Mit jeder Meile, die die Bahn zurücklegte, fühlte John sich leichter. Er nahm sich vor, während der kommenden Tage nichts zu tun, als auszuschlafen, sich mit dem legendären Truthahn seiner Mutter vollzustopfen und das Beisammensein mit seinen Verwandten zu genießen. Die Scharmützel zwischen Tante Isabel und seiner Mutter versprachen, zur Unterhaltung beizutragen.
Voller Vorfreude sprang er auf, als die Bahn die Themse überquerte. In wenigen Minuten war die Station Kew Gardens erreicht.
„Fröhliche Weihnachten“, schmetterte er der Schalterbeamtin entgegen, als er die kleine Bahnhofshalle durchquerte. Die Straße hinunter sah er bereits den Eingang zu den Königlichen Gärten vor sich liegen. Als Kind hatten er und seine Geschwister dort viel Zeit verbracht, da ihre Mutter eine Stütze des Fördervereins der Gärten war und wie eine Reihe anderer Gartenenthusiasten ehrenamtlich mithalf, die Freiflächen und die Pflanzen in den verschiedenen Glashäusern zu pflegen.
Anders als seine Geschwister hatte auch John Interesse an der Vielfalt der Botanik entwickelt. Nun, wo er wieder in England war, freute er sich darauf, wieder mehr Zeit hier zu verbringen.
Er hatte gelesen, dass es dieses Jahr dort eine große Eisfläche gab, wo man Schlittschuh laufen konnte. Abends war das Areal von hunderten Glühbirnen erleuchtet, was zusammen mit den angrenzenden viktorianischen Gewächshäusern ein sehr romantisches Bild ergab. Er hoffte, dass er die Gelegenheit finden würde, dort ein paar Runden zu drehen.
Bis zum Haus der Mackenzies waren es nun nur noch ein paar Schritte. Er durchquerte den Vorgarten mit den akkurat geschnittenen Buchsbaumhecken. Auf der letzten Gartenreise ihres Clubs nach Meran in Südtirol hatte Johns Mutter sich von den zahlreichen kunstvollen Heckenskulpturen inspirieren lassen. Nun bestand ihr ganzer Ehrgeiz darin, ebenfalls phantasievolle Formen zu erschaffen. Ihr erstes Projekt, eine überdimensionale Katze, die einen Buckel machte, erinnerte allerdings eher an einen Dinosaurier. Während John flüchtig überlegte, ob sein Vater beim Heckenschnitt die Finger im Spiel gehabt haben mochte, flog die Eingangstür des großen efeuüberwachsenen Hauses auf.
Bella sprang heraus. „Onkel John!“ Er öffnete die Arme und sie flog hinein. „Wir sind auch gerade angekommen, in einem riesigen Auto, in dem sogar Renie in ihrem Rollstuhl Platz hatte. Und King Olaf hat sich auf der Fahrt hierher übergeben!“, sprudelte sie heraus.
John lachte laut heraus. „Das ist doch ein guter Start in die Feiertage.“ An der Tür empfing seine Mutter ihn. „Mein Junge. Schön, dass du endlich da bist. Komm rein, komm rein. Gib mir deinen Mantel.“ Während sie den geräumigen Dielenschrank öffnete, zischte sie ihm zu, „Sie macht mich wahnsinnig. Weiß der Himmel, warum sie uns dieses Jahr heimsuchen musste.“ John konnte unschwer erraten, von wem seine Mutter sprach. Er legte den Arm um seine Mutter und erwiderte mit einem schadenfrohen Grinsen, „Tja Mum, nun siehst du mal, wie das ist. Unser geliebter Cousin Simon hat David, Maggie und mich jahrelang zur Weißglut getrieben. Du wirst es ein paar Tage mit Tante Isabel aushalten können.“ Sie kniff ihn scherzhaft in die Wange. „John Albert Mackenzie! Sprich nicht so respektlos von Simon. Ohne ihn hätten wir jetzt ein sehr trauriges Weihnachtsfest.“
Ernüchtert sah er sie an. „Du hast recht, Mum. Maggie und ich haben uns ohnehin vorgenommen, von jetzt an immer nett zu ihm zu sein.“
„So ist´s recht. Nun geh schon zu den anderen. Sie sind im Wohnzimmer.“ John brauchte nur dem Stimmengewirr zu folgen. Sein Vater, Alan, Tommy, David und seine Frau Annie mit ihrem Söhnchen Christopher hatten sich um Renie geschart, die neben dem offenen Kamin wie eine Königin in ihrem Rollstuhl thronte und wieder einmal genüsslich ihr knappes Entrinnen schilderte. Auch Tante Isabel lauschte Renies lebhaftem Vortrag. Ihre Mundwinkel zuckten. Trotz ihres hohen Alters und ihrer zierlichen Gestalt war sie immer noch eine dominierende Persönlichkeit. Als sie John erblickte, erhob sie sich ächzend aus ihrem Stuhl und kam, auf ihren Ebenholzstock mit dem Hundekopfgriff gestützt, zu ihm herüber.
