„Oh John, nicht böse sein! Ich helfe dir bei deinen Nachforschungen, was sonst?“ John stand, wie vom Donner gerührt.
„Wie…was…“ Resolut ergriff Renie seinen Arm.
„Komm, am besten lädst du mich zum Abendessen ein, dann können wir reden. Ich weiß auch schon, wo wir hingehen.“ Minuten später öffnete sie schwungvoll die Tür zu einem der zahlreichen All-you-can-eat-Buffets in Chinatown. Nachdem sie den Kellner wie einen alten Bekannten begrüßt hatte, strebte sie durch den lärmigen Raum auf einen kleinen Tisch zu, der in die hintere Ecke gezwängt war. John quetschte sich auf den wackligen Plastikstuhl und hob an, „Renie, du erklärst mir jetzt sofort – “
„Gleich, John. Erst mal holen wir uns was zu essen. Was willst du trinken?“
„Äh, einen Jasmintee, bitte.“ Renie plärrte seine Bestellung quer durch den Raum und zog ihn dann zum Buffet.
„Hier, das doppelt gebratene Rindfleisch, das musst du probieren, himmlisch. Und die Ente mit Gemüse. Die Frühlingsrollen würde ich mir sparen, die triefen nur so vor Fett. Aber die gebratenen Nudeln mit Huhn sind dafür wieder Spitzenklasse.“ Mit vollgehäuften Tellern bahnten sie sich ihren Weg zurück zum Tisch, auf dem Johns Tee bereits auf ihn wartete, dazu ein großes Glas mit Saft für Renie. „Mangosaft, den trinke ich hier immer, sehr lecker. Und nun guten Appetit.“
„Renie!“ John, der sich von seiner Überrumpelung erholt hatte, starrte seine Nichte durchdringend an.
Sie grinste ungerührt zurück. „Genieß dein Essen mit der künftigen Entwicklungshilfeministerin.“
„Oh, mein Gott, du hast deine Mutter und mich gestern belauscht!“ John verschluckte sich an einem Stück Huhn. Renie sprang auf und klopfte ihm auf den Rücken, bis er keuchend abwinkte. „Geht… schon wieder.“ Er nahm einen Schluck Tee und atmete tief durch. „Maggie hatte recht, du bist wirklich über die Maßen neugierig.“ Plötzlich dämmerte ihm etwas. „Du warst die Studentin, die vor mir Julia Feldmanns Zimmer besichtigt hat!“
„Na, das war ja wohl der logischste Ansatzpunkt. So, wie Mum es gestern berichtet hat, gibt es ja wohl Zweifel daran, dass dein Freund George tatsächlich der Mörder ist. Also müssen wir doch überprüfen, ob sie irgendwelche Kontakte zu anderen Personen hatte, die ebenfalls an dem Abend im Tower waren. Und am ehesten dürften darüber ihre Mitbewohnerinnen Bescheid wissen.“. John musste eingestehen, dass Renies Gedankengänge seine eigenen widerspiegelten.
„Mit derselben Idee bin ich auch hergekommen.“, brummte er. „Aber ich habe keine Gelegenheit gefunden, mich mit einer von ihren Nachbarinnen zu unterhalten und dieser Carl konnte mir auch nichts Neues erzählen.“
„Tja, Onkelchen, ich will dich ja nicht beleidigen, aber was Kontakte knüpfen angeht, da bin ich offensichtlich erfolgreicher als du. Zumindest, was die Studentenszene betrifft. Ich treffe mich nachher mit ein paar Leuten aus dem Wohnheim, um ins Kino zu gehen. Eins der Mädchen, eine Wanda Irgendwie, war Julias Zimmernachbarin.“ Mit einem triumphierenden Lächeln schob sie sich eine weitere volle Gabel in den Mund.
John konnte nicht anders, er musste lachen. „Du bist wirklich unglaublich. Also gut, ich gebe zu, du hast viel bessere Möglichkeiten als ich oder auch die Polizei, dort etwas herauszufinden. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum du das tust.“
„So ganz genau … kann ich dir das nicht beantworten.“, sagte sie langsam. „Geheimnisse und Rätsel zu lösen, hat mich immer schon gereizt, je schwieriger sie waren, desto besser. Ich find´s toll, dass du und Mum versucht, deinem Freund zu helfen. Ich bezweifle nämlich, dass Großcousin Simon, dieser Kotzbrocken, ein echtes Interesse daran hat, den Täter zu finden. Zumindest, solange er der Öffentlichkeit George Campbell so bequem als Verdächtigen präsentieren kann. Vielleicht suche ich auch nur ein wenig Ablenkung, weil an der Uni vor Weihnachten kaum noch etwas zu tun ist – und Langeweile hasse ich wie die Pest.“, schloss sie lachend.
