Kapitel 12

Mittlerweile war es stockdunkel, obwohl es noch nicht einmal siebzehn Uhr war. Aus dem Waterloo Block traten ein paar letzte Touristen nach dem Besuch der Kronjuwelen in den erleuchteten Innenhof und strebten dem Ausgang zu.

Als John sich der Voliere näherte, empfing ihn lautes Keckern und Kreischen. Auf der kleinen Wiese vor dem Nachtquartier hatten sich alle Vögel bereits versammelt und gaben ihrem Missfallen über seine Verspätung lautstark Ausdruck.

Die Raben waren seit jeher daran gewöhnt, mit dem Sonnenaufgang den Tag zu beginnen und in der Dämmerung zur letzten Fütterung des Tages wieder in die Voliere gelassen zu werden. Da sie ohnehin ihren Pfleger vermissten, sorgte diese neue Störung ihres Tagesablaufs für erhebliche Unruhe.

„Hallo, ihr Schreihälse. Es tut mir sehr leid, dass ich ein wenig spät komme. Ich war in einer Besprechung mit Chief Mullins und habe unterschätzt, wie schnell die Dunkelheit in dieser Jahreszeit hereinbricht – “ Gott, was rede ich da. Den Raben sind meine Worte egal, sie haben ein Anrecht auf pünktliche Fütterung ohne Wenn und Aber, schalt John sich selbst.

Also hielt er den Mund und beeilte sich, den Käfig für die Tiere zu öffnen und dann möglichst schnell ihr Futter zu bereiten. In wachsender Ungeduld veranstalteten die Vögel einen ohrenbetäubenden Lärm, während er sich bemühte, für jedes Tier die richtige Fleischmenge abzuwiegen – wenigstens hatte er morgens schon alles klein geschnitten – und mit Trockenfutter zu bestreuen.

Nachdem er den letzten Napf gefüllt hatte, öffnete er die kleine Tür, die von innen in die Voliere führte, und trug die ersten Näpfe hinein. Drinnen fiel ihm siedendheiß ein, dass Bran grundsätzlich als Erstes an seinem gewohnten Platz sein Futter erhalten musste, da er sich ansonsten auf das Futter der anderen stürzte. Also drehte er sich wieder um, um den Napf des Anführers der Raben zu holen.

Bran, der ihn aufmerksam beäugte, bemerkte, dass das ersehnte Futter im Begriff war, den Käfig wieder zu verlassen. Erbost stürzte er sich von seiner erhöhten Sitzstange auf John und hackte auf dessen linke Hand ein. Mit seinem rasiermesserscharfen Schnabel konnte er tiefe Wunden reißen.

Mit einem Schmerzensschrei ließ John die beiden Näpfe fallen und flüchtete aus der Voliere. Alle Raben machten sich in Windeseile über das verteilte Futter her. John starrte einige Momente hilflos auf das Gewirr und auf die beiden klaffenden Wunden auf seinem Handrücken, aus denen helles Blut auf den Boden rann.

Dann setzte wieder das Kreischen ein – nur kam es diesmal nicht von den Vögeln, sondern aus seinem Kopf. Verflucht, schoss es ihm durch den Kopf, jetzt muss sich zu allem Überfluss auch noch der Tinnitus wieder melden.

Er atmete ein paar Mal tief durch und griff dann zum Telefonhörer. „Doc? Gott sei Dank sind Sie da. Ich hätte hier einen Notfall und wäre sehr dankbar, wenn Sie schnell zum Rabenhaus kommen könnten. Bringen Sie Ihr Verbandszeug mit.“

In der Zwischenzeit hatten die Raben das Futter verzehrt und hüpften nun mit gierigen Blicken auf die restlichen sieben Näpfe hinter dem Gitter auf und ab. Innerhalb weniger Minuten kam Doc Hunter angelaufen, seine dunkle Arzttasche in der Hand.