„Tante Isabel, behalte doch Platz – “
„Unsinn“, unterbrach sie John ungehalten. „Junger Mann, du glaubst wohl, ich gehöre schon zum alten Eisen, was?“ Sie reckte ihm die faltige Wange entgegen. John drückte einen herzhaften Kuss darauf. „So ist´s schon besser. John, dies ist Sir Walter Scott, mein Landeschampion.“ Der Hund war ihr gemessenen Schritts gefolgt. Wohlerzogen hob er eine Pfote. Nachdem John dem Terrier die Pfote geschüttelt hatte, konnte er auch den Rest seiner Familie begrüßen. Danach ging er in die Küche hinüber, wo Maggie eben die Lammpastete im Ofen kontrollierte. „Hallo, Schwesterherz. Hmm, das riecht ja köstlich.“
„Hallo, du Retter der Familienweihnacht. Hier, trag bitte den Brotkorb hinaus. Das Abendessen ist bald fertig.“ Gehorsam tat John wie ihm geheißen und schlenderte dann in die Küche zurück. „Es ist nur für elf gedeckt. Kommen Simon und Patricia nicht?“
Maggie probierte ihre Salatsauce und tat dann noch etwas Pfeffer hinein. „Sie hatten es vor, aber Simon kann wegen der Ermittlungen noch nicht weg aus London. Sie hoffen, dass sie im Lauf des Abends noch herkommen können. Morgen bleiben sie bis zum Mittagessen, dann fahren sie weiter zu Patricias Eltern.“ John kaute geistesabwesend auf einem Blättchen frischen Korianders herum, das er aus den Kräutertöpfen auf dem Fensterbrett gepflückt hatte.
„Was für ein Geschenk habt ihr für Simon besorgt?“
„Patricia sagte mir, dass er einen neuen Siebener-Schläger zum Golfen brauchen könnte. Im Sommer sind die beiden wohl zu einem großen Prominenten-Wohltätigkeitsturnier in St. Andrews eingeladen. Also haben wir den besten Schläger gekauft, den es in dem Golfshop gab.“
John pfiff durch die Zähne. „Donnerwetter. Ich sehe Simon schon vor mir, wie er das nächste halbe Jahr wie ein Besessener trainiert, um sein Handicap zu verbessern. Verlieren konnte er ja noch nie. Kannst du dich erinnern, wie er selbst beim Federball immer diskutieren musste, ob sein Ball nun im Aus war oder nicht? Oder wie er einmal –“
„John“, unterbrach Maggie ihn mahnend. „Wir wollten die alten Kamellen doch vergessen, oder nicht?“
„Entschuldige. Alte Gewohnheit. Vorhin musste ich mich schon von Mum deswegen tadeln lassen.“
Maggie schnaubte. „Mum! Dabei benehmen sie und Tante Isabel sich mindestens ebenso kindisch und werfen sich gegenseitig Sachen an den Kopf, die schon dreißig, vierzig Jahre her sind. Sie widersprechen sich auch ständig gegenseitig, einfach aus Prinzip. Und das Schärfste ist, dass ihre Abneigung auf ihre Haustiere abgefärbt zu haben scheint. Tante Isabel schwört, dass Walter noch nie einer Katze etwas zuleide getan hätte, aber auf Eddie hat er nur einen Blick geworfen und schon ging´s los mit der wilden Jagd.“
„Was habt ihr mit Olaf und Eddie gemacht? Ich habe sie gar nicht gesehen.“
„Ich habe die beiden in das Zimmer gesperrt, das du mit Tommy teilst, oben im ersten Stock. Sie sind mit Futter, Wasser und Katzenklo versorgt, also werden sie es hoffentlich dort aushalten, so lange Walter im Haus ist. Mum und Isabel finden auch ohne die Tiere genügend Anlässe, sich zu streiten. Stell dir vor, morgen werden beide nach ihrem jeweiligen geheimen Rezept eine Preiselbeersauce zum Truthahn machen. Jede ist überzeugt, dass ihre Sauce die Bessere ist – “ Sie brach abrupt ab, als die Tür aufging und Emmeline Mackenzie hereinkam.
