Kapitel 7

„Herein, herein, Mackenzie. Was haben Sie Neues herausgefunden?“, empfing der Kommandant ihn. John zog die Tabelle aus der Tasche, in die er seine bisherigen Erkenntnisse eingetragen hatte.

„Beeindruckend. Sie gehen sehr methodisch vor.“, lobte Mullins.

„Danke, Sir. Aber auch, wenn ich schon feststellen konnte, dass eine ganze Reihe von Leuten mit dem Mord nichts zu tun haben können, ist noch viel zu tun. Es sind noch sechsundzwanzig unserer Männer, drei Frauen und die Besuchergruppe mit Richard Campbell zu überprüfen.“

„Hm, dann lassen Sie mal sehen…“ Stirnrunzelnd starrte Mullins auf die Auflistung. Dann ging er zur Tür, riss sie auf und gab Bonnie Sedgwick den Auftrag, die Wachbücher des Towers zu besorgen. Während sie warteten, fiel ihm ein, „Ach ja, Conners hat unsere Daten über die Besucher der Schlüsselzeremonie überprüft. Keiner von denen, die an dem fraglichen Abend da waren, hatte die Zeremonie vorher schon einmal miterlebt. Wir erfassen alle Angaben der Besucher seit rund fünfzehn Jahren im Computer, daher ging die Überprüfung recht schnell. Ich denke nicht, dass es einen Sinn macht, auch noch die Listen zu durchwühlen, die aus den Jahren davor noch existieren. Das wäre ein ungeheurer Aufwand.“ John stimmte ihm zu.

Als die Aufzeichnungen des diensthabenden Offiziers auf seinem Tisch lagen, deutete Mullins triumphierend auf die Seite vom vergangenen Dienstag. „Da, sehen Sie. Anstruther: 21.53 Uhr, Morgan: 21.54 Uhr. Ihre beiden Wachkollegen der fraglichen Nacht waren also bereits vor ihrem Dienstbeginn um 22.00 Uhr und damit zum Zeitpunkt der Tat bei Dunders im zentralen Wachhaus. Damit können wir wieder drei Männer von unserer Liste streichen.“

Zufrieden lehnte er sich in seinem Stuhl zurück.

„Gott sei Dank ist Dunders ein besonders pedantischer Offizier, der wirklich über alles Buch führt.“ Grinsend deutete auf einen weiteren Eintrag: Mackenzie: 22.00 Uhr (Ermahnung betreffs Kleiderordnung!).

„Meine Mütze saß schief.“, gestand John unter dem Gelächter seines Kommandanten. „Du liebe Güte, Dunders ist tatsächlich penibel. Aber immerhin können wir ihn, Anstruther und Morgan nun streichen. Andernfalls müssten alle drei zusammen unter einer Decke stecken und das halte ich für sehr unwahrscheinlich.“

Mullins nickte zustimmend und strich die drei Namen aus. Dann rieb er sich unternehmungslustig die Hände. „Gut, gut. Wo machen wir weiter?“

„Was ist mit den beiden Posten, die zusammen mit der Militärgarde die Kronjuwelen bewachen sollten? Ist es möglich, dass einer von ihnen seinen Platz zwischendurch verlassen hat? Ich hatte dort noch keinen Wachdienst und kenne daher die Gegebenheiten nicht.“ Mullins schüttelte entschieden den Kopf.

„Die Wachleute haben ihren Platz innerhalb des Hochsicherheitstrakts im Waterloo Block, also direkt in den Räumen, wo wir die Juwelen ausstellen. Dort erfassen unsere Kameras jeden Winkel und es wird automatisch aufgezeichnet, sobald sich die Tür zu dem Trakt öffnet. Nachdem ich unsere Aufzeichnungen vom Mordabend studiert habe, halte ich es für ausgeschlossen, dass jemand dort seinen Posten verlassen hat.“

Er sah in den Wachaufzeichnungen nach, stellte fest, wer dort Dienst gehabt hatte und strich sichtlich zufrieden zwei weitere Namen von der Liste.

„Wir kommen gut voran, Mackenzie. Dennoch bleiben noch einundzwanzig Mann übrig.“ John nickte.

„Adams im Byward Tower hatte allein Dienst. Da es keine Möglichkeit gibt, seine dauernde Anwesenheit in der Wachstube zu überprüfen, habe ich bei ihm ein Fragezeichen notiert. Auch über unsere Männer, die sich das Fußballspiel angesehen haben, konnte ich noch nichts Näheres herausfinden.“

„Aber natürlich, ich habe mir auch die erste Hälfte angesehen, bevor ich mich für die Schlüsselzeremonie vorbereitet habe. Arsenal gegen Manchester, ein absolutes Spitzenspiel. Allerdings war vorher schon klar, dass Arsenal ohne Dunnegan keine Chance haben würde, nicht wahr?“

Chief Mullins bemerkte Johns leicht verwirrten Blick.