„Mackenzie, was ist los? Hat einer der Raben Sie angegriffen?“

„Es war meine Schuld. Ich war zu spät dran und dann habe ich auch noch die Reihenfolge der Fütterung missachtet. Dass Bran aggressiv reagiert hat, war sein gutes Recht. Vielleicht könnten Sie die Futternäpfe irgendwie in den Käfig bringen und sie einfach auf den Boden stellen, wo alle daraus fressen können. Der Fütterungsplan ist jetzt sowieso schon durcheinander.“

Hunter nahm die Lederhandschuhe vom Regal, die George Campbell zum Schutz verwendete, wenn er den Vögeln die Flügel stutzte. Dann bugsierte er eilig das restliche Futter in die Voliere und verschloss die Tür.

„Und jetzt zu Ihnen. Donnerwetter, da hat Bran ja ganze Arbeit geleistet. Mit einem Hieb hat er Ihnen ein ganzes Fleischstück herausgerissen und die zweite Wunde geht bis zum Mittelhandknochen hinunter. Das muss ganz schön wehtun.“

John nickte schwach.

„Da hilft uns das Verbandszeug nicht weiter. Die Verletzungen müssen sorgfältig desinfiziert und genäht werden. Das kann ich nur in meiner Praxis machen.“ Kritisch beäugte der Arzt den Blutfluss, der ein wenig schwächer geworden war, aber auf dem Boden bereits eine Pfütze hinterlassen hatte.

„Wir werden die Hand provisorisch verbinden, damit Sie keine Blutspur hinter sich her ziehen, die morgen die Touristen verstören würde.“

John musste trotz der heftigen Schmerzen grinsen.

„Ich könnte mir die Schlagzeilen in der Sun schon vorstellen: Nach dem Mord im Tower: Killerrabe im Blutrausch. Welche Gräuel kommen als Nächstes? Fortsetzung folgt.“

Eine halbe Stunde später war Johns Hand verarztet und mit einem dicken Verband versehen.

„Halten Sie eine neue Infusion wegen des Tinnitus für sinnvoll?“, fragte John und bewegte die pochende Hand probeweise ein wenig hin und her. Der Arzt sah ihn streng an.

„Die nächsten Tage sollten Sie die Hand möglichst stillhalten. Sie werden auch Schmerzen haben. Ich gebe Ihnen ein paar Tabletten mit und Sie kommen morgen zum Wechseln des Verbandes vorbei. Dass das Ohrensausen in dieser Situation wieder aufgetreten ist, sehe ich weniger kritisch. Warten wir mal bis morgen, ob es nicht von selber wieder abflaut.“

„In Ordnung. Schwerer als die Verletzung wiegt für mich eigentlich das Gefühl, dass ich dem Vertrauen, das George in mich gesetzt hat, nicht gerecht geworden bin. Er und Chief Mullins haben mir die Sorge über die Raben anvertraut und ich habe gleich am ersten Tag Mist gebaut…“

„Junger Mann“, unterbrach Hunter ihn in ungeduldigem Ton. „Verzeihen Sie meine offenen Worte, aber allmählich nervt mich Ihr ewiges Bemühen, immer alles hundertprozentig richtig zu machen. Wenn Sie nicht aufhören, diese überzogenen Ansprüche an sich zu stellen, werden Sie Ihr Ohrensausen wohl nie loswerden. Verflixt, kapieren Sie doch endlich, dass wir alle – Sie eingeschlossen – unsere Grenzen haben und Fehler machen und leben Sie damit.“

John blieb der Mund offen stehen. Er schluckte.

„Okay“, sagte er dann langsam. Er erhob sich und reichte dem Arzt die unverletzte Hand. „Danke, Doc. Ich sage es nicht gern, aber Sie haben wohl recht. Ich … werde versuchen, Ihren Ratschlag zu beherzigen.“ Lächelnd geleitete Hunter seinen Patienten zur Tür.

