Kapitel 6

Eine Stunde später hatte er eine Tabelle, in der er methodisch alles, was er erfahren hatte, aufgeführt hatte. Bis auf Ellinor Burns, Rachel Armstrong und Marcia Campbell waren letzten Dienstag alle Frauen von neunzehn bis zweiundzwanzig Uhr bei dem Treffen gewesen, ebenso George Denham.

Die Gruppe hatte gerade begonnen, aufzuräumen und alle Materialien zu verstauen, als einer der Beefeater, die an der Suche nach der vermissten Studentin beteiligt gewesen waren, in den Raum geplatzt war und alle mit der schrecklichen Nachricht schockiert hatte.

Ebenso wie die Gruppe um Richard Campbell waren sie gebeten worden, bis zur Befragung durch die Polizei an Ort und Stelle zu bleiben. Die Handarbeitsgruppe hatte eine ganze Weile warten müssen, war aber dann von den Ermittlern nach kurzer Befragung entlassen worden.

John starrte nachdenklich auf seine Aufzeichnungen. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, dass jemand den Raum für kurze Zeit hätte verlassen können, ohne Mrs. Dunders mit ihren Argusaugen aufzufallen? Da die Cafeteria im Innenhof des Towers und damit nicht weit vom Verrätertor entfernt lag, wären wenige Minuten ausreichend gewesen. Seine vorsichtige Frage, ob die fleißigen Helfer denn keine Pause bei ihren Treffen einlegen würden, hatte Edwina entschieden verneint.

„Gerade jetzt müssen wir jede Minute nutzen, wenn wir rechtzeitig zum Basar fertig werden wollen. Außerdem gestatte ich grundsätzlich keine Unterbrechungen, um etwa zum Rauchen nach draußen zu gehen.“, hatte sie bekräftigt. Zudem führten unmittelbar von dem Nebenzimmer Türen zum Toilettenbereich. Dank Edwinas eisernem Regiment war John sich daher ziemlich sicher, dass er die fünfundzwanzig Frauen und George Denham von der Liste der Verdächtigen streichen konnte.

Triumphierend trug er in eine Spalte seiner Tabelle neben deren Namen jeweils ein X ein. Auch die Frau des Pastors und Mrs. Hunter, die Frau des Arztes, waren dabei. John druckte die verbleibende Liste aus und überlegte, wo er weitermachen sollte. In der Stille seiner Wohnung vernahm er ein leises, aber durchdringendes Pfeifen. Nun wusste er, wen er als nächstes aufsuchen würde: Doc Hunter.

Glücklicherweise war kein anderer Patient in der kleinen Praxis. So hatte der Doktor Zeit, sich mit John zu unterhalten, nachdem er ihn an eine weitere Infusion angeschlossen hatte.

„Nun, Mackenzie, ich hoffe, Sie lassen es nun ruhig angehen und erholen sich gut?“

„Danke, Doc, es geht mir schon viel besser. Heute habe ich gemütlich mit Edwina Dunders Tee getrunken. Ihre Frau engagiert sich auch bei der Handarbeitsgruppe, wie ich gehört habe.“, lenkte John geistesgegenwärtig das Gespräch auf das Thema, das ihn interessierte. Der Doktor lächelte verschmitzt.

„Jaja, das ist wirklich eine gute Sache. Vor allem für uns geplagte Männer. So haben wir immerhin einen freien Abend pro Woche.“ John grinste zurück.

„Und wie nutzen Sie Ihren freien Abend, Doc? Sehen Sie sich auch Fußball an?“

„Aber nein“, wehrte Hunter ab. Dann zog er ein Päckchen Karten aus seiner Schreibtischschublade. „Poker, Mackenzie, Poker! Es gibt nichts Anregenderes.“ Er rieb sich die Hände.

„Am Dienstag habe ich unserem guten Pastor zwei Pfund abgeluchst. Hah, den hätten Sie fluchen hören sollen.“

„Unser Pastor pokert?“

„Natürlich, warum nicht? So lange er nicht den Inhalt des Klingelbeutels verspielt.“ Hunter lachte dröhnend. „Ein paar von uns alten Kämpen nutzen die Zeit, in der unsere Frauen beschäftigt sind für ein paar Spielchen. Wir treffen uns hier bei mir, trinken einen gepflegten Whisky, schmauchen die eine oder andere Zigarre und zocken drei Stunden lang. Für mich das Highlight der Woche, sage ich Ihnen.“

Wieder zurück in seiner Wohnung strich John vier weitere Namen von seiner Liste; außer dem Arzt und dem Pastor noch zwei seiner älteren Kollegen, die auch letzten Dienstag bei der Pokerrunde gewesen waren. Nun umfasste die Liste noch sechsundzwanzig Beefeater, die drei Frauen, die nicht beim Treffen der Handarbeitsgruppe gewesen waren und Richard Campbell mit seinen Gästen.