„Interessieren Sie sich etwa nicht für Fußball, Mackenzie? Kommen Sie doch nächsten Dienstag auch vorbei. Was meinen Sie, wofür ich extra den Großbildschirm beim Schatzamt beantragt habe?“

Erstaunt sah John ihn an.

„Das Schatzamt hat uns für die Übertragung von Fußballspielen mit diesem High-Tech-Gerät ausgerüstet?“

Der Chief lachte schallend los.

„Manchmal sind Sie wirklich bemerkenswert naiv, Mackenzie. Selbstverständlich ist der Bildschirm ein unverzichtbarer Bestandteil unserer sicherheitsrelevanten Schulungen. Das habe ich diesen Sesselfurzern im Schatzamt klar gemacht und schon hatten wir unseren schönen Fernseher. Aber lassen wir das.“

Er sah John scharf an. „Sie haben also tatsächlich kein Interesse am Fußball? Hm….. Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber wo waren Sie eigentlich letzten Dienstagabend, bevor Sie Dienst hatten?“

„Im Museum. Die Tate Gallery für Moderne Kunst hatte abends lange geöffnet.“

„Moderne Kunst, was? Nun ja, ich kann dem Zeug ja nichts abgewinnen. Aber jedem das Seine. Kommen wir zurück zu unseren Ermittlungen.“

Das war John sehr recht.

„Sir, können Sie sich erinnern, wer von unseren Leuten an dem Abend da war?“

Mullins knetete nachdenklich seine Unterlippe und schüttelte dann den Kopf.

„Es waren während der ersten Halbzeit sicher fast alle da. Aber ich musste ja gegen halb zehn gehen und daher wissen wir für den fraglichen Zeitraum nichts. Als ich den Raum verließ, hatte gerade die Halbzeitpause begonnen. Da gehen viele vor die Tür, um zu rauchen. Falls jemand zur zweiten Halbzeit nicht zurückkam, oder später für ein paar Minuten hinausgegangen ist, wäre das wohl kaum jemandem aufgefallen, vor allem da das Spiel beim Stand von Vier zu Eins ohnehin schon entschieden war.“

Die beiden Männer sahen sich enttäuscht an.

„Nun gut, hier kommen wir momentan nicht weiter.“, stellte John schließlich fest. „Sehen wir uns die anderen an. Da wären noch die drei Frauen, die nicht bei der Handarbeitsgruppe waren.“

„Mrs. Burns und Mrs. Armstrong können wir vergessen. Beiden geht es gar nicht gut, sie könnten in ihrem gesundheitlichen Zustand mit Sicherheit keine junge Frau erwürgen. Marcia Campbell…“

Er verstummte. Gespannt wartete John darauf, dass Mullins weitersprach. „Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt aber unter uns, Mackenzie.“ John lächelte den Kommandanten milde an.

„Sir, in meinem Beruf wird einem Verschwiegenheit zur zweiten Natur.“

„Ach ja, natürlich. Ihr Seelenklempner seid ja wie Ärzte.“ Dann erhellte sich Mullins´ Gesicht. „Was ich Ihnen erzählen will, fällt sowieso in Ihr Fachgebiet. Also, Marcia…“ Der Chief stand auf, ging zum Fenster und starrte in den Hof hinaus.

„Als die Campbells vor gut zwanzig Jahren hierher kamen – damals war ich selbst noch nicht hier – war Richard gerade ein Teenager. Er war ein schwieriges Kind, eigensinnig und wild. Er hat grundsätzlich nur das getan, was ihm Spaß machte. Regeln waren für ihn da, um gebrochen zu werden. Auch hier hat er sich einige grobe Schnitzer geleistet. George war es immer unsagbar peinlich, wenn der Junge wieder unangenehm auffiel. Marcia aber stärkte Richard immer den Rücken und verteidigte ihn vehement. Er war – und ist – ihr Goldstück, sie hat seine Fehler und Schwächen noch nie erkennen wollen. Auch wenn er Schäden anrichtete, bezahlte sie immer klaglos alles. So bekam der Junge kaum einmal die Konsequenzen seines Tuns zu spüren.“

Mullins drehte sich wieder um und lehnte sich an die Fensterbank.