In der kalten Nachtluft atmete John tief durch. Dann ging er noch einmal zurück zur Voliere. Als er die Tür zu dem Holzverschlag aufzog, stieg ihm der Geruch seines Blutes in die Nase und er schüttelte sich. Nachdem ein Blick in den Käfig ihm gezeigt hatte, dass die Raben sich nach ihrer Mahlzeit beruhigt hatten und schläfrig auf ihren jeweiligen Lieblingsplätzen saßen, machte er sich daran, den Blutfleck vom Boden zu wischen.

Obwohl er Rechtshänder war, stellte sich dies ohne die verbundene Hand als mühseliges Unterfangen heraus. Er schreckte hoch, als hinter ihm eine weibliche Stimme erklang.

„Hallo, John. Ich komme gerade von Marcia. Sie hat sich wieder etwas stabilisiert. Der Arzt sagt, sie muss vorerst doch nicht in die Klinik, so lange immer jemand bei ihr ist. Edwina Dunders bleibt nun über Nacht – “

Nun hatte Bonnie seinen Verband entdeckt. „Was ist denn mit Ihnen passiert? Kommen Sie, lassen Sie mich das machen.“ Trotz seines Protests ergriff Bonnie energisch den Wischlappen und bedeutete John, sich auf den kleinen Hocker zu setzen.

„Nun erzählen Sie.“, befahl sie. Verlegen erklärte John, wie es zu der Verletzung gekommen war.

„Sie Ärmster“, meinte sie, als er geendet hatte. „Mit Bran ist nicht zu spaßen. Ich kann mich noch erinnern, wie er vor einigen Jahren hierher kam. Damals hatte er kaum den Babyflaum abgelegt, aber er hat es innerhalb eines Tages geschafft, sich in der Rabentruppe als Gangleader zu etablieren. Haben Sie starke Schmerzen?“

„Ich habe das Gefühl, dass die Hand momentan mehr weh tut als gleich zu Beginn. Vielleicht nehme ich doch eine von Doc Hunters Schmerztabletten.“

„Sie sollten sich besser hinlegen.“

„Nein, es geht schon.“, wehrte John ab. „Ich möchte heute noch in den Club und mit Sid über den Abend des Mordes reden.“

„Oh, da komme ich mit. Nach so einem Tag kann ich einen kleinen Absacker gut gebrauchen.“ Mit einem Blick in Johns Gesicht beeilte sich Bonnie, hinzuzufügen, „Natürlich nur, wenn Sie möchten.“ John rang sich ein Lächeln ab.

„Selbstverständlich, Bonnie, ich freue mich über charmante Begleitung. Wie wäre es, wenn wir uns um halb sieben im Club treffen? Ich möchte erst mal raus aus der Uniform.“

„Gern, dann sehe ich im Büro noch schnell nach dem Rechten. Heute ist meine ganze Arbeit liegen geblieben.“

In seiner Wohnung schluckte John erst einmal eine Schmerztablette. Als er seine Uniform auszog, entfuhren ihm einige Flüche. Jede Bewegung der verletzten Hand schmerzte mittlerweile höllisch. Er streifte sich gerade mühselig einen dicken Wollpullover über den Kopf, als das Telefon klingelte. Mit dem widerspenstigen Kleidungsstück kämpfend, hastete er aus dem Schlafzimmer und schlug unvermeidlich heftig mit dem Ellbogen am Garderobenschrank an. Als er schließlich den Hörer hochriss, hörte er nur noch das Freizeichen. Er knirschte mit den Zähnen. Dann legte er den Hörer, den er in diesem Moment gern gegen die Wand geworfen hätte, betont sanft hin und griff nach Jacke und Schirm.

Durch den wieder einsetzenden Regen trottete er missmutig zum Club. Als er eintrat, saß Bonnie bereits mit einem Martini an der Bar und lächelte ihm zu. Sid, der Barmann, zog bei seinem Anblick theatralisch die Augenbrauen in die Höhe.

„Mackenzie, welch seltener Gast in dieser Hütte. Was führt dich denn hierher?“ John ließ sich auf einen Barhocker fallen.