John rang einige Minuten mit sich, dann kam er zu einem Entschluss. „Okay, Renie, so wie ich dich kenne, kann ich dir sowieso nicht verbieten, dich mit diesen jungen Leuten zu treffen. Da du durch dein Lauschen ohnehin schon die brisantesten Details der Geschichte kennst, werde ich dir jetzt alles erzählen, was ich weiß. Dafür versprichst du mir Folgendes: Du rufst mich regelmäßig an und hältst mich auf dem Laufenden. Du bist vorsichtig und triffst dich keinesfalls allein mit irgendwelchen Fremden. Und nicht zuletzt sprichst du gleich morgen mit deiner Mutter über alles. Maggie würde mich umbringen, wenn dir irgendetwas zustoßen würde.“
Renie zog eine Schnute. „Ach John, was soll mir schon passieren, wenn ich mich mit ein paar Studenten verabrede und ein paar klitzekleine Fragen stelle?“
„Unterschätz´ die Sache nicht. Immerhin wurden in Julias Rucksack Spuren von Amphetaminen gefunden. Wenn Drogen im Spiel sind, kann es schnell gefährlich werden.“
„Pff. John, du hast ja keine Ahnung. Eine Menge von den Studenten nehmen Uppers und Downers, je nachdem, was sie grade brauchen. Gerade in den Prüfungszeiten haben Aufputschmittel Hochkonjunktur.“
„Renie – bitte sag, dass du so ein Zeug nicht nimmst.“ Beunruhigt sah er sie an.
Aber seine Nichte winkte ab. „Quatsch. Aufputschmittel hab ich noch nie nötig gehabt, bei mir ist sowieso immer Action. Hasch, na ja, das hab ich zwei-, dreimal probiert. Aber das ist schon fast zwei Jahre her.“, beeilte sie sich, hinzuzufügen. „Reg dich nicht auf. Es hat mir sowieso nichts gegeben. Ich hatte das Gefühl, neben mir zu stehen und mir selber dabei zuzuhören, wie ich total bescheuertes Zeug labere. Nee, nee, das ist nichts für mich, ich hab lieber im Griff, was ich tue. Also keine Sorge. Aber ich kenne massig Leute, die sich zwischendurch mal was reinschieben. Mittelchen aller Art sind an der Uni leicht zu kriegen. Also jetzt setz mich mal ins Bild über alles, was nicht in den Zeitungen steht über unseren Fall.“
John atmete einmal tief durch und begann dann, die Geschehnisse seit jenem Dienstagabend wiederzugeben. Renie war sehr betroffen, als er ihr Marcias Suizidversuch schilderte. Als er abschließend von Whittingtons Manöver berichtete, ihn und Mullins von George fernzuhalten, blitzten ihre Augen auf und sie schüttelte ihre kurzen braunen Locken. „Dieser miese Typ, dieser hinterhältige Widerling, dieser A…“ John war froh, dass um sie herum lauter ausländische Touristen saßen, die sich vor den Abendshows im West End ein billiges Abendessen gönnten. Unversehens sah Renie auf die Uhr.
„Oh, ich muss ja los, sonst gehen die anderen ohne mich in die Vorstellung. Danke für das Essen, John. Ich ruf dich morgen an! Bye.“
Während er zahlte, fiel ihm ein, dass sie ihm das geforderte Versprechen nun doch nicht gegeben hatte. Aber schließlich glaubte er im Grunde seines Herzens auch nicht daran, dass Renie mit ihren Amateurdetektivspielereien irgendetwas herausfinden konnte, das sie in Gefahr bringen sollte. Mit dieser Einschätzung sollte John jedoch falschliegen.
„Mackenzie, gute Nachrichten!“ John sah Chief Mullins nach Abschluss einer Führung auf sich zueilen. Erstaunt bemerkte er, dass dieser die Beefeater-Uniform trug, was er sonst nur zu traditionellen Anlässen wie der Schlüsselzeremonie tat.
