Am nächsten Morgen prasselte Regen gegen die Fensterscheiben. Mit Schrecken fiel John ein, dass er heute Vormittag für die Betreuung einer fünften Klasse der Richmond Grammar School, einer renommierten Mädchenschule in einem westlichen Vorort Londons, zuständig war.
„Im Rahmen des Geschichtsunterrichts sollen die Schülerinnen umfassende Kenntnisse über den Tower of London als nationales britisches Wahrzeichen erlangen.“, hatte ihm die Direktorin Ms. Grover bei einem Telefonat vor einigen Wochen mitgeteilt.
„Für den Aufenthalt im Tower sind zwei Stunden vorgesehen. In dieser Zeit erwarte ich einen kindgerechten Abriss über die Kulturgeschichte des Towers und die politische Rolle, die er in der Entwicklung unserer Nation gespielt hat.“
Die abschließende Bemerkung, sie werde die Mädchen persönlich auf dieser Exkursion begleiten, hatte in Johns Ohren ein wenig bedrohlich geklungen.
Eigentlich hatte John die letzten Tage dafür nutzen wollen, diese Spezialführung vorzubereiten, dieses Vorhaben angesichts der Ereignisse aber vollkommen vergessen.
So war ihm etwas bang zumute, als er Punkt zehn Uhr rund zwei Dutzend in graue Schuluniformen und dicke Winterjacken gekleidete Mädchen am Byward Tower in Empfang nahm. Die rothaarige, jugendlich wirkende Frau, die sie begleitete, passte in keiner Weise zu dem Bild, das er sich von Ms. Grover gemacht hatte. Als die Frau sich ihm als Ms. Murray, die Geschichtslehrerin der Unterstufe, vorstellte, schüttelte er ihr erleichtert die Hand.
„Willkommen im Tower. Mein Name ist John Mackenzie. Ihre Direktorin hatte nun doch keine Zeit, die Klasse zu begleiten?“
„Sie bedauert dies sehr. Sie legt üblicherweise großen Wert darauf, die Kinder zu diesem jährlichen Ausflug in die City zu begleiten. Nur leider hatte sie am Wochenende einen Sturz und hat sich den Fuß verstaucht – “
„Äh, Verzeihung, Ms. Murray?“ Verlegen stand ein rotbackiges Mädchen mit beschlagener Brille vor ihnen.
„Ja, Tiffany?“
„Ich muss aufs Klo.“
Wie im Chor erklang aus der Masse der Schülerinnen, „Ich auch“.
„Dann bringe ich euch jetzt erstmal zu den Toiletten und dann legen wir los.“, wandte John sich an die Mädchen. Durch den strömenden Regen trabte er mit der Lehrerin die Water Lane hinauf, die Mädchen wild durcheinander schwatzend im Schlepptau.
„Iih, meine Haare werden ja ganz nass!“
„Wow, Mädels, das ist das Verrätertor, hier muss die Leiche gelegen haben.“
„Meine Schuhe sind schon ganz durchgeweicht!“
„Gut, dass wir die alte Schabracke heute nicht dabei haben.“
„Wie findest du den? Er erinnert mich an den Typen mit dem Rentierpulli aus Bridget Jones. Ganz süß irgendwie.“
Vielstimmiges Kichern. John, dem plötzlich bewusst wurde, dass die Mädchen von ihm sprachen, spürte seine Ohren heiß werden. Ms. Murray, die wie alle Lehrer gelernt hatte, ihre Augen und Ohren überall zu haben, lächelte John im Laufen entschuldigend zu, was die Sache für diesen noch peinlicher machte.
Endlich hatten sie die große Toilettenanlage hinter dem Club der Beefeater erreicht und die Schülerinnen stürzten hinein. Ms. Murray blieb mit John im Vorraum und setzte sich auf ein Fensterbrett.
„Das dauert jetzt.“, meinte sie leise seufzend und lockerte ihren Schal. John, dem unter seinem dicken Umhang mit dem königlichen Emblem heiß wurde, zog ihn von den Schultern und nahm die nasse Mütze ab.
