Müde kehrte John nach der Abendfütterung in seine Wohnung zurück und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. Ein Blick in seinen Kalender zeigte ihm, dass er nur noch wenige Tage Dienst hatte, bevor er für die Weihnachtstage zu seinen Eltern fuhr. Die letzten Wochen hatten an ihm gezehrt. Eine Pause konnte er nun gut gebrauchen. Er zog sich die Stiefel von den Füßen und wackelte mit den kalten Zehen.
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er den Tower vielleicht gar nicht würde verlassen können. Als der Urlaubsplan aufgestellt wurde, war George noch für die Pflege der Raben verantwortlich gewesen. Nun sah es nicht so aus, als würde George rechtzeitig zu Weihnachten wieder heimkehren können. John runzelte die Stirn und nahm sich vor, schnellstmöglich mit Chief Mullins darüber zu sprechen. Da schrillte das Telefon.
„John! Hast du eine Ahnung, wo Renie ist?“ Maggie klang beunruhigt.
„Sie sagte mir heute früh, dass sie sich nach Ende ihres Dienstes heute mit einer Arbeitskollegin auf einen Kaffee treffen wollte.“
„Ich weiß. Aber wir hatten vereinbart, dass wir uns danach, so gegen siebzehn Uhr, bei Harrods treffen, um ein Geschenk für Renies Patentante auszusuchen. Ich habe schon versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber da meldet sich niemand.“
John sah auf die Uhr. „Maggie, es ist erst Viertel nach fünf. So, wie ich Renie kenne, ist sie nicht gerade die Pünktlichkeit in Person, oder?“
„Du hast recht. Aber ich kann mir nicht helfen, ich habe ein ganz komisches Gefühl.“
John fasste einen Entschluss.
„Wo bist du?“
„Vor dem Haupteingang von Harrods.“
„Versuch weiter, Renie am Telefon zu erreichen. Ich mache mich jetzt gleich auf den Weg, also müsste ich in spätestens zwanzig Minuten bei dir sein.“
Wenige Tage vor Weihnachten waren die Straßen ein Chaos. Also entschied John sich gegen ein Taxi und spurtete zur U-Bahn. Die Waggons der District Line platzten aus allen Nähten. Er quetschte sich hinein.
Im Vorweihnachtsstress schienen Johns Landsleute ihre legendäre Höflichkeit vergessen zu haben und es kam zu Schubsereien und ungehaltenen Wortwechseln. John stand in dem überhitzten Waggon voller aneinandergedrängter Leiber der Schweiß auf der Stirn. In South Kensington musste er umsteigen.
„Sehr geehrte Fahrgäste, die Piccadilly Line verkehrt wegen eines Personenschadens nicht auf der Strecke zwischen Covent Garden und Holborn. Für alle Ziele zwischen Holborn und Cockfosters nehmen Sie bitte die Circle und Central Line nach Holborn. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten.“
Dies berührte John ebensowenig wie die meisten seiner Mitfahrer: Knightsbridge mit seinen großen Kaufhäusern schien an diesem Abend das Ziel aller Einwohner Londons zu sein. Als die Station endlich erreicht war, ergoss sich ein Strom von Menschen über die Treppe nach oben. John schob sich durch die Menge und hielt nach Maggie Ausschau. Er konnte sie nicht entdecken. Vielleicht stand sie vor einem der anderen Eingänge.
Lange Minuten verrannen, bis er alle Straßenfronten des riesigen Shoppingparadieses abgegangen war. Er hielt inne, als ihm einfiel, dass er sein Handy in der Manteltasche hatte. Wie meistens war es ausgeschaltet.
Ich Idiot. Bestimmt hat Maggie schon versucht, mich zu erreichen, stöhnte er innerlich.
Tatsächlich klingelte es, kaum dass er das Mobiltelefon eingeschaltet hatte.
„Maggie? Wo bist du?“
„Oh John, endlich. Es ist schrecklich. Die Polizei hat mich angerufen. Sie haben Renie ins St. Bartholomew´s gebracht. Es hat einen Unfall in der U-Bahn gegeben. Ich sitze im Taxi. Bitte komm so schnell wie möglich.“ Mit einem Schluchzer war die Verbindung unterbrochen.
Personenschaden zwischen Covent Garden und Holborn.
Oh Gott. Renie.
Im Rückblick erschien der Weg ins Krankenhaus John wie ein nicht enden wollender Alptraum. Das letzte Stück rannte er, während ihm von dem kreischenden Schrillen in seinen Ohren fast der Kopf platzte. In der Eingangshalle des Hospitals schrie er nur „Notaufnahme“.
Eine Schwester wies ihm die Richtung. Der Warteraum der Notaufnahme war voll, Maggie nicht zu sehen. „Maureen Hughes, sie ist hier eingeliefert worden – können Sie mir sagen, wo sie ist?“, rief er einer streng dreinblickenden Pflegerin hinter der Plexiglasscheibe der Aufnahme zu.