„Stellen Sie sich vor, Sir Fitzgerald konnte erreichen, dass wir wieder mit George sprechen dürfen. Ich will, dass Sie gleich hinfahren.“
„Sehr gern, Sir. Aber ich habe noch zwei Führungen heute.“
„Was denken Sie, wofür ich mich in Schale geworfen habe? Ich vertrete Sie. Wollen doch mal sehen, ob ich´s noch draufhabe. Und jetzt ab mit Ihnen.“
Unbehaglich wartete John in der Eingangshalle von Scotland Yard, nachdem er sich angemeldet hatte. Er hoffte inständig, dass Whittington ihn nicht wieder in sein Büro zitieren würde. Als er jedoch ungehindert Zutritt erhielt und nach kurzer Zeit George Campbell gegenübersaß, konnte er es kaum glauben.
„John, mein Freund! Ich … weiß nicht, wie ich dir danken soll. Sir Fitzgerald hat mir erzählt, dass du und der Chief Marcia gerettet habt.“ John lächelte und winkte ab, obwohl er beim Gedanken an das Bad in der Themse immer noch Gänsehaut bekam.
„George, am wichtigsten ist jetzt, dass du mir einige Informationen gibst. Wenn wir den Täter finden können, kannst du endlich wieder nach Hause.“ Bei diesen Worten schien George sich wieder in sich selbst zurückzuziehen. „Was … willst du wissen?“
„Zuerst einmal, wie deine Fingerabdrücke auf den Rucksack von Julia Feldmann gekommen sind.“ George zögerte.
„Ich habe ihn aufgemacht, weil ich etwas gesucht habe.“ Er verstummte.
„Was hast du gesucht?“ Wieder Schweigen.
„Fotos.“
John atmete tief durch. „Dann stimmt meine Vermutung, dass sie dich erpresst hat?“ George nickte.
„Worum ging es dabei?“
Nun trat ein störrischer Ausdruck in Georges Gesicht. „Das musst du nicht wissen. Es tut hier nichts zur Sache.“ John spürte, wie Ärger in ihm hochstieg.
„Bei aller Freundschaft, George: Ich denke schon, dass dies wichtig ist. Also: Was hatte sie gegen dich in der Hand?“
Als Campbell die Lippen aufeinander presste, platzte John der Kragen. „Verdammt noch mal, George, jetzt lass dir mal eines sagen: Mit deinem Verhalten hättest du Marcia um ein Haar in den Tod getrieben. Nicht nur die Polizei, nein, auch deine eigene Frau musste durch dein endloses Schweigen den Eindruck gewinnen, du wärst schuldig. Kapierst du, George: Deine Frau wollte sich umbringen, um dich vom Mordverdacht zu befreien. In ihrem Abschiedsbrief hat sie die Tat auf sich genommen.“
Als John bemerkte, wie George kreidebleich wurde und zu zittern begann, bereute er seine harschen Worte.
„Oh Gott“, stöhnte George und vergrub den Kopf in den Händen. „Was habe ich getan? Meine arme Marcia….“ Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. „Aber… wieso hat die Polizei sie dann nicht verhaftet?“
„Mullins hat den Brief vernichtet. Außer ihm und mir hat ihn keiner gelesen.“
„Und – ihr Geständnis war sicher falsch?“
„Davon bin ich überzeugt.“ John sah seinen alten Freund, der um Fassung rang, lange an. Dann fuhr er mit sanfter Stimme fort.
„Du hattest die Befürchtung, sie könnte Julia Feldmann getötet haben. Du warst dir nicht sicher, ob sie etwas von dem Anruf mitbekommen hatte, bei dem das Mädchen dich für Dienstagabend in die Water Lane bestellt hatte. An dem Abend wollte sie ihr Geld und dafür wollte sie dir Fotos übergeben. Auf den Fotos war Richard, nicht wahr?“
George schluckte. „Ja“, brachte er dann heiser hervor. „Er … ist fotografiert worden, als er Drogen gekauft hat. Und auch, als er sie genommen hat. Stell´ dir vor, was es für ihn bedeutet hätte, wenn solche Fotos an die Öffentlichkeit gekommen wären!“ In seine Wangen kehrte wieder etwas Farbe zurück. „Er, der als vehementer Kämpfer gegen Drogen in den Wahlkampf gezogen ist. Das hätte ihn vernichtet, all seine Hoffnungen und Pläne zerstört… Und es hätte auch Marcia zerstört.“
John gingen einige bitterböse Gedanken über doppelte Moral durch den Kopf.