„Wie alt sind die Mädchen? Elf, zwölf?“
„Ja. In dem Alter sind sie so wahnsinnig unterschiedlich in ihrer Entwicklung. Manche spielen noch mit ihren Puppen und sind sehr kindlich, andere benehmen sich schon wie richtige Teenager und haben auch dementsprechende Interessen. Dazu kommt noch, dass unsere Schülerinnen aus sehr unterschiedlichen Elternhäusern kommen. Viele stammen aus Familien, die sich das teure Schulgeld leisten können. Andere, aus einkommensschwächeren Schichten, haben den Weg an unsere Schule durch ein Stipendium für sehr gute schulische Leistungen geschafft, so wie die kleine Tiffany. In unseren Eingangsklassen ist es oft Schwerstarbeit, aus so einem bunten Haufen so etwas wie eine Klassengemeinschaft zu formen.“
John nickte und sah dann auf die Uhr.
„Wenn ich Ms. Grover richtig verstanden habe, werden Sie um zwölf Uhr wieder abgeholt? Für einen kompletten historischen und kulturgeschichtlichen Überblick bleibt uns da nicht viel Zeit…“
Zu seinem Erstaunen lachte die Lehrerin vergnügt.
„Ach, Mr. Mackenzie, machen Sie sich da mal keine Gedanken. Ms. Grover hat sich als Schulleiterin auf die Fahnen geschrieben, stets höchsten Bildungsansprüchen gerecht zu werden. Dieses Ziel verfolgen wir an der Richmond Grammar School natürlich mit Ausdauer und Begeisterung.“
Sie lächelte verschwörerisch. „Trotzdem muss ich im Hinterkopf behalten, dass wir nach dem Tower heute noch eine Führung durch Westminster Abbey haben werden. Die Menge an Daten und Fakten, die die Kinder an einem Tag aufnehmen können, ist nun einmal begrenzt. Außerdem schwirrt in ihren Köpfen natürlich auch diese Mordgeschichte herum, die ja alle Schlagzeilen bestimmt.“
„Ich hatte schon erwartet, dass die Kinder dazu Fragen stellen werden.“
„Ms. Grover hat der Klasse nachdrücklich klargemacht, dass Sensationslust völlig unangebracht ist. Ich hoffe, dass die Mädchen dies beherzigen. Sollten sie doch etwas darüber wissen wollen, sagen Sie am besten, es wäre Ihnen nicht erlaubt, darüber zu reden.“
John nickte erleichtert und Ms. Murray fuhr fort. „Ich denke, wenn Sie die Mädchen heute für einige Facetten des Lebens im Tower interessieren können, haben wir viel erreicht. – Angela, Deirdre! Kommt mal hier herüber, bitte.“
Gerade waren zwei der Mädchen in den Vorraum getreten. Etwas widerwillig näherten sich die beiden.
„Ihr habt euch geschminkt. Das verstößt gegen unsere Schulregeln, wie ihr genau wisst. Also ab in den Waschraum und weg mit dem Zeug.“ Trotz des bestimmten Tons ihrer Lehrerin wagten die Mädchen es, zu protestieren.
„Aber Ms. Murray, heute ist doch kein Unterricht und der alte Drachen bekommt es auch gar nicht mit….“
„Angela, Schluss damit. Erstens ist der Tag heute sehr wohl zum Lernen da und zweitens sprichst du nicht in diesem Ton über unsere Direktorin. Ich will jetzt kein Wort mehr hören.“
Angelas Augen funkelten wütend, doch sie drehte sich schließlich um und steuerte mit ihrer Freundin wieder auf den Waschraum zu.
„Mann, die wird auch immer zickiger seit ihrer Scheidung.“
„Dabei würde es in ihrem Alter auch nicht schaden, wenn sie sich mal etwas zurechtmachen würde.“
Die giftigen Bemerkungen der Schülerinnen waren unüberhörbar. Nun war es an Ms. Murray, verlegen zu erröten.
„Also wirklich, ich muss mich für das Benehmen der Mädchen entschuldigen…“
„Ach was. Wir selbst sind in dem Alter wahrscheinlich auch eine Zumutung für alle anderen gewesen. Ich bewundere wirklich alle Eltern und Lehrer, die damit Tag für Tag zurechtkommen müssen und ihr Bestes tun, den Kindern auf ihrem Weg zum Erwachsensein beizustehen.“
Gott, ich klinge wie ein pompöser Saftsack, bemerkte John und er räusperte sich. Doch Ms. Murray lächelte ihm dankbar zu – und sie hatte wirklich ein ganz reizendes Lächeln, wie John bei sich feststellte – und machte sich dann ebenfalls in den Waschraum auf, um den noch fehlenden Mädchen ein wenig Beine zu machen.