Zufrieden klappte John sein Notebook zu. Zu seinem Erstaunen bemerkte er, dass er trotz Edwinas zahlreichen Leckereien allmählich Hunger bekam. Nach all den süßen Sachen verspürte er Appetit auf etwas Herzhaftes. Mit einem Blick in den Kühlschrank beschloss er, sich aus allerlei Resten ein Omelett zu braten. Gerade hatte er alle Zutaten bereitgelegt, als das Telefon klingelte.

Mit einem unwilligen Stöhnen griff er zum Hörer – und hörte eine tönende Stimme, die seit Jahrzehnten nicht nur über die Versammlungen des örtlichen Gartenbauvereins regierte.

„John, mein Liebling, wie geht es dir?“

„Hallo, Mum – “ Weiter kam er nicht.

„Du hättest wirklich einmal anrufen können. Stattdessen mussten wir von diesem schrecklichen Mord direkt vor deiner Haustür aus der Zeitung erfahren. Wie gut, dass Simon die Ermittlungen führt. Bestimmt wird er den Mörder finden, bevor dieses Monster euch alle abschlachtet.“

John schnitt eine Grimasse.

„Ich glaube nicht, dass wir in Gefahr sind, Mum. Mach dir keine Sorgen. Ist bei dir und Dad alles in Ordnung?“ Als Emmeline Mackenzie daraufhin anhob, ihren Sohn auf den neuesten Stand der Ereignisse in seinem Heimatort Kew zu bringen, wusste John, dass dies ein längeres Telefonat werden würde. Er schaltete die Freisprecheinrichtung ein und machte sich ans Werk.

Während er Zwiebeln, Paprika und Champignons hackte, dazu etwas Käse und Schinken würfelte und sich schließlich ein riesiges Omelett briet, schwatzte seine Mutter unaufhörlich. Johns Gesprächsbeitrag beschränkte sich auf ein gelegentliches Brummen.

Aus Erfahrung wusste er, dass Emmelines Konversation von drei Themen beherrscht wurde, die er in Variationen immer wieder zu hören bekam: Zuerst einmal die ganz und gar außergewöhnlichen Fähigkeiten ihres jüngsten Enkels Christopher, des bisher einzigen Sohnes von Johns jüngerem Bruder David, der mit seinen zwei Jahren seine Großmutter mit allem, was er tat, in höchstes Entzücken versetzte. Als nächstes folgte in der Regel ihr Lamento, dass John es als einziges ihrer Kinder bisher versäumt hatte, Nachwuchs in die Welt zu setzen. John rollte mit den Augen, während er sein Omelett auf einen Teller bugsierte. Schließlich berichtete seine Mutter wie immer noch in epischer Breite von den Aktivitäten ihres Vereins. Als sie ihm in allen Einzelheiten erklärte, warum ihre Dauerrivalin Jane Argyll bei der letzten Gartenschau des Jahres vollkommen zu Unrecht die blaue Schärpe für den schönsten Kürbis bekommen hätte, beschloss John, sich lieber auf sein Essen zu konzentrieren und auf Durchzug zu schalten. Genussvoll schob er gerade die letzte Gabel in den Mund, als ihm die plötzliche Stille bewusst wurde.

„Äh, Mum? Tut mir leid, ich hatte gerade den Faden verloren.“ Er hörte seine Mutter ungeduldig seufzen.