„Sid, es war einfach mal wieder überfällig, dass ich im Club hereinschaue.“ Er zwinkerte dem Barmann zu. „Und so reizende Gesellschaft wie unsere Bonnie hier schafft es sogar, mich an diesem scheußlichen Abend aus dem Haus zu locken.“

„Was darf ich dir bringen?“

„Einen Tee bitte.“

In gespieltem Entsetzen sah der Barmann ihn an.

„Du kommst hier herein und willst einen Tee von mir? Mann, ich habe siebzehn verschiedene Sorten Ale auf der Karte und einen ganzen Keller voll feinster Whiskys und du verlangst so ein Krankengesöff?“

John hob seine Hand und hielt Sid den dicken Verband vor die Nase. „Ich habe gerade eine Schmerztablette genommen, also fallen deine zweifellos überragenden hochprozentigen Angebote leider flach. Also bring mir schon einen Tee.“

Unvermutet hatte die Verletzung doch einen Vorteil, ging es John mit einem Anflug von Galgenhumor durch den Kopf. Er machte aus seiner Abneigung gegen Alkohol kein Hehl, fand es aber zuweilen ermüdend, sich dafür immer wieder rechtfertigen zu müssen.

Sid gab sich geschlagen und kramte in einer Schublade nach einem Teebeutel. John beschloss, darüber hinwegzusehen, dass dieser aussah, als hätte er dort seit Queen Victorias Zeiten sein Dasein gefristet. Bonnie hatte das Gespräch amüsiert verfolgt.

„Das passiert nicht oft, dass jemand etwas Antialkoholisches verlangt, was? Ich wette, die werten Herren Politiker, die letzte Woche hier waren, haben deine Sammlung von Single Malts durchaus zu schätzen gewusst.“

Beeindruckt von ihrer Geistesgegenwart warf John ihr einen schnellen Seitenblick zu. Sid setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf und beugte sich vertraulich zu ihnen herüber.

„Ich sage nur so viel: Die Herrschaften haben es weidlich genossen, sich auf Richards Kosten durch einige meiner besten Flaschen zu probieren.“ Er zwinkerte vielsagend. John rührte zwei Stück Zucker in das schmutzig braune Gebräu, das Sid vor ihn gestellt hatte.

„Dann hoffen wir, dass sich der Abend für Richard auch gelohnt hat.“

„Oh, das glaube ich auf jeden Fall. Richard hat ja ein sehr gewinnendes Wesen und er ist jung und dynamisch. So einen kann die Partei gut gebrauchen. Und sein Manager ist ein Profi, das merkt man sofort. Immer alles im Blick, gut organisiert, und er kann Richard geschickt in Szene setzen. Ich sage euch, die beiden sind ein gutes Team und werden es noch weit bringen – oder vielmehr hätten sie es noch weit gebracht, wenn George jetzt nicht mitten im Wahlkampf verhaftet worden wäre. Tragisch, so was.“ Der Barkeeper schüttelte betrübt den Kopf.

„Ich kann mir vorstellen, dass die Verhaftung seines Vaters Richards Erfolg gefährden könnte. Auch wenn ich mir partout nicht vorstellen kann, dass George wirklich schuldig sein soll.“, warf John ein.

„Eigentlich ist das für mich auch undenkbar. Aber er war wirklich ein wenig seltsam an jenem Abend. Die meisten Leute hätten es nicht gemerkt, aber als Barkeeper bekommt man ein besonderes Gespür für die Menschen, das könnt ihr mir glauben.“

„Das glaube ich gern, Sid. Du bist einfach ein guter Menschenkenner.“ Unter Bonnies bewundernden Blicken plusterte der so Gelobte sich ein wenig auf und fuhr fort.