„Irgendwann wurde klar, dass Richard die Schule auf diese Art und Weise nicht schaffen würde, da ihm alles andere wichtiger war als das Lernen. Da ließ sich Marcia endlich vom damaligen Kommandanten und von George davon überzeugen, ihn in ein Internat zu stecken, das für seine Strenge berühmt ist. Obwohl der Anfang natürlich schwierig war, war diese Entscheidung für den Jungen ein Gottesgeschenk. Nur die Erziehung dort hat ihm ermöglicht, sich zu dem Mann zu entwickeln, der er jetzt ist.“

Nun umspielte ein amüsiertes Lächeln sein Gesicht.

„Als Politiker vertritt Richard ja erzkonservative Werte und er ist ein ausgeprägter Law and Order-Typ. Manchmal frage ich mich, ob er sich wirklich so grundlegend geändert hat im Vergleich zu seinen jungen Jahren oder ob er nur einfach die Parolen von sich gibt, von denen er sich den größten Anklang bei den Wählern erhofft.“

John nickte.

„Na, wie dem auch sei. Ich wollte Ihnen ja eigentlich von Marcia erzählen. Als Richard ins Internat kam, war es, als hätte man ihr ihren ganzen Lebensinhalt weggenommen. George hat mir erzählt, dass sie viel weinte und ihm auch immer wieder Vorwürfe machte, er hätte ihr ihren Sohn weggenommen. Dabei war sie ja einverstanden gewesen, dass Richard ins Internat geschickt wurde. In den folgenden Monaten wurde sie immer gleichgültiger gegenüber ihrem Alltag und auch gegen George. Schließlich hatte sie nicht einmal mehr die Kraft, morgens aufzustehen und blieb den ganzen Tag im Bett. Für George war diese Zeit die Hölle.“

John lehnte sich nach vorn.

„Konnte niemand sie dazu bewegen, zu ihrem Arzt zu gehen? Sie brauchte doch dringend Hilfe in diesem Zustand.“

„Sie hat sich immer geweigert. Aber eines Tages fand George eine große Menge Schlaftabletten im Badschrank und er bekam große Angst, dass sie sich etwas antun könnte. Noch am selben Tag brachte er sie ins St. Bartholomew´s Krankenhaus.“

„Wurde die Diagnose einer Depression gestellt?“

Mullins nickte.

„Sie haben recht. Sie bekam Tabletten und war auch einige Monate lang regelmäßig bei einem Therapeuten. Seither hatte sie gelegentlich schlechte Phasen, aber nie mehr in dem Ausmaß wie damals.“

Mullins setzte sich wieder in seinen Stuhl und sah John eindringlich an.

„Auch wenn Ihnen das vielleicht merkwürdig erscheinen mag: Marcia schämt sich bis heute für ihre „Schwäche“, wie sie das sieht, und möchte unter keinen Umständen, dass Außenstehende davon erfahren. Sie hat sich sogar geweigert, sich von Doc Hunter betreuen zu lassen und sich lieber außerhalb einen Arzt gesucht.“

„Ich kann das sehr gut verstehen. Marcia stammt noch aus einer Generation, in der der Gedanke einer psychischen Erkrankung von weiten Kreisen nicht akzeptiert wurde. Männer wie Frauen hatten zu „funktionieren“ und wo dies nicht der Fall war, war schnell die Angst da, als meschugge abgestempelt zu werden.“ Nachdenklich strich John sich übers Kinn.

„Leidet Marcia tatsächlich unter Migräne? Oder liefert ihr diese nur den Vorwand, sich zurückzuziehen, wenn wieder einmal eine „schlechte Phase“ kommt?“

Chief Mullins hob anerkennend eine Augenbraue.

„Richtig. Nach außen hin bemühen sich George und Marcia gerade jetzt ganz besonders darum, eine makellose Fassade zu präsentieren. Sie bemühen sich, alles nur Menschenmögliche zu tun, um ihren Sohn bei seiner politischen Karriere zu unterstützen. Bereits früher hat Marcia die Migräne vorgeschoben und nach meiner Einschätzung könnte sie das auch am Mordabend getan haben. Wie Sie ja wissen, hatte Richard wichtige Parteifreunde eingeladen. Falls Marcia sich nicht in der Lage fühlte, ihre Rolle als perfekte Kandidaten-Mutter zu spielen, könnte die Migräne eine willkommene Entschuldigung dafür gewesen sein, dass sie bei dem Treffen im Club nicht dabei sein konnte.“

Mullins verstummte. John wusste, dass es dem Chief sehr schwer gefallen war, ihn ins Vertrauen zu ziehen, da es um die Frau eines seiner ältesten Freunde ging. Diese Offenheit rechnete er ihm hoch an.

Er zog die Liste der Verdächtigen heran und beide starrten einige Minuten lang schweigend darauf. Als es klopfte, schreckten sie hoch.