Laut sagte er jedoch, „George, dir ist doch klar, dass im Zeitalter von Digitalkameras, in denen Daten auf irgendwelchen Computerchips unbegrenzt vervielfältigt werden können, ein paar Fotos überhaupt kein Beweis gewesen wären, dass das Mädchen nach deiner Zahlung wirklich Stillschweigen bewahrt hätte.“
George hob hilflos die Achseln. „Sie hat es versprochen. Und ich habe ihr geglaubt. Die Übergabe der Fotos war mehr …symbolisch. Und ich hatte doch keine andere Chance. Sie sagte, sie würde die Fotos ohne die Zahlung – sie wollte zwanzigtausend Pfund – gleich am nächsten Tag an die News of the World weiterleiten. Ich musste es wenigstens probieren.“
„Was sagte sie genau, als sie dich anrief?“
George überlegte. „Zuerst fragte sie, ob ich der Vater von Richard Campbell sei. Als ich das bejahte, fragte sie weiter, ob ich ein Interesse daran hätte, seinen Ruf zu schützen. Ich wusste nicht, was sie meinte. Da erzählte sie mir von den Fotos. Sie kündigte an, dass sie an jenem Abend bei der Schlüsselzeremonie dabei sein würde. Ich sollte sie am Verrätertor treffen, nachdem die Besuchergruppe in den Innenhof weitergegangen war. In den paar Minuten, bevor die Leute wieder herauskämen, sollte die Übergabe stattfinden.“
„Aber du warst nicht zum vereinbarten Zeitpunkt dort. Du warst mit Richards Gästen bei der Zeremonie.“
George nickte. „Ich stand dort wie auf heißen Kohlen. Dass ausgerechnet an dem Abend diese Politikerfreunde von Richard kommen mussten! Natürlich konnte ich nicht nein sagen, als Richard mich bat, die Herren herumzuführen und zu betreuen. Und ich konnte sie ja während der Schlüsselzeremonie auch nicht einfach allein lassen. Also habe ich sie, kaum dass der letzte Ton des Zapfenstreichs verklungen war, auf kürzestem Weg in den Club zurückgebracht und bin unter einem Vorwand wieder hinaus. Die Besuchergruppe war gerade am Verrätertor vorbeigegangen auf dem Weg zum Ausgang. Ich bin hinterher, in der Hoffnung, das Mädchen am Ausgang noch abzupassen. Natürlich habe ich einen Blick hinunter in die Nische geworfen, weil ich dachte, sie hätte vielleicht dort auf mich gewartet. Da sah ich sie.“ George ließ den Kopf wieder hängen.
„Ich schäme mich so. Ich hätte sofort Alarm schlagen sollen, als ich sie gefunden habe. Aber als ich sah, dass das Mädchen tot war, war ich … erleichtert. Wie ein Idiot habe ich gehofft, nun würde niemand von der Sache mit Richard erfahren. Ich habe nach ihrem Rucksack gegriffen und ihn nach den Fotos durchsucht. Weil ich die Schnalle nicht aufbrachte, habe ich meine Handschuhe ausgezogen. Natürlich habe ich in dem Moment nicht an die Fingerabdrücke gedacht, die ich hinterlassen würde.“
„Hast du etwas gefunden?“
„Ja. Sie hatte die Fotos wie versprochen dabei.“
„Was hast du mit ihnen gemacht?“ John beugte sich gespannt nach vorne.
„Ich habe sie noch in der Nacht in kleine Stücke gerissen und ins Klo gespült.“ Die beiden Männer sahen sich lange an. Dann breitete George flehentlich die Hände aus.
„Was soll ich nur tun, John? Wenn ich der Polizei die Wahrheit sage, lassen sie mich vielleicht frei – falls sie mir überhaupt glauben. Aber damit ruiniere ich gleichzeitig das Leben meines Sohnes.“ John suchte nach Worten. Das Dilemma des Ravenmasters ließ keine einfache Lösung zu.
„Denkst du, Richard könnte das Mädchen getötet haben?“, fragte er schließlich. George sah ihn schmerzerfüllt an.
„Wie gerne würde ich dir sagen, John, dass ich das für ausgeschlossen halte – aber ich kann es nicht. Richard hat mir selbst gesagt, er wäre zusammen mit Nigel Owen in der Bar geblieben, um zu telefonieren, während ich mit seinen Parteifreunden bei der Schlüsselzeremonie war. Owen muss das wohl bestätigt haben, sonst hätte die Polizei Richard sicher schon längst zum Verhör geholt. Aber dennoch…“
„Du befürchtest, Owen könnte für ihn gelogen haben, nicht wahr?“
George nickte stumm. „Was soll ein Vater in solch einer Situation nur tun?“