„Sie ist beim Röntgen. Erster Stock.“ Er flog förmlich die Treppe hinauf.
„John, endlich!“ Er nahm seine weinende Schwester in die Arme.
„Maggie, was ist passiert? Was haben die Ärzte gesagt?“
„Sie … ist vor die U-Bahn gefallen. Ein junger Mann hat sie gerettet. Die Ärzte wissen noch nicht genau, was ihr fehlt, aber wenigstens war sie ansprechbar, als sie eingeliefert wurde.“ Mit einem dicken Kloß im Hals strich John ihr über das Haar.
„Mrs. Hughes? Sie können Ihre Tochter jetzt sehen, bevor sie in den OP gebracht wird. Der Doktor wird mit Ihnen sprechen.“ Maggie umklammerte Johns Hand, als sie in ein Sprechzimmer geführt wurden.
„Ich bin Dr. Forsythe, guten Abend, Mrs. Hughes. Und Mr. Hughes?“
„Das ist mein Bruder John Mackenzie, Doktor. Bitte sagen Sie uns, was meiner Tochter fehlt.”, beschwor Maggie den Arzt.
„Ich kann Sie beruhigen, Mrs. Hughes. Der Sturz hätte viel schlimmer ausgehen können. Sie hat schwere Prellungen, eine Gehirnerschütterung und ihr Schienbein ist gebrochen. Da es ein komplizierter Bruch ist, werden wir Ihre Tochter sofort operieren. Sie befindet sich bereits im Vorbereitungsraum, aber Sie dürfen sie noch kurz sehen.“
Maggie brach vor Erleichterung in Tränen aus und John atmete wie befreit durch.
„Kommen Sie bitte. Der Anästhesist möchte sich gleich an die Arbeit machen. Auch der junge Mann, der Ihre Tochter gerettet hat, hat einiges abbekommen und wird ebenfalls heute Abend noch operiert.“ Sie folgten dem Arzt in einen steril aussehenden Raum.
„Mein Kind!“ Maggie stürzte zu ihrer Tochter. Renie öffnete die Augen. Erst einmal irrte ihr Blick orientierungslos hin und her. Dann erkannte sie ihre Mutter. „Mum!“, flüsterte sie. „Sucht … Li.“ Sie driftete für einen Moment weg. Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, strich Maggie ihrer Tochter sanft über den Kopf. Renie öffnete die Augen wieder und strengte sich sichtlich an, etwas zu sagen. Mit einem Blick auf ihren Onkel murmelte sie, „Fotos …. umbringen“
Bevor sie noch etwas sagen konnte, traten zwei Schwestern in grünen OP-Kitteln ein.
„Wir bringen Ihre Tochter jetzt in den OP, Mrs. Hughes. Der Anästhesist möchte noch kurz mit Ihnen sprechen.“
„Ich warte draußen, Maggie.“ John trat hinaus auf den Flur. Trotz der allgegenwärtigen Verbotsschilder zog er sein Handy aus der Tasche und war im Begriff, die Notrufnummer der Polizei zu wählen. Als er Schritte hörte, sah er auf. „Simon! Ich hätte ja nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber ich bin froh, dich zu sehen. Du musst sofort – “
„Das chinesische Mädchen unter Polizeischutz stellen, meinst du? Meine Leute sind bereits unterwegs.“ Er weidete sich an Johns Überraschung. „Oh John, du bildest dir wirklich ein, du wärst Sherlock Holmes und die Londoner Polizei bestünde nur aus Einfaltspinseln. Tatsächlich verdankt Renie ihr Leben einem meiner Überwachungsbeamten. Er stand direkt neben ihr, als sie auf das Gleis gestoßen wurde. Wäre er nicht hinterher gehechtet und hätte sie vor der einfahrenden Bahn weggestoßen, wäre sie jetzt tot.“
Johns Knie wurden weich. Er musste sich setzen. „Simon, ich … weiß nicht, was ich sagen soll. Ich war ein verdammter Trottel. Ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass Renie ernsthaft in Gefahr kommen könnte. Ich – “ Er schluckte mühsam und richtete sich dann auf. „Simon, ich danke dir aus tiefstem Herzen.“ Er streckte seinem Cousin die Hand hin.
Dieser stutzte und schüttelte sie dann. „Nun ja, immerhin habt ihr durch eure Amateur-Detektivspielchen doch etwas erreicht: Wir sind dem Täter jetzt ein ganzes Stück näher gekommen. Da mein Mann alleine unterwegs war, konnte er den Kerl, der Renie gestoßen hat, zwar nicht festhalten, aber er hat mir gerade eine Beschreibung gegeben und es wird bereits nach ihm gefahndet.“
Er zog einen Zettel aus der Tasche. „Dicklich, mittelgroß. Er hatte eine Kapuze übergestülpt, unter der langes, ungepflegtes blondes Haar hervorkam. Ein Schal verdeckte die untere Gesichtshälfte, also wissen wir nicht, ob er einen Bart trägt. Kommt dir das bekannt vor?“ John schüttelte den Kopf.
