu kichern. „Aber irgendwie ist es auch unglaublich lustig, die beiden so zu erleben. Wir werden bestimmt eine interessante Zeit hier haben.“
Bevor John nach Kew aufbrach, war er gemeinsam mit Chief Mullins bei George und Marcia zum Mittagessen eingeladen gewesen. An dieses Essen dachte John mit gemischten Gefühlen zurück. Sie hatten Marcias großartigen Braten genossen und Geschenke ausgetauscht. Während des Essens hatte in schweigender Übereinstimmung niemand von ihnen über den Mordfall gesprochen. George und Marcia bemühten sich redlich, unterhaltsame Gastgeber zu sein. Dennoch spürte John eine Traurigkeit bei beiden, die ihn schmerzte.
Als Marcia die Männer mit Kaffee und Brandy allein im Wohnzimmer zurückließ und sich mit den Worten „Ihr Männer habt sicher noch einiges zu bereden. Ich bin in der Küche, wenn ihr mich braucht.“, lächelnd zurückzog, konnte John seine Neugier nicht länger zügeln.
„George. Was gibt es von Richard zu berichten?“
George sah versonnen zum Fenster hinaus. „Nun ja, das war ein … denkwürdiges Gespräch, das wir gestern hatten. Zuerst einmal schilderte Richard nochmal, wieviel er nun zu organisieren hätte, da der Kopf seines Wahlkampfteams fort sei. Ich fragte ihn schließlich, wie das Verhör gelaufen wäre. Er meinte, das hätte er ganz gut hingekriegt. Seine größte Sorge war wohl, dass sein Drogenkonsum an die Öffentlichkeit gelangen könnte. Aber offensichtlich hat ihm der Superintendent zugesichert, dass sie diese Sache soweit möglich diskret behandeln würden.“
Ich möchte wetten, Richard hat Simon dafür eine Budgeterhöhung für die Metropolitan Police versprochen, falls er gewählt wird, dachte John sarkastisch. Ein Blick auf Mullins´ gerunzelte Stirn sagte John, dass die Gedanken des Chiefs in die gleiche Richtung liefen.
„Was ist mit Richards früherer Aussage, Owen wäre zum Tatzeitpunkt stets mit ihm zusammen gewesen? Im Endeffekt hätte er dich entlasten können, wenn er die Wahrheit gesagt hätte.“
George seufzte leise. „Das gleiche hat Marcia ihn auch gefragt. Wahrscheinlich war es das erste Mal in Richards Leben, dass seine Mutter ihm einen Vorwurf gemacht hat, nachdem sie ihn früher immer in Schutz genommen hat. Er war wie vor den Kopf geschlagen, das kann ich euch sagen. Naja, er erklärte dann, Owen hätte sich tatsächlich für einige Minuten entschuldigt. Pikanterweise, um angeblich den Drogendealer anzurufen, weil die beiden Nachschub brauchten. Richard wollte natürlich keinesfalls, dass etwas von diesem Anruf bekannt wird. Er sagt, er hätte Owen immer hundertprozentig vertraut und es für völlig unmöglich gehalten, dass dieser etwas mit diesem Mord zu tun hatte. Er wusste wohl offensichtlich auch nicht, dass Owen Julia kannte. Er selbst kannte auch ihren Namen nicht, aber als das Foto in der Zeitung erschien, wurde ihm klar, dass das die junge Frau war, die ein, zwei Mal als Drogenkurier zwischen ihm und seinem Dealer fungiert hatte. Während er also seinem ach so engagierten Manager blind vertraute, hat er mich, seinen Vater, tatsächlich für schuldig gehalten, nachdem meine Fingerabdrücke gefunden worden waren.“
Bitterkeit sprach aus Georges Worten. „Deshalb hielt er es auch für unnötig, die Wahrheit über Owen zu sagen, vor allem, da er dann ja auch selbst kein Alibi mehr gehabt hätte.“
George wischte sich verlegen ein paar Tränen ab. „Nachdem Richard gestern Abend gegangen war, haben Marcia und ich uns lange unterhalten. So traurig es auch ist – uns ist durch diese Sache klar geworden, dass für unseren Sohn nur eins zählt: er selbst. Und daran tragen wir die Schuld. Schließlich haben wir ihn aufgezogen.“
Mullins sprang auf. „George! Nun hör sofort auf, so einen Mist zu reden. Du und Marcia, ihr seid wunderbare Menschen. Ohne euch könnte ich mir unsere Gemeinschaft hier nicht vorstellen. Euer Sohn ist Mitte Dreißig, ein erwachsener Mann. Er ist für seine Entscheidungen selbst verantwortlich. Ihr habt immer sein Bestes gewollt und selbst wenn ihr vor zwanzig, dreißig Jahren Fehler gemacht habt: Wer macht die nicht? Also hör auf, dir die Schuld dafür zu geben, dass er so ist, wie er nun mal ist.“ Er holte tief Luft und sah John auffordernd an.
„Der Chief hat recht, George. Vielleicht stellt diese Sache ja auch eine Chance für Richard dar. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er gänzlich ungeschoren davonkommen wird, egal, was er sich jetzt vormacht. Wenn Nigel Owen gefunden und vor Gericht gestellt wird, werden dabei auch einige Tatsachen über Richard ans Licht kommen. Er wird Konsequenzen zu tragen haben – und genau das ist es, was er braucht, denke ich. Wir können nur hoffen, dass er daraus lernen wird.“
George nickte langsam. „Ja. Ja, vielleicht habt ihr sogar recht.“ Ein leiser Funke Hoffnung kehrte in seine Augen zurück. Als die beiden sich verabschiedeten, winkten George und Marcia den Männern Arm in Arm nach.
„Was meinen Sie, Mackenzie: Werden die beiden den Absturz ihres Superhelden verkraften?“
„Ich glaube es, auch wenn es hart für die beiden ist.“
Im Hof trennten sich ihre Wege. „Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest, Chief.“
„Das wünschen ich Ihnen auch. Sie haben sich ein paar ruhige Tage mit Ihrer Familie wirklich verdient.“ Sie schüttelten sich die Hand.
„Gut, Sie in der Truppe zu haben, Mackenzie. Anfangs hatte ich ja so meine Zweifel, was wir wohl mit einem … nun ja – “
„Psycho-Onkel“, ergänzte John grinsend.
„Genau. Was wir mit einem Psycho-Onkel anfangen würden. Aber in den letzten Wochen habe ich gelernt, dass Ihr Blickwinkel auf die Dinge durchaus eine Bereicherung für uns darstellt. In diesem Sinne – Cheerio! Und grüßen Sie Ihre verrückte Nichte von mir.“