„Sir, Sie hatten mich gebeten, Sie an Ihre Verabredung mit Mr. Donahue um 12.00 Uhr zu erinnern.“ Bonnie zeigte freundlich lächelnd auf die Wanduhr über dem Schreibtisch.

„Halb zwölf schon! Ich muss los, Mackenzie.“ Sie gingen gemeinsam ins Vorzimmer hinaus. Dort warf Chief Mullins einen Blick in seinen Terminkalender.

„So ein Mist! Morgen früh muss ich zu einer wichtigen Konferenz nach Canterbury fahren. Ich komme erst am Montagabend wieder zurück. Mackenzie, wenn es etwas Dringendes gibt, wenden Sie sich an Bonnie, sie weiß, wie ich zu erreichen bin. Ansonsten sehen wir uns in vier Tagen. Bleiben Sie dran.“ Damit war er zur Tür hinaus.

John folgte ihm langsam. Im fahlen Dezembersonnenschein lenkte er seine Schritte beinahe unbewusst durch den Hauptausgang hinaus. Die wenigen Presseleute, die dort standen, hielten ihn offensichtlich für einen Touristen und ließen ihn unbehelligt passieren.

Ziellos schlenderte er die Promenade entlang bis zur Tower Bridge. Dort warb ein Zeitungsverkäufer lautstark um Kundschaft: „Tower-Mord: War die Tote eine deutsche Spionin? Warum musste sie ausgerechnet am Verrätertor sterben? Hier erfahren Sie alle Neuigkeiten zu Großbritanniens spektakulärstem Verbrechen des Jahrhunderts!“

Wider Willen musste John grinsen. Die Boulevardpresse überbot sich wie üblich gegenseitig in wilden Spekulationen. Aber vielleicht konnten die Zeitungen ja auch nützliche Informationen über die Ermittlungen der Polizei liefern. Der Superintendent hatte seine Drohung, John erneut vernehmen zu wollen, bisher nicht wahr gemacht und auch Chief Mullins erfuhr zu seinem Ärger nichts von Seiten der Metropolitan Police.

Er kramte etwas Kleingeld heraus, kaufte eine Times und einen Daily Mirror und ließ sich auf einer Sitzbank am Ufer nieder. Nachdem er jede Zeile studiert hatte, die sich mit dem Fall beschäftigte, lehnte er sich halb enttäuscht, halb schadenfroh zurück.

Scotland Yard hatte in diesem Aufsehen erregenden Fall absolute Nachrichtensperre verhängt, „um die Ermittlungen nicht zu gefährden“. Daher hatten die Reporter aus den dürren Fakten, die man ihnen mitgeteilt hatte, phantasievolle Geschichten voller Andeutungen gesponnen und die Seiten mit Fotos des Towers und des Studentenwohnheimes der Toten gefüllt. Richard Campbells Name wurde zu Johns Erstaunen nicht erwähnt. Die Information über die Anwesenheit des Jungpolitikers am Abend des Mordes im Tower war offensichtlich noch nicht nach draußen gedrungen.

Die einzig neue Information für John war, dass Miss Feldmann seit acht Monaten an der London School of Economics studiert hatte. Ein Universitätsmitarbeiter, der ungenannt bleiben wollte, hatte sie als ruhig und überdurchschnittlich fleißig geschildert.

So, wie John seinen publicitysüchtigen Cousin kannte, hätte Superintendent Whittington der Öffentlichkeit nur zu gern eine heiße Spur präsentiert. Daher ging er davon aus, dass Scotland Yard derzeit genauso ratlos war wie er selbst.

Zurück in seiner Wohnung nahm er sich abermals die Liste vor. Auch wenn sie immer noch über zwanzig Namen von Towerbewohnern umfasste, ertappte er sich dabei, wie sein Blick immer wieder bei George Campbell und dessen Frau hängen blieb. Er wurde das nagende Gefühl nicht los, dass einer von ihnen oder ihr Sohn irgendetwas mit dieser Geschichte zu tun hatte. Aber nein, sein Freund George konnte unmöglich in einen kaltblütigen Mord verwickelt sein. Oder doch?

Frustriert schob er seinen Stuhl zurück und beschloss, sich bei Doc Hunter das Okay für seine Dienstaufnahme zu holen. Er fühlte sich wieder fast vollkommen fit. Momentan war er ohnehin ratlos, wo er mit seinen Nachforschungen weitermachen sollte. Morgen Abend, bei Richards Wahlkampfveranstaltung, hoffte er auf die Gelegenheit, den drei Campbells weiter auf den Zahn fühlen zu können.


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