„Ich hatte dich gerade gefragt, ob du für die Damen der Red Hat Society eine Sonderführung im Tower machen könntest.“

„Red Hat Society? Was ist das denn?“

„Wenn du mir zugehört hättest, hättest du diese dümmliche Frage nicht zu stellen brauchen, John. Ich habe mich dieser Vereinigung für Frauen über fünfzig vor kurzem angeschlossen. Das ist zur Abwechslung einmal kein Wohltätigkeitsverein, sondern wir treffen uns einfach gelegentlich, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Wir werden auch bei der Neujahrsparade in London in einem alten Bus mitfahren. Und wie immer werden wir dann unsere Vereinskleidung, lila Gewänder und rote Hüte, tragen.“

Vor Johns innerem Auge formte sich ein Bild seiner Mutter, deren Kleidung, so lange er denken konnte, hauptsächlich aus robusten Tweedkostümen in gedeckten Farben und strapazierfähigen Schuhen bestanden hatte. Und nun wollte sie sich auf einmal in ein lila Gewand hüllen! Mit einem roten Hut! Alarmiert fragte er, „Geht’s dir gut, Mum? Das klingt doch recht … ungewöhnlich.“

Emmeline lachte herzhaft. „Keine Sorge, John. Ich möchte nur meinen Horizont etwas erweitern, das ist alles. Du musst nicht gleich denken, dass ich als nächstes den Hells Angels beitrete. Was ist nun mit der Führung?“

„Natürlich können wir das machen, Mum. Ich werde dich und deine neuen Freundinnen persönlich herumführen. Sag´ mir einfach, wann ihr kommen wollt.“

Als er das Gespräch beendet hatte, nicht ohne noch einmal zu versprechen, dass er die Weihnachtstage in seinem Elternhaus verbringen würde, stützte er den Kopf erschöpft auf seinen Händen auf. Für heute konnte er keine weiteren Aufregungen vertragen. Er stellte das Geschirr in die Spüle, legte sich mit einem Buch auf das Sofa und schlief nach einer halben Seite prompt ein.

„John, darf ich dich um einen Gefallen bitten?“ Die aufgeregte Stimme des Ravenmasters drang früh am nächsten Morgen aus dem Telefonhörer.

„Richard wollte mich heute Vormittag zu einem Augenarzttermin und danach zum Smithfield Market bringen. Nun hat er gerade angerufen, dass er kurzfristig doch keine Zeit hat. Würdest du…“

„Das ist doch selbstverständlich, George. Natürlich fahre ich dich. Wann treffen wir uns in der Garage?“ Den Beefeatern standen für ihre Autos Plätze in einer nahen Tiefgarage zur Verfügung. John selbst besaß keinen Wagen. Während der Jahre bei der Armee hatte er keinen benötigt und seit er wieder in England war, schob er einen Autokauf beharrlich vor sich her. Maggie, die eine Schwäche für importierte Sportwagen hatte, konnte dies überhaupt nicht verstehen.

„Es gibt doch nichts Schöneres, als mit offenem Verdeck, den Wind im Haar, über eine idyllische Landstraße zu kreuzen, John. Du solltest dich endlich nach einem schicken Wagen umsehen.“

Ihr Bruder, der das englische Wetter für wenig cabriotauglich hielt und der als Beifahrer seiner Schwester schon oft ein imaginäres Bremspedal betätigt hatte, blieb jedoch stur.

Der Ravenmaster hatte einen geräumigen alten Wagen, in dem er das Futter für die Raben transportierte. Seit Jahrhunderten wurden die Raben mit frischem Fleisch gefüttert, das im Smithfield Market gekauft wurde.

Auf der Fahrt zum Arzt saß der Ravenmaster ungewohnt still neben seinem Freund. John, dem nach all den Jahren, in denen er kaum selbst gefahren war, die Übung fehlte, war vollauf damit beschäftigt, das Auto heil durch den morgendlichen Großstadtverkehr zu steuern. Als sie die Praxis erreicht hatten, schnaufte er erleichtert auf.

Nach weniger als einer halben Stunde kam George Campbell wieder zum Auto zurückgetrottet, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht. John musterte ihn besorgt.

„Stimmt was nicht, George?“ George wandte sich ihm mit von der Untersuchung noch geweiteten Pupillen zu und verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln.

„Nein, nein. Heute war ein reiner Routinetermin. Ich lasse meine Augen jedes Jahr von Dr. Arkwright durchchecken. Es ist alles in Ordnung. Und jetzt fahren wir zum Markt.“ John sah seinen alten Freund forschend an. Der aber starrte mit eigensinnigem Gesichtsausdruck nach vorne. Schweigend ließ John den Motor an.

Nachdem sie das Auto mit ihren Markteinkäufen vollgepackt hatten, begann Campbell unvermittelt, „Die BBC hat Richard um ein Interview gebeten. Deshalb hatte er heute Vormittag keine Zeit. Ich hoffe wirklich, diese Sache im Tower wird seinen Wahlkampf nicht überschatten.“ John schloss die Kofferraumtür und lehnte sich gegen den Wagen.