„Ist alles fertig, Maggie? Dann lasst uns essen, Kinder.“
Beim Abendessen saß John zwischen seinem Vater und David.
„Wie läuft die Kanzlei, Kleiner?“, fragte er seinen jüngeren Bruder, während Maggie die Suppe austeilte. David und Annie waren beide Steuerberater. Sie hatten sich in der Firma, in der beide arbeiteten, kennengelernt, geheiratet und sich vor einigen Jahren in Cambridge gemeinsam selbstständig gemacht.
„Ich kann nicht klagen, John. Unser Mandantenkreis erweitert sich beständig. Das Steuerrecht wird immer komplizierter, egal was die Politik auch versucht, um es zu vereinfachen. Zum Beispiel wird nun zum ersten Januar eine Regelung in Kraft treten…“
John bemühte sich redlich, den Ausführungen seines Bruders zu folgen, doch verlor er schon nach wenigen Minuten den Faden. Glücklicherweise warf Maggies Ehemann, der aufmerksam zugehört hatte, eine Frage ein und es entspann sich eine lebhafte Diskussion. John, dem es ein Rätsel war, wie jemand sich für die Reform der Körperschaftssteuer begeistern konnte, neigte den Kopf zu seinem Vater hinüber und fragte halblaut, „Hat Mum dir den letzten Schnitt der Buchshecken im Vorgarten überlassen?“
James Mackenzie zwinkerte seinem Sohn zu. „Du hast es gemerkt, nicht wahr? Nach dem Neuaustrieb der Blätter im Frühjahr werden wir eine wunderbare Triceratops-Skulptur haben. Und das Beste ist, dass es Emmeline noch nicht einmal aufgefallen ist, dass ihre Figur einer Felis domestica sich allmählich in einen nordamerikanischen Pflanzenfresser aus der Kreidezeit verwandelt.“
„Die meisten Menschen sehen das, was sie erwarten zu sehen.“, kam es da in etwas abfälligem Ton von der gegenüberliegenden Tischseite. Ertappt blickten beide auf. Tante Isabel lächelte heiter. Johns Vater warf einen schnellen Blick zu seiner Frau hinüber, die jedoch damit beschäftigt war, dem widerspenstigen Christopher die Gemüsesuppe schmackhaft zu machen. Beruhigt wandte er sich an Isabel und brummte, „Du hast wirklich ein ausgezeichnetes Gehör.“
„Nicht nur das. Ich sehe auch noch wie ein Adler. Und mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei. Allerdings schränkt das Rheuma mich immer mehr ein, so dass ich nicht mehr ganz so fix bin wie ein junges Ding mit siebzig.“
Emmeline, die es aufgegeben hatte, Christopher für die Suppe zu begeistern und sich einige Karottenflecken von ihrem Ärmel tupfte, hatte ihre letzten Worte gehört. „Herzlichen Dank, Isabel. Dann darf ich mich mit meinen achtundsechzig Jahren ja noch als Teenager fühlen.“
„Es gibt Leute, die sind schon alt zur Welt gekommen, meine Liebe.“
Johns Mutter knirschte mit den Zähnen und stand dann auf, um die Teller abzuräumen. Isabel aber bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. „Einen Moment bitte, Emmeline. Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um zu erklären, warum ich in diesem Jahr beschlossen habe, Weihnachten bei euch zu verbringen.“ Sie klopfte mit einem Löffel gegen ihr Glas.
Alle verstummten und Emmeline ließ sich unwillig wieder auf ihren Stuhl fallen. Isabel sah in die Runde und hob dann an. „Meine Lieben, ihr habt euch sicher gewundert, weshalb ihr an diesen Feiertagen in den Genuss meiner Gesellschaft kommt.“ Johns Mutter bekam einen Hustenanfall.
„Ich kann euch beruhigen, es liegt nicht daran, dass ich das Ende meiner Tage nahen fühle und mich deshalb von euch verabschieden wollte.“ Emmelines Lippen formten sich zu einem stummen Schade.