Bis alle bereit standen, hatte John den Entschluss gefasst, mit den Mädchen zuerst in den mittelalterlichen Palast zu gehen. Dieser war nur wenige Schritte entfernt und konnte mit seinen detailgenauen Nachbildungen einen lebendigen Einblick ins höfische Leben des dreizehnten Jahrhunderts geben. Er zeigte ihnen den Empfangsraum Edwards I und sein prächtig ausgestattetes Schlafgemach.
Für Edward, der sich den Beinamen „Hammer der Schotten“ durch blutige Schlachten gegen das freiheitsliebende Volk im Norden verdient hatte, hatte John insgeheim wenig übrig. Er stellte sich vor dem königlichen Bett in Positur.
„Obwohl der König während seiner über dreißigjährigen Regentschaft nur dreiundfünfzig Tage hier im Tower verbrachte, wurde an nichts gespart, um es ihm so bequem wie möglich zu machen. Die edelsten Stoffe und Hölzer wurden für die Einrichtung verwendet. Seine Kerzen wurden aus farbigem Wachs gezogen, was für die damalige Zeit ein ungeheurer Luxus war. Durch den großen offenen Kamin hatte er es schön warm und er verfügte auch noch über etwas ganz Besonderes –“ Damit zog John schwungvoll den schweren Vorhang beiseite, der eine Wandnische verdeckte.
„Was ist das?“
Die Mädchen drängten heran, um einen Blick zu erhaschen. In der Nische führte eine gepflasterte Stufe zu einem halbhohen, weiß gekalkten Mäuerchen, das oben von einem dunklen, glänzend polierten Brett abgedeckt war, in dessen Mitte ein rundes Loch prangte. Ausnahmsweise stumm sahen die Schülerinnen ihn erwartungsvoll an.
„Das ist des Königs Privattoilette, mit direktem Abfluss in die Themse, eine sehr moderne Errungenschaft für eine mittelalterliche Festung.“ Den angeekelten Blicken nach zu urteilen, sorgte diese Einrichtung bei den jungen Damen für wenig Begeisterung. John beeilte sich, die Gruppe weiter in Richtung der Räume von Heinrich III zu führen. In einem Durchgang erregte ein Gemälde das Interesse der Mädchen. „Der grüne Affe“ von George Stubbs brachte etwas Farbe in den ansonsten düsteren gemauerten Gang.
„Wieso hängt hier ein Affenbild?“
„Weil der Maler, George Stubbs, es im achtzehnten Jahrhundert hier im Tower nach einem lebenden Modell gemalt hat. Bis dahin hatte man in England so gut wie noch nie einen Affen gesehen.“
„Hier im Tower gab es Affen?“ Nun waren die Mädchen ganz Ohr. „Es gab Nashörner, Kamele und Bären in unseren Mauern. Soll ich euch ein bisschen von dem königlichen Zoo erzählen?“ Auch wenn einige der Schülerinnen gelangweilt dreinschauten, die Mehrheit nickte begeistert.
„Die Tierhaltung im Tower begann just mit Heinrich III, dem Vater Edwards. Der bekam 1235 von einem anderen König drei Löwen geschenkt. Natürlich wussten die Menschen hier nicht, wie die Tiere zu halten und zu füttern waren, deshalb überlebten die Raubkatzen nicht lange. Ein paar Jahre später wurde Heinrich III ein Eisbär zum Geschenk gemacht und dann sogar ein Elefant. Als der Elefant zu Fuß das letzte Stück seiner langen Reise aus Afrika hier in London zu Fuß zurücklegte, liefen Leute von nah und fern zusammen, so eine große Sensation war das. Immer mehr exotische Tiere fanden hier ihre Heimat, unter anderem ein Grizzlybär, Zebras, Tiger, Strauße, Hyänen, Geier, Schlangen und ein Stachelschwein.
Im siebzehnten Jahrhundert wurde auf dem Gelände der Festung der heute nicht mehr erhaltene Lion Tower gebaut, in dessen Hof die Raubkatzen Auslauf bekamen. Gegen ein Eintrittsgeld konnte jedermann die Tiere besichtigen, so wie heute im Zoo.