„Von dem Moment an, als er den Club betreten hat, war George angespannt. Er hat zwar mit seinen ganzen alten Anekdoten die Gäste sehr gut unterhalten, aber trotzdem war er anders als sonst, als wäre er mit dem Kopf woanders. Ich hatte ja die ollen Kamellen schon tausendfach gehört, daher war ich froh, als George dann endlich mit der Gruppe zur Schlüsselzeremonie ging. Richard und sein Manager haben die Zeit genutzt, um irgendwelche Telefonate von ihren Handys aus zu führen, also hatte ich Gelegenheit, schnell ins Lager zu verschwinden, um eine zu rauchen. Als die Gruppe kurz nach zweiundzwanzig Uhr zurückkam, entschuldigte sich George für ein paar Minuten – “, Sid rieb sich vielsagend über den Bauch, „und nach seiner Rückkehr ging es weiter mit dem Geschichten erzählen. Die Gäste haben sich bestens amüsiert. Wie gesagt, es wäre ein sehr erfolgreicher Abend gewesen, wenn nicht der Mord dazwischengekommen wäre.“

Um halb drei Uhr morgens wälzte John sich schlaflos herum. Die Wirkung des Schmerzmittels hatte nachgelassen und in seiner linken Hand tobte es. Das Klingeln in seinen Ohren hatte ein wenig nachgelassen, dennoch empfand er es in der Stille der Nacht als Qual.

Nachdem er wohl ein Dutzend Mal auf die Uhr gesehen hatte, gab er auf und warf die Bettdecke beiseite. Im Morgenmantel schlurfte er in sein Wohnzimmer und öffnete den Schrank, in dem er seine CDs aufbewahrte. Er wählte eine Sammlung von gälischen Instrumentalstücken aus, die er von einer Reise in die schottischen Highlands mitgebracht hatte. Etwas wehmütig ging ihm durch den Kopf, dass wohl fünfundzwanzig Jahre vergangen waren, seit er mit seinem Vater zuletzt dessen alte Heimat besucht hatte.

Die jahrhundertealten Gebäude des Towers sorgten mit ihren dicken Mauern für beste Schallisolierung, daher konnte John die Lautstärke so weit heraufdrehen, dass das Geräusch in seinem Kopf übertönt wurde. Er griff nach der Packung mit den starken Schmerzmitteln, die der Doc ihm mitgegeben hatte, und ließ sich auf das Sofa fallen. Der Blick auf den Beipackzettel wirkte abschreckend. Ob er das Risiko von Nierenversagen, Magenblutungen und unaussprechlichen Syndromen, von denen er noch nie gehört hatte, auf sich nehmen sollte? Unentschlossen wog er das Päckchen in der Hand und legte es dann wieder weg. Seine Gedanken wanderten zurück zum gestrigen Tag. Es erschien ihm unvorstellbar, dass Georges Verhaftung noch keine vierundzwanzig Stunden zurücklag.

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ sich von den Klangwellen überspülen. Die melancholischen Melodien ließen vor seinem Auge weite, menschenleere Landschaften erstehen. Tiefgrüne Hügel und gemächlich dahinfließende Flüsse vor einem unendlichen Horizont. Seine Züge entspannten sich. Er schlief endlich ein.

Am nächsten Morgen war er pünktlich auf, um den Raben ihr Frühstück zu servieren und sie in einen zwar eiskalten, aber wolkenlos herandämmernden Morgen zu entlassen. Wie sie ihm gestern Abend noch versprochen hatte, stand Bonnie bereit, um ihn zum Markt zu bringen. Danach wollte sie Edwina Dunders ablösen und tagsüber bei Marcia Campbell bleiben.

Routiniert und zügig lenkte sie ihren Wagen durch den morgendlichen Verkehr.

„Wie geht es Ihnen heute Morgen, John?“, fragte sie teilnahmsvoll.

„Schon etwas besser, danke. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, mich zu fahren.“

„Keine Ursache. Mit Ihrer Hand hätten Sie das heute nicht geschafft.“ Sie manövrierte geschickt in eine enge Parklücke.