„Ihr wisst sicher, dass ich seit Jahrzehnten aktiv die Belange meiner Heimat und die aller Schottinnen und Schotten vertrete. So kam es, dass ich ins Organisationskomitee der größten Zusammenkunft schottischer Clans seit vielen Jahrzehnten gewählt wurde.“
„Davon habe ich gehört“, meldete sich David zu Wort. „Einer meiner Mandanten hat mir erzählt, dass er dort hinkommen wird. Findet das Treffen nicht im August in Edinburgh statt?“
„Genau. Wir haben ein wunderbares Programm auf die Beine gestellt. Dudelsackgruppen aus verschiedenen Ländern werden auftreten, das Finale der Weltmeisterschaft der Highland Games wird an zwei Tagen stattfinden, es wird heimische Spezialitäten und Produkte in Hülle und Fülle geben. Bei der großen Clanparade werden Vertreter aller großen schottischen Familien in ihrer traditionellen Tracht mitmarschieren. Wir erwarten zehntausende Gäste aus aller Welt.“ Ein stolzes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Es wird ein einzigartiges Erlebnis werden. Daher möchte ich, dass ihr alle dabei seid.“ Für einen Moment herrschte Stille. Wie üblich, erholte Renie sich am schnellsten von ihrer Überraschung. „Das wird total cool! Mum, bekomme ich dann einen Kilt mit dem Mackenzie-Muster?“
Bevor Maggie reagieren konnte, sprach Isabel wieder. „Renie, traditionsgemäß werden Kilts von den Männern getragen. Wir Frauen sind zu wichtigen Anlässen in ein langes Gewand gekleidet mit einer Schärpe in den Clanfarben.“
„Das könnt ihr vergessen. Ich zieh doch keinen lausigen Rock an. Das ist ja wohl total – “ Tommy verstummte mit schmerzlich verzogenem Gesicht. Maggie war ihm unter dem Tisch auf den Fuß getreten. „Tante Isabel, ich finde das eine großartige Idee. Dürfen auch angeheiratete Verwandte teilnehmen?“
„Natürlich. Ihr werdet Familienmitglieder kennenlernen, die in Neuseeland, Kanada, Australien, Holland oder sonstwo leben. Jeder Clan bekommt einen eigenen Pavillon zur Verfügung gestellt, der als Treffpunkt dienen wird.“
John ergriff das Wort. „Tante Isabel, ich werde gleich nach den Feiertagen Urlaub für diese Tage beantragen. Mit mir kannst du fest rechnen.“
Sein Vater nickte nachdrücklich. „Wir freuen uns, zu kommen, nicht wahr, Emmeline?“ Auch David und Annie sagten zu. Zufrieden blickte Isabel Mackenzie in die Runde.
„Maureen, für dich hätte ich noch ein besonderes Angebot, wenn du möchtest.“ Gespannt sah Renie auf.
„Wir bräuchten dringend jemanden für das Organisationsbüro. Wir werden mit Anfragen überhäuft und das Team kann den Ansturm ohne Verstärkung nicht bewältigen. Du würdest natürlich bezahlt und bekämst auch ein Zimmer in Edinburgh zur Verfügung gestellt.“, beeilte sie sich, hinzuzufügen.
Renie war ausnahmsweise so überrumpelt, dass sie für einen Moment sprachlos war.
„Hmm. Isabel, die Idee ist gar nicht übel, finde ich.“, ließ Johns Vater sich in die Stille hinein vernehmen. „Renie, ich denke, du könntest dieses Projekt auch im Rahmen deines Studiums nutzen. Natürlich sind es nicht gerade die Sitten und Gebräuche der Himba oder der Ubangi, die du studieren könntest. Jedoch könntest du zum Beispiel ein wenig genealogische Forschung betreiben und auch ein Bild davon bekommen, wie sehr die jahrhundertealte Kultur auch das heutige Leben in Schottland noch prägt.“
„Ich finde, du hast recht, Dad. Renie, du würdest eine Menge neuer Leute kennenlernen und mit diesem Job könntest du diese Monate doch noch sinnvoll nutzen. Du kannst später immer noch für eine Weile ins Ausland gehen.“
John konnte sehen, dass Maggie Tante Isabels Idee sehr entgegenkam.