Als vor rund zweihundert Jahren große Zirkusunternehmen begannen, durch das Land zu reisen und ebenfalls exotische Tiere zur Schau zu stellen, wollten immer weniger Leute die Tiere im Tower sehen und so wurden sie 1835 dem neu eröffneten Zoo von London geschenkt. Heute haben wir nur noch eine Tierart, die im Tower lebt. Ihr wisst sicher, was für Tiere ich meine.“
„Die Raben“, scholl es ihm aus etlichen Kehlen entgegen. John lächelte.
„Genau. Seit Hunderten von Jahren leben Raben im Tower. Laut königlichem Dekret sollen es immer mindestens sechs sein. Nach den schlimmen Jahren des zweiten Weltkrieges war nur einer mit Namen Grip übrig geblieben, aber es gab seit dem siebzehnten Jahrhundert nie eine Zeit, in der gar kein Rabe hier lebte. Momentan haben wir neun.“
„Warum fliegen sie nicht weg?“
„Ihre Flügel werden gestutzt. Das tut ihnen nicht weh und sie können durchaus kurz in der Luft bleiben, aber sie können keine weiteren Strecken zurücklegen. Allerdings ist ein Rabe Anfang der achtziger Jahre durch eine legendäre Flucht berühmt geworden. Angeblich wurde Grog zuletzt bei einem Pub in der Stadt gesehen. Er brauchte wohl mal etwas Abwechslung zum Leben hier in unseren Mauern.“ Die Mädchen bestürmten ihn noch mit einer Reihe weiterer Fragen und schließlich waren sie sogar bereit, sich in den Regen hinauszuwagen, um Ausschau nach den Vögeln zu halten.
John zeigte ihnen die Voliere am Wakefield Tower und ging dann mit ihnen zum Tower Green. Er wusste, dass Gworran sich dort gerne aufhielt und in einem Vogelbecken planschte. Tatsächlich stapfte der Rabe im Nieselregen herum und kam bereitwillig angehüpft, als John nach ihm rief. Als er seinen Kopf schief legte, als würde er Johns Worten lauschen, zogen einige der Mädchen entzückt ihre Kameras heraus.
„Darf ich ein Foto von Ihnen und dem Raben machen?“
„Mr. Beefeater, gibt es Souvenirs von den Raben im Tower zu kaufen?“ John sah ratsuchend zu Ms. Murray hinüber. Die Uhr von St. Peter ad Vincula schlug Viertel vor zwölf.
„Also gut, Mädchen. Die letzte Viertelstunde dürft ihr noch für Fotos und Andenkenkäufe verwenden.“ Ins Triumphgeheul der Klasse hinein erklärte John, dass der größte Souvenirladen des Towers sich in der Water Lane befand.
„Da sind wir vorhin schon vorbeigekommen, ich weiß, wo das ist. Oh bitte, Ms. Murray, dürfen wir schon los?“
„Na gut, lauft, ich komme gleich nach…“ Sie hatte noch nicht ausgeredet, als ein Großteil der Mädchen schon davonstob. Eine Handvoll von ihnen blieb noch einen Moment, um Fotos von John und Gworran zu schießen, bevor sie sich ebenfalls Richtung Souvenirladen trollten. Zurück blieb Tiffany.
„Ach, Ms. Murray, würden Sie ein Foto von mir mit dem Beefeater machen?“
„Natürlich. Möchtest du den White Tower im Hintergrund haben?“ Nachdem die Lehrerin das Foto geschossen hatte, reichte sie dem Mädchen die Kamera zurück.
„Und jetzt noch eins von Ihnen und dem Mann.“
„Du möchtest ein Foto von mir und Mr. Mackenzie? Na, warum nicht.“ Ms. Murray stellte sich neben John und beide lächelten in die Kamera.
„So, jetzt aber los, Tiffany. Wir müssen nach deinen Klassenkameradinnen sehen, die wahrscheinlich schon den ganzen Laden geplündert haben.“ Zu dritt schritten sie über den Innenhof des Towers und durch das Tor im Bloody Tower hinaus in die Water Lane.
„Ich muss den Kaufrausch der jungen Damen bremsen, in ein paar Minuten wartet der Bus auf uns.“ Energisch betrat Ms. Murray das große Geschäft und klatschte in die Hände.