„Du machst dir Sorgen um Richard…“ Er ließ den Satz in der Luft hängen. George sah ihn zum ersten Mal an und John war erschrocken, wie viel Verzweiflung in seinem Gesicht lag.

„John, du kennst doch unsere Presse. Für die ist dieser Mord ein gefundenes Fressen. Und Richard war nur einen Steinwurf vom Tatort entfernt. Wer weiß, was diese Sensationsreporter ihm da noch alles andichten werden, sobald das durchsickert.“

John wusste nur zu gut um die Macht der Medien und konnte Georges Ängste verstehen. Er nickte ernst.

„Das Wichtigste ist, dass der Fall schnell gelöst und der Täter gefunden wird. Es sind noch etliche Monate bis zu den Wahlen. Bis dahin ist die Geschichte sicher vergessen – vorausgesetzt, Richard hat nichts damit zu tun.“

Campbell fuhr hoch. „Wie kannst du so etwas nur sagen! Natürlich ist mein Sohn in keiner Weise in diese schreckliche Sache verwickelt. Er hat diese Frau noch nie in seinem Leben gesehen. Das hat er mir heute am Telefon selbst gesagt.“ Georges Stimme überschlug sich fast bei den letzten Worten. Röte stieg in seine faltigen Wangen. Abrupt drehte er sich um, stieg in den Wagen und knallte die Tür hinter sich zu. Nun klingelten bei John endgültig alle Alarmglocken. Noch nie hatte er den Ravenmaster so erlebt.

Er stieg ebenfalls ein, ließ den Motor aber nicht an.

„George, es tut mir leid. Natürlich wollte ich Richard in keiner Weise verdächtigen…“ Campbell schnitt ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. „Lass mich auf dem Heimweg bitte an der Royal Bank of Scotland aussteigen. Ich habe da noch etwas zu erledigen.“

Schweigend fuhren sie zurück. Als John vor der imposanten Glasfassade der Bank anhielt, hielt er Campbell, der hastig hinaus wollte, am Ärmel zurück.

„George, man muss kein Psychologe sein, um zu merken, dass dir etwas auf der Seele liegt. Falls du reden möchtest – ich bin da.“ Einen Moment lang schien der Ältere zu schwanken, doch dann öffnete er die Wagentür und stieg schwerfällig aus.

„Es gibt nichts zu reden, John. Danke, dass du mich gefahren hast. Ich gehe dann das letzte Stück nach Hause zu Fuß.“ Als er sich abwandte, war es John, als läge ein feuchtes Schimmern in seinen Augen.

Er sah seinem Freund nach, wie er die Bank betrat und auf einen Schalterbeamten zuging. Dann traute er seinen Augen nicht: George zog eine dicke Rolle Pfundnoten aus einer Innentasche seiner Jacke und reichte sie zusammen mit einem Sparbuch über den Tresen. Was hatte das zu bedeuten? Warum trug George eine solche Menge Bargeld mit sich herum?

Wenn George merkt, dass ich hier immer noch sitze und ihn beobachte, denkt er sicher, ich spioniere ihm nach, ging es ihm durch den Kopf und er fuhr eilig los.

In Gedanken immer noch beim merkwürdigen Verhalten seines Freundes, verfranste er sich nach kürzester Zeit im System der Einbahnstraßen. Erst nach über einer halben Stunde und etlichen für ihn untypischen Flüchen erreichte er wieder die Parkgarage. Mit neu bestärkter Entschlossenheit, auf ein eigenes Auto zu verzichten, steuerte er mit langen Schritten auf einen Seiteneingang des Towers zu, den ausschließlich die Bewohner des Towers benutzten.

Dort empfing ihn eine ganze Schar von Reportern, die Kameras auf ihn richteten und ihm Mikrofone unter die Nase hielten. Sie bombardierten ihn mit Fragen. John zog den Kopf ein, setzte ein Lächeln auf und schlängelte sich durch die Meute. Als er einen seiner Kollegen passierte, der mit Hilfe einiger Beamter der Metropolitan Police das Tor bewachte, seufzte der gequält auf.

„Seit gestern geht das schon so. Diese Typen sind wie die Geier. Hoffentlich wird dieser Fall bald gelöst und die Belagerung hier hört auf.“ John stimmte ihm aus vollem Herzen zu und machte sich sogleich zum Büro von Chief Mullins auf.


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