Die alte Dame meldete sich noch einmal zu Wort. „Wir brauchen jemanden, der sich gern um die vielen verschiedenen Anliegen der Gäste kümmert, der nervenstark ist und auch in der größten Hektik nicht den Kopf verliert. Auch wenn ich noch wenig Gelegenheit hatte, dich genauer kennen zu lernen, Maureen: Ich bin überzeugt, dass du genau die Richtige bist.“
Renies Wangen glühten vor Freude über so viel Lob. „Tante Isabel“, begann sie dann feierlich, „danke, dass du mir so eine Aufgabe zutraust. Ich … mach´s!“ Alle applaudierten begeistert. „Darauf trinken wir!“, rief James Mackenzie. „Slainte mhath, wie wir Schotten sagen – Zum Wohl!“
Nach dem Essen halfen alle traditionsgemäß, den großen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer zu schmücken. Während sie Kugeln, Schleifen, Strohsterne und hölzerne Weihnachtsfigürchen anbrachten, erfüllte angeregtes Plaudern den Raum. Selbst Johns Mutter ließ sich von der harmonischen Stimmung anstecken und wandte sich in freundschaftlichem Ton an Isabel. „Unsere Renie wird gut bei dir aufgehoben sein. Sie war so traurig, als ihre Pläne für nächstes Jahr sich zerschlugen. Eine solche Aufgabe ist genau das, was sie jetzt braucht – sieh nur, wie glücklich sie aussieht.“
Beide beobachteten einen Moment, wie ausgelassen Renie mit Bella und Christopher herumalberte. „Du hast eine wunderbare Familie, Emmeline. Ich bin froh, bei euch zu sein.“
Maggie und John, die unbemerkt Zeugen dieses Wortwechsels geworden waren, sahen sich an. „Die Nacht vor dem Weihnachtstag scheint wirklich voller Wunder zu sein.“, flüsterte Maggie hinter vorgehaltener Hand. John schmunzelte. „Warten wir´s ab, wie lange der Burgfrieden hält.“
Als der Stern auf der Baumspitze prangte, entschuldigten sich David und Annie, um den aufgedrehten Christopher zu Bett zu bringen. Tommy zog es ebenfalls vor, sich zu verkrümeln. Auch Isabel zog sich zurück. Dann verkündete Bella, sie wolle auch schlafen gehen, damit der Morgen schneller da wäre. „Bitte Renie, komm mit auf unser Zimmer. Wir kuscheln uns ins Bett und du liest mir noch eine Weihnachtsgeschichte vor.“, bettelte sie.
„Gute Idee. Du musst dich sowieso hinlegen, Renie. Du weißt, was wir Dr. Farnsley versprochen haben: viel Ruhe.“
„Okay, Dad.“, gab Renie sich geschlagen. Alan und Johns Vater holten sich warme Jacken und gingen in den Garten hinaus, um ein Pfeifchen zu rauchen. Maggie, John und Emmeline Mackenzie zogen sich in die Küche zurück, um die letzten Vorbereitungen für das große Essen morgen zu treffen. John polierte das schöne Tafelsilber, als es klingelte.
Herein kamen Simon und Patricia, als wären sie gerade den Hochglanzseiten eines Modemagazins entstiegen. Das Bild wurde von ihrem silberfarbenen Jaguar komplettiert, der vor der Gartentür geparkt war. Simon sah abgespannt aus, bemühte sich aber um ein Lächeln. Er begrüßte Emmeline, die stets eine liebevolle Ersatzmutter für ihn gewesen war, herzlich.
„Unser Ritter in schimmernder Rüstung ist soeben auf seinem glänzenden Ross eingetroffen. Und er hat auch seine holde Maid mitgebracht. Lasset uns dem Ritter huldigen.“
„Renie! Ich dachte, du wärst längst im Bett.“, zischte John. Die Räder ihres Rollstuhls hatten auf dem weichen Teppich des Esszimmers kein Geräusch gemacht.
„Ich musste doch hören, was es Neues gibt.“
Simon erspähte sie durch die offene Tür und kam zu ihnen herüber. Müde sagte er, „Da seid ihr ja. Wir müssen reden.“ Er zog die Tür zur Küche hinter sich zu und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Habt ihr Owen endlich?“, platzte Renie heraus. Der Superintendent schüttelte den Kopf. „Wir haben noch nicht einmal handfeste Beweise, dass er wirklich der Täter ist. Seine Wohnung ergab keinerlei Hinweise. Keine illegalen Drogen. Keine Hinweise auf Schweizer Nummernkonten. Keinerlei Fotos. Keine Spur einer Verbindung zu Julia Feldmann. Keine blonde Langhaarperücke. Von seinem Vermieter und seinen Nachbarn wird er als angenehmer und ruhiger Zeitgenosse beschrieben. Richard Campbell sagt, er könnte sich unter keinen Umständen vorstellen, dass sein Wahlkampfmanager zu einem Mord fähig sei. Selbst George Campbell, der sich glücklich schätzen kann, dass sich unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihn konzentriert, hält Nigel Owen für unschuldig. “ Frustriert breitete er die Arme aus. „Verdammt, wir haben keinerlei Verdachtsmomente außer der Aussage der Chinesin. Auf den Überwachungskameras der U-Bahn ist der blonde Typ zu sehen, der dich gestoßen hat, Renie. Aber wir haben keine Ahnung, ob das wirklich Nigel Owen in Verkleidung war. Wir haben jede Mülltonne, jeden Kellerabgang, jede öffentliche Toilette, einfach alles im Umkreis von einem Kilometer abgesucht. Wenn wir nur die Perücke oder den Anorak finden könnten! Dann hätten wir die Möglichkeit, über DNA-Spuren die Identität des Täters festzustellen. Aber wir haben nichts, einfach nichts. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der seine Spuren so gründlich verwischt hat wie dieser Mann.“
Chief Mullins hatte fast dieselben Worte benutzt, als er über Gerry Burrows gesprochen hatte, fiel es John ein.