„Kinder, geht jetzt bitte zur Kasse, wir wollen unseren Busfahrer nicht warten lassen.“ In Panik sah Tiffany zu John auf, der vor dem Laden wartete, um die Gruppe hinauszubegleiten.
„Ich wollte doch noch einen Plüschraben kaufen. Könnten Sie mir bitte schnell zeigen, wo ich die finde? Ich bin sowieso schon wieder die Letzte.“ Bei ihrem flehentlichen Blick hätte wohl niemand Nein sagen können. Also geleitete John sie durch das Geschäft direkt zu dem Regal, auf dem Raben in allen Größen ausgestellt waren.
Während Tiffany einen nach dem anderen in die Hand nahm und sich offensichtlich nicht entscheiden konnte, ließ John den Blick über den großen Raum schweifen, in dem Ms. Murray sich bemühte, die verstreuten Schülerinnen in Richtung Ausgang zu bewegen.
Angela, das Gesicht nun wieder frei von Wimperntusche und Lidschatten, steuerte mit einem zuckersüßen Lächeln auf John zu, Deirdre im Schlepptau.
„Sehen Sie mal, ich habe Anhänger für den Weihnachtsbaum gekauft. Einer davon sieht wie ein Beefeater aus.“
„Sehr schön“, brummte John. Die beiden drückten sich an John und Tiffany vorbei und gingen zur Kasse.
„Tiffany, ich glaube, du musst dich jetzt entscheiden. Die Zeit wird knapp.“ Endlich griff das Mädchen nach einem mittelgroßen Plüschtier mit leuchtend gelbem Schnabel.
„Der kostet 9.99 Pfund und ich habe zehn Pfund dabei“, strahlte sie ihn an.
„Okay, dann los.“ Sanft schob John die Kleine vor sich her. Hinter der Kasse wartete Ms. Murray, die ihm einen dankbaren Blick schenkte.
„Sie ist wirklich sehr anhänglich, nicht wahr?“, murmelte sie John zu, während Tiffany ihren Geldbeutel herauskramte.
„Schon in Ordnung. Wir nennen das individuelle Besucherbetreuung.“, raunte er zurück. Zu dritt gingen sie zum Ausgang. Als sie die Tür passierten, heulte die Diebstahlssicherung los. Eine der Verkäuferinnen kam angelaufen.
„Ich muss Sie bitten, Ihre Taschen zu öffnen.“ Draußen schaute die Klasse mit großen Augen, als Tiffany und die beiden Erwachsenen wieder in das Geschäft zurückgingen und in einen rückwärtigen Raum geführt wurden.
„Bestimmt ist an der Kasse aus Versehen ein Sicherungsetikett nicht von der Ware genommen worden, das passiert manchmal.“, äußerte die Verkäuferin beruhigend. „Bitte lassen Sie mich Ihre Einkäufe sehen.“ Ms. Murray zog ein Set Weihnachtskarten mit Motiven des Towers aus ihrer Tüte, dazu einen Waschhandschuh in Form eines Beefeaters.
„Den bekommt meine Nichte, ist der nicht süß?“ John grinste.
„Und nun du, junge Dame. Öffne bitte deinen Rucksack.“ Tiffany nestelte am Verschluss ihres Rucksacks.
„Sie hat einen Plüschraben gekauft, ich war dabei.“, erklärte John der Verkäuferin. Tiffany holte den Raben heraus.
„Mhm.“ Kritisch beäugte die Dame den Raben und griff dann nach dem Rucksack. Sie schritt damit eilig zur Ausgangstür und schwenkte ihn vor der Diebstahlssicherung hin und her. Wieder heulte die Anlage los.
„Tut mir leid, da muss noch etwas drin sein.“ Mit einem Griff war der Rucksack umgedreht und heraus fiel eine Brotzeitbox, eine Trinkflasche, der kleine Fotoapparat, der Geldbeutel – und ein Kühlschrankmagnet mit der Silhouette der Tower Bridge darauf. Entgeistert starrte Tiffany auf das kleine Ding.
Mit hochrotem Kopf stammelte sie, „Ich… ich hab… ich hab das nicht genommen, ehrlich.“ Die Verkäuferin aber sah das Mädchen streng an.