John hatte eine exakte Liste erstellt, welche Zutaten er für die Fütterungen der nächsten Tage benötigen würde, nur um festzustellen, dass Joe Cavanaugh, der Besitzer von Cavanaughs Fleisch und Geflügel – frisch auf den Tisch genau wusste, was er brauchte. Der Fleischer lachte über Johns verblüfftes Gesicht.

„Mann, ich habe seit Jahrzehnten das Privileg, das Fleisch und die Eier für die königlichen Raben zu liefern, ebenso wie mein Vater vor mir. Ich kenne mich aus. Und heute gebe ich Ihnen noch einen besonderen Leckerbissen mit.“ Er überreichte John ein längliches Paket, das in braunes Papier eingeschlagen war. „Ein Hase, den habe ich gestern selbst geschossen. Den legen Sie den Vögeln so hin, wie er ist, mit Fell und allem. Sie werden sehen, was die Kerlchen für eine Freude daran haben. Manchmal brauchen die das einfach, das frische Fleisch direkt von den Knochen herunterzufetzen, so wie draußen in der Natur.“ Eingedenk seiner gestrigen Erfahrung konnte John nur zustimmend nicken. Dann wurde der Fleischer ernst.

„Eine Schande ist das mit George. Unsere Polizei ist wirklich noch dümmer, als ich immer geglaubt habe. Wie können die Bullen nur darauf kommen, er hätte diesen Mord begangen?“ Er zog eine Zeitung hinter der Theke heraus.

„Königlicher Rabenpfleger unter Mordverdacht“ – unter der riesigen Schlagzeile prangte ein Archivbild von George, wie er in seiner Beefeater–Uniform vor dem Rabenhaus posierte.

„Und in diesen Schundblättern wird sein Ruf jetzt natürlich in den Dreck gezogen. Junger Mann, ich sage Ihnen, ich kenne George Campbell jetzt seit über zehn Jahren – der Mann ist kein Mörder.“ Erbost warf er die Zeitung hin.

Auf dem Rückweg überflog John den Artikel im Daily Mirror, den Cavanaugh ihnen überlassen hatte. Dann ließ er die Zeitung verwirrt sinken.

„Bis auf die üblichen wilden Spekulationen über Mädchenhändlerringe und Drogenkartelle blablabla steht hier überhaupt nichts drin. Nicht einmal die Sache mit Georges Fingerabdrücken auf dem Rucksack von Julia Feldmann wird erwähnt. Offensichtlich weiß die Presse lediglich, dass George verhaftet wurde, aber nicht, warum. Ich frage mich, weshalb…“ Nachdenklich knetete er seine Unterlippe.

„Aber auch dieser substanzlose Schrott wird von Hunderttausenden gelesen und beschädigt George und seine ganze Familie.“ Frustriert ballte er die Hände zu Fäusten und zuckte gleich darauf vor Schmerz zusammen.

„Wenn wir nur irgendwas tun könnten! Aber so lange sich George weigert, mit seinem Anwalt oder Mullins zu reden, stochern wir nur im Nebel herum.“

„Machen Sie sich keinen Vorwurf. Sie und Chief Mullins tun doch wirklich Ihr Möglichstes. Haben Sie aus unserem Gespräch mit Sid etwas Neues erfahren?“

John seufzte. „Leider nein. Was er gesagt hat, bestätigt die Darstellung von Nigel Owen bis ins Detail. Hm. Ich würde gerne auch mit Marcia und Richard sprechen. Denken Sie, Marcia ist wieder stabil genug, dass ich ihr einige Fragen stellen könnte?“ Bonnie überlegte und schüttelte dann den Kopf.