„Konntet ihr in den Militärarchiven etwas über diesen Burrows herausfinden?“
Wieder Kopfschütteln. „Auch das ist eine Sackgasse.“
Renie sah verständnislos von einem zum anderen. „Aber allein schon, dass Owen jetzt abgehauen ist, sagt doch, dass der Kerl Dreck am Stecken hat, oder nicht?“
Simon seufzte. „Ach Renie, wenn es nur so einfach wäre. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diesen Mann zu finden und nun sitzt mir Sir Fenton Carruthers im Genick. Wenn ich nicht bald mit Ergebnissen aufwarten kann…“ Er führte den Satz nicht zu Ende. Abrupt stand er auf. „Ich muss mich hinlegen. Ich habe kaum Schlaf bekommen in den letzten Tagen. Ihr entschuldigt mich.“
Nachdem er den Raum verlassen hatte, sahen John und Renie sich ratlos an. „Ich hatte gedacht, der Fall wäre gelöst. Nun sieht es doch nicht danach aus.“, meinte Renie bedrückt. John lächelte sie ermunternd an. „Du wirst sehen, die Geschichte wird schon zu einem guten Ende finden. Nun ab mit dir ins Bett. Sicher wird Bella bereits im Morgengrauen das ganze Haus aufwecken, um sich auf die Geschenke zu stürzen.“
Nachdem Renie davongerollt war, stand John noch lange am Wohnzimmerfenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Er wünschte, die Zuversicht, die er in seine Worte gelegt hatte, wäre echt gewesen.
Wie John vorhergesagt hatte, begann der Weihnachtstag, noch bevor das Schwarz der Nacht einem wolkenlos heraufziehenden Tag Platz gemacht hatte. Er schreckte hoch, als Tommy aus seinem Bett polterte, die Tür aufriss und die Treppe hinunterraste. Unten hörte er Bella quieken. „Tommy, du hast mich erschreckt. Ich wollte doch sehen, ob ich diesmal den Weihnachtsmann ertappen kann. Aber die Tür zum Wohnzimmer ist abgesperrt.“ Dann hörte er die Stimme seiner Mutter. „Schsch. Ihr weckt ja alle auf. Kommt zu mir in die Küche. Ich mache euch einen Kakao, und dann legt ihr euch nochmal ein Stündchen hin.“
John sah auf die rot leuchtenden Ziffern des Radioweckers. Es war sechs Uhr. Seine Mutter war sicher schon seit einer Stunde auf den Beinen, um den riesigen Truthahn vorzubereiten. Er ließ sich wieder in das Kissen zurückfallen, schob Eddie, der es sich auf seinem Bett bequem gemacht hatte, ein wenig zur Seite und schlief prompt wieder ein. Als er wieder erwachte, schien die Morgensonne durch das Fenster.
„Mmm“, grummelte er unwillig, als etwas seine Fußsohlen kitzelte. Als er ein Kichern hörte, schlug er die Augen auf. „Guten Morgen, Onkel John! Fröhliche Weihnachten! Steh endlich auf, wir wollen Bescherung halten.“
„Dir auch fröhliche Weihnachten, Bella. Lauf schon vor, ich bin in zehn Minuten unten.“
In der Küche hatte John gerade noch Zeit, sich ein Nusshörnchen und eine Tasse Tee zu schnappen, bevor sein Vater feierlich die Wohnzimmertür aufschloss und weit öffnete.
Nach einem Moment andächtigen Schweigens sprachen alle auf einmal.