„Junge Dame, in Diebstahlsfällen verlangen wir von den Tätern fünfzig Pfund und wir leiten die Sache an die Polizei weiter. Von letzterem können wir in deinem Fall wohl absehen, dennoch müssen wir zumindest deine Eltern verständigen.“ Nun brach eine Sturzflut von Tränen hervor.
„Nein, nein, ich war das nicht, das müssen Sie mir glauben. So ein blöder Magnet interessiert mich doch gar nicht. Ich wollte nur den Raben.“, schluchzte das Mädchen. John, der die ganze Angelegenheit still verfolgt hatte, mischte sich nun ein.
„Mrs. Durrell, einen Moment bitte.“ Er kannte die Frau vom Sehen.
„Tiffany, würdest du dich bitte einen Moment da hinsetzen?“ Er bedeutete der Lehrerin, die geschockt dastand und Mrs. Durrell, mit ihm ein paar Schritte beiseite zu treten. Leise sagte er, „Ich glaube dem Mädchen. Ich bin ihr die ganze Zeit auf Schritt und Tritt gefolgt. Wir sind vom Eingang direkt zu den Raben gegangen und sind dort, wo die Magnete liegen, gar nicht vorbeigekommen.“
„Wir haben aber auch an der Kasse einige liegen, mit eben diesem Motiv.“, wandte die Verkäuferin ein. Nun ergriff auch Ms. Murray das Wort.
„Dort hatten sowohl Mr. Mackenzie wie auch ich das Mädchen im Auge. Da kann sie den Magneten nicht genommen haben. Aber wie kommt er dann in ihren Rucksack?“ Ratlos sah sie John an.
„Hm. Vielleicht hat ihn ihr jemand anders unbeobachtet hineingesteckt…“ Plötzlich dämmerte ihm etwas und er verließ hastig den Raum. Erstaunt sahen die Frauen ihm nach. In der Water Lane standen die Mädchen und tuschelten aufgeregt.
„Angela, Deirdre. Bitte kommt kurz hier herüber.“, sagte er ruhig. Nach einem kurzen Blickwechsel folgten die beiden ihm. Außer Hörweite der anderen blieb John stehen und sah die Mädchen mit eisigem Blick an.
„Ich weiß, dass ihr Tiffany den Magneten in die Tasche geschmuggelt habt, als wir vor dem Regal mit den Raben standen. Clever, Angela, wie du mich abgelenkt hast, während Deirdre den Magneten in den Rucksack fallen ließ. Nun sagt mir nur noch, warum.“ Entsetzt sahen die beiden sich an, dann sprudelte es aus Deirdre heraus.
„Es war Angelas Idee. Sie wollte es Tiffany heimzahlen, weil die sie nie die Hausaufgaben abschreiben lässt.“
„Von wegen meine Idee! Du kannst die miese Streberin doch auch nicht ausstehen.“, zischte Angela zurück. „Das Miststück hatte es verdient, endlich mal was auf die Mütze zu kriegen. Mit ihrem ganzen blöden Gerede Nein, Angela, das wäre aber Unterschleif, das geht doch nicht“, äffte das Mädchen Tiffany gehässig nach. „Als ob irgend jemanden die Scheiß-Regeln interessieren würden.“
John schob die zeternden Schülerinnen mit einem grimmigen Lächeln vor sich her in den Laden.
Alle Mädchen saßen abfahrbereit im Bus. Ms. Murray schüttelte John noch einmal die Hand.
„Ich möchte Ihnen wirklich ganz herzlich danken. Nicht nur für die lebendige und interessante Führung, sondern vor allem – “ Der Busfahrer hupte ungeduldig.
„Ms. Murray, bitte, keine weiteren Dankesworte mehr. Es war mir ein Vergnügen. Und nun wünsche ich Ihnen und den Mädchen noch einen schönen Tag in London.“ Als sie sich abwandte und im Bus verschwand, verspürte John ein leises Bedauern.
Es sollte ihm jedoch keine Zeit bleiben, in Gedanken bei der Lehrerin mit dem reizenden Lächeln zu verweilen. Als er zurück in den Byward Tower trat, überbrachte ihm der diensthabende Beefeater die Anweisung, dass die gesamte Einheit sich nach Schließung des Towers um 17.00 Uhr im Schulungsraum einzufinden hatte.