„Ihr Arzt hat ausdrücklich gesagt, wir sollen sie in Ruhe lassen, da sie immer noch sehr angeschlagen ist. Aber ein Gespräch mit Richard könnte klappen: Ich bin sicher, dass er im Verlauf des Tages herkommt, um seine Mutter zu besuchen. Wie wäre es, wenn ich Sie benachrichtige, sobald er da ist?“

„Eine hervorragende Idee, Bonnie. Der Doc hat mich für heute vom Dienst befreien lassen, also erreichen Sie mich in meiner Wohnung oder im Rabenhaus.“

Bonnie sah ihn belustigt an. „Haben Sie denn immer noch kein Mobiltelefon?“

„Doch. Meine Schwester hat mir eines geschenkt, aber ich kann mich noch nicht daran gewöhnen, es immer bei mir zu tragen. Meistens liegt es irgendwo in der Wohnung oder der Akku ist leer. Ich hasse diese Dinger. Bei der Army musste ich Tag und Nacht eines bei mir tragen, um für Notfälle erreichbar zu sein. Sie können sich vorstellen, dass es kaum einmal etwas Gutes bedeutet hat, wenn es dann geklingelt hat. Seit ich den Dienst quittiert habe, genieße ich den Luxus, nicht mehr überall und immer erreichbar zu sein.“

Bonnie nickte. „Das kann ich verstehen. Ich selbst habe mich daran gewöhnt, immer eins bei mir zu tragen, seit ich vor Jahren auf einer Landstraße einen Platten hatte und kein Mensch weit und breit war. In solchen Situationen kann es doch recht hilfreich sein.“

„Sie haben recht. Genau so argumentiert meine Schwester auch immer. Ich werde versuchen, das Ding in Zukunft öfter einzustecken.“

John schnitt gerade den Fleischvorrat klein, als das Telefon im Rabenhaus klingelte. In der Erwartung, Bonnie wäre dran, hob er ab. Stattdessen meldete sich Chief Mullins.

„Mackenzie, Lagebericht.“, bellte er kurz angebunden in den Hörer.

„Sir, ich habe mich gestern noch mit Sid unterhalten, allerdings nichts Neues herausgefunden. Im Laufe des Tages werde ich noch versuchen, mit Richard zu sprechen.“

„Tun Sie das. Ich bin im Yard, falls es etwas Neues gibt. Sir Fitzgerald ist gerade bei George. Ich hoffe, dass ich dann endlich auch ein Gespräch mit ihm führen kann. Ah, da kommt Sir Fitzgerald ja. Wir hören uns, Mackenzie.“ Damit legte er auf. Wenige Minuten später klingelte es erneut.

Erst einmal drang ein Schwall von Schimpfwörtern aus dem Hörer.

„Das hört sich an, als wollte George immer noch nicht mit Ihnen reden“, warf John ein, als Mullins die Luft ausging.

Wieder ein paar phantasievolle Flüche.

„Guter Gott, was sollen wir denn noch tun? Sir Fitzgerald hat mir gerade gedroht, er würde sein Mandat niederlegen, wenn George weiterhin nicht mit ihm spricht. Dieser Mann treibt mich noch zur Raserei, Mackenzie. Er schaufelt sich sein eigenes Grab, wenn er so weitermacht. Und diese Ar..“ John hörte eine Stimme im Hintergrund murmeln, dann sprach Mullins wieder, diesmal leiser. „Ist ja gut, Fitz, ich beruhige mich ja. Also die geschätzten Kollegen dieser Eliteeinheit der britischen Polizei weigern sich ebenfalls, uns irgendwelche Informationen zu geben. Ihr vermaledeiter Cousin hat uns sogar nahegelegt, wir möchten doch nach Hause gehen und die Spezialisten – Spezialisten! – nicht in ihrer Ermittlungsarbeit behindern.“ Wieder Murmeln im Hintergrund. Dann knurrte Mullins. „Ich komme jetzt zurück in den Tower. Hier richte ich heute doch nichts mehr aus. Ich will Sie mittags in meinem Büro sehen, Mackenzie. Over and out.”

John verstaute das Fleisch im Kühlschrank, wusch sich die Hände und ging zurück in seine Wohnung. Es gab nur eine Person, die ihnen jetzt weiterhelfen konnte.


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