„Wow! Seht euch diese Geschenkberge an.“
„So schön war der Weihnachtsbaum noch nie.“
„Lasst uns etwas singen.“
„Stopp, Christopher, das Geschenk ist nicht für dich! Nicht einfach alles aufreißen.“
„Zu spät.“
„Grrrrrrr“ Ein dumpfes Knurren drang aus Walters Kehle und schon schoss King Edward wie ein Pfeil durch die vielen Beine und raste auf den Baum zu. Reaktionsschnell griff David zu und fing den Kater ab, bevor er in den Weihnachtsbaum klettern konnte. Während alle lachten und David Applaus spendeten, warf Walter sich plötzlich herum und flitzte in die Küche.
„Der Weihnachtskuchen!“ Mrs. Mackenzie schlug sich die Hände vors Gesicht und nahm gemeinsam mit Tante Isabel die Verfolgung auf. Der Rest der Familie hörte sie schreien. „Du Biest! Sofort runter vom Tisch!“ Dann Fauchen und Gebell, Klirren und ein Krachen. Als John die Küche betrat, bot sich ihm ein Bild der Verwüstung.
Offensichtlich hatte King Olaf die Gunst der Stunde genutzt, um sich über die Butter herzumachen, die auf dem Frühstückstisch stand. Auch die Zuckerkruste von einigen Hörnchen war verschwunden. Auf der Flucht vor dem wütenden Terrier hatte er die Töpfchen mit Sahne und Marmelade auf dem Tisch umgeworfen, war dann mit einem gewaltigen Satz auf das Fensterbrett gesprungen und hatte einen von Emmelines Kräutertöpfen hinunterbefördert. Nun lugte er mit gesträubtem Fell, die Ohren flach angelegt zwischen den Stängeln des Basilikums hervor, während Walter Anstalten machte, zu seinem Feind hinaufzuspringen.
„Walter“, donnerte Tante Isabel. Der Hund drehte sich um und kam nach einem letzten Blick auf den Kater gehorsam zu ihr. John, der neues Unheil zwischen seiner Mutter und Tante Isabel heraufziehen sah, beeilte sich einzuwerfen, „Mein Fehler! Ich muss die Tür oben offengelassen haben“, und stupste Bella an, die sich vor Lachen bog. Er deutete mit beschwörender Miene auf das Wohnzimmer. Bella verstand und krähte los. „Ich will jetzt endlich meine Geschenke aufmachen. Bitte, Grandma, fangen wir jetzt endlich an.“ Sie nahm Emmelines Hand und zog sie kurzerhand davon, während Maggie, die sich eine Lachträne aus dem Auge wischte, hinterherrief, „Ich mache das hier schon. Wir können die Kinder nicht mehr länger warten lassen.“
Das Ablenkungsmanöver hatte geklappt. Erleichtert sahen John und Maggie sich an und beseitigten schnell das Chaos, nachdem Maggie die beiden Kater wieder eingesperrt hatte.
„Gott sei Dank hat Olaf nicht den Weihnachtskuchen angeschleckt. Stell dir vor, er hätte eine Alkoholvergiftung bekommen.“ Emmelines Christmas Pudding wurde über Monate hinweg teelöffelweise mit Brandy getränkt und hatte an Weihnachten ein sehr gehaltvolles Stadium erreicht.
Als sie zurück ins Wohnzimmer kamen, waren Christopher und Bella als die Jüngsten in der Familie dabei, ihre Geschenke zu öffnen. Danach waren Tommy und Renie an der Reihe. „Mann, cool, das sind genau die Schuhe, die ich wollte. Danke, John.“
„Gern geschehen, Tommy“, antwortete John und lächelte seiner Schwester dankbar zu. Simon freute sich sichtlich über seinen neuen Golfschläger. Während einer nach dem anderen auspackte, war John glücklich, mit seinen Geschenken ins Schwarze getroffen zu haben.
Auch was Tante Isabel mitgebracht hatte, sorgte für großes Hallo. Alle weiblichen Familienmitglieder bekamen Schärpen in den Farben des Mackenzie-Clans und eine keltische Brosche, um sie stilvoll an der Kleidung zu befestigen. Für jeden der Männer hatte sie einen Sgian Dubh besorgt, einen kleinen Strumpfdolch, der traditionell zum Kilt getragen wird. Auch Tommy bekam einen, was diesen mächtig stolz machte. „Total abgefahren. Den nehme ich nach den Ferien gleich mit in die Schule, die werden Augen machen.“
„Das wirst du schön sein lassen“, fuhr Maggie dazwischen. „Auch wenn das Ding Teil der Tracht ist, ist es doch eine Waffe. Sieh mal, wie spitz es ist. Nein, nein, das bleibt schön daheim.“ Tommy blickte verdrossen drein. Für den zweijährigen Christopher hatte Isabel wohlweislich etwas anderes mitgebracht: eine kleine Gürteltasche, den Sporran, ebenfalls Teil der traditionellen Highlander-Tracht. Annie schlug entzückt die Hände zusammen. „Oh, Schatz, unser Junge wird allerliebst aussehen, mit einem passenden kleinen Kilt und dazu dieser putzigen Tasche.“ Christopher selbst fand den großen Bagger, den er von Renie bekommen hatte, weitaus interessanter.
John freute sich besonders über das edle Messer mit Kullenschliff, das Maggie und Alan ihm geschenkt hatten. Auch die Bücher trafen genau seinen Geschmack. Als er Renies Geschenk öffnete, musste er lauthals lachen. „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“. Als Widmung hatte sie hineingeschrieben „Meinem getreuen Watson – wir waren ein gutes Team.“
Im allgemeinen Gelächter hörte John Simon murmeln, „Mich erinnern die beiden ja eher an Laurel und Hardy“, was Patricia mit einem nachsichtigen Lächeln und unmerklichem Kopfschütteln quittierte.
„Das hier lag noch in den Tüten, die du mir mitgegeben hattest. Es sieht aus, als wäre das mit der Post gekommen.“ Maggie reichte John das Paket und die Kuverts, die Bonnie ihm mitgegeben hatte.
„Das hat George wahrscheinlich mit eingepackt. In der Eile hatte ich alles auf einen Haufen geworfen.“ Er griff als Erstes nach dem gewichtigen Paket. „Oh, ich ahne schon, was da drin ist. Hmm, ein original Dresdner Stollen von einem Freund in Deutschland. Finger weg.“, drohte er Maggie scherzhaft, die begehrliche Blicke auf das Weihnachtsgebäck warf.
Dann öffnete er die vielen Karten und Briefe, die Kollegen und Freunde geschickt hatten. „Der hier kommt ganz aus der Nähe, aus Richmond. Kennst du da jemanden?“ Maggie reichte ihm den letzten Umschlag.
John schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste.“ Neugierig zog er den Inhalt heraus.
„Oh, das ist ja ein Foto von dir. Und hier noch eins. Wer ist diese Frau? Sie sieht nett aus.“ John las die in kindlicher Schrift verfasste Karte, die dabei lag. „Lieber Mr. Mackenzie! Ich möchte mich noch einmal für Ihre Hilfe bedanken. Das war echt toll. Angela und Deirdre haben einen Verweis von unserer Rektorin bekommen und müssen zwei Monate lang den Putzdienst im Klassenzimmer übernehmen. Ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr wünscht Ihnen Tiffany Marks (Richmond Grammar School). P.S.: Ich soll Sie auch herzlich von Ms. Murray grüßen. Die Fotos sind gut geworden, nicht wahr?“
John lächelte in Erinnerung an den ereignisreichen Tag mit den Schülerinnen. Während alle begannen, das herumliegende Geschenkpapier aufzusammeln und seine Mutter mit Annie und Patricia in die Küche ging, um letzte Hand an den Truthahn anzulegen, schilderte er Maggie die turbulente Führung mit den Mädchen.
„So seltsam es ist, aber Angelas und Deirdres perfider Racheplan hatte auch etwas Gutes. Er brachte mich auf die Idee, dass es bei dem Mord an Julia Feldmann gar nicht wirklich um das Opfer ging, sondern dass die Tat ausgeübt wurde, um George als den Sündenbock dastehen zu lassen. Eigentlich hätte ich an dem Punkt schon erkennen müssen, dass Nigel Owen dahinter steckte. Er ist ein Meister der Inszenierung, das wurde schon bei der Wahlkampfveranstaltung klar, die ich besuchte. Aber er schien wirklich mit Herzblut für Richard und seinen Erfolg zu kämpfen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass dies nur eine clevere Tarnung war.“
Maggie nickte nachdenklich, während sie die Geschenke hübsch um den Baum herum aufbaute. „Er hat erfolgreich ein doppeltes Spiel getrieben. Insofern hat er gut zu Richard gepasst, mit dessen doppelter Moral.“ Sie richtete sich auf und hakte sich bei ihrem Bruder ein. „Lass uns die Geschichte für die nächsten Tage vergessen. Der Alltag holt uns noch schnell genug ein, wenn wir erst wieder zurück in London sind. Komm, wir trommeln alle für ein paar schöne Familienfotos zusammen.“