„Wenn er sich maskiert hatte und sich der Verkleidung unbemerkt entledigen konnte, dann haben wir nicht viele Chancen, ihn zu finden. Aber immerhin entlastet diese Sache, so schlimm sie auch ist, deinen Freund George Campbell. Schließlich liegt der Verdacht nahe, dass dieser Typ deine Nichte beseitigen wollte, weil sie im Begriff war, irgendetwas über ihn herauszufinden.“
Auf Johns Gesicht erschien ein kleines Lächeln. „Dann glaubst du mittlerweile auch, dass George nichts mit der Sache zu tun hat?“
„Nicht so schnell. Dass er auf irgendeine Weise in die Geschichte verwickelt ist, bezweifle ich nicht. Aber an seiner Täterschaft gibt es doch erhebliche Zweifel. Nun hoffe ich, dass Renie möglichst schnell vernehmungsfähig ist und auch mit Li Chan werde ich sprechen. Natürlich haben wir sie bereits einmal vernommen, als wir Julias Umfeld überprüft haben. Aber damals hat sie keinerlei Hinweise gegeben, dass sie etwas wissen könnte.“
In diesem Moment trat Maggie zu ihnen, eine große Plastiktüte in der Hand. Sie fiel John um den Hals. „Oh Gott, ich bin so froh. Sie wird wieder gesund.“
„Maggie, Simon hat mir gerade mitgeteilt, dass es einer seiner Männer war, der Renie gerettet hat.“, sagte John behutsam.
„Oh, Simon, danke, danke, danke, tausend Dank!“ Maggie umarmte auch den Superintendenten.
Simon tätschelte ihr den Rücken. „Schon gut. Dafür sind wir schließlich da.“, brummte er.
„Ich muss sofort Alan anrufen. Er ist gerade auf dem Rückweg aus Glasgow. Außerdem werde ich meine Nachbarin bitten, bei Tommy und Bella zu bleiben, bis ich heimkomme. Halt mal, John. In der Tüte sind Renies Sachen. Ich gehe kurz hinaus zum Telefonieren.“
Aus der Tüte lugte Renies bunt gemusterte Umhängetasche. Die beiden Männer sahen sich an.
„Vielleicht müssen wir nicht warten, bis du Renie vernehmen kannst. Sie hatte Fotos aller Verdächtigen dabei, um sie Li Chan zu zeigen. Aus den wenigen Worten, die sie vorhin noch von sich gegeben hat, denke ich, dass die Asiatin jemanden darauf hat identifizieren können.“ Simon nickte. „Wir sehen nach.“ John zog die Tasche heraus und öffnete sie. Tatsächlich fielen die Aufnahmen heraus, die er Renie gegeben hatte. Mit wachsender Spannung durchblätterten sie die Bilder. Beim letzten war das Gesicht eines Mannes mit Kugelschreiber umkreist.
Wortlos zog Simon sein Telefon aus der Tasche. „Großfahndung einleiten: Unser Mann ist Nigel Owen. Gesucht im Zusammenhang mit dem versuchten Mord an Maureen Hughes und dem Mord an Julia Feldmann. Jeder verfügbare Mann soll raus.“
Er steckte das Telefon wieder weg. John war langsam wieder in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.
„Sag mal, wie kamst du darauf, Renie überwachen zu lassen?“
Simon setzte ein überlegenes Lächeln auf. „John, du hast wohl vergessen, dass ich dich und Maggie seit unserer Kindheit kenne. Ihr spielt beide einfach gern den guten Samariter. Mir war klar, dass du nicht ruhen würdest, bis du etwas gefunden hättest, um deinen Freund zu entlasten. Ich muss zugeben, dass ich gehofft hatte, George Campbell knacken zu können und den Fall schnell zu lösen. Als ich aber feststellen musste, dass der Mann sturer als ein ganzes Pack Esel ist, gab ich Anweisung, dir Zugang zu ihm zu gewähren und stellte einen Mann ab, der dir wie ein Schatten überallhin folgte und mir Bericht erstattete.“
Entsetzt blickte John den Superintendenten an, der ungerührt fortfuhr. „Als Renie auf der Bildfläche auftauchte, wusste mein Detective natürlich nicht, wer sie war. Als er mir ein Foto von euch beiden beim Abendessen brachte, hätte mich fast der Schlag getroffen.“ Er zog missbilligend eine Augenbraue hoch. „Euer ganzer Clan hat einfach das Gen, sich ungefragt in fremde Angelegenheiten einmischen zu müssen. Aber lassen wir das. Nachdem Renie anfing, in dem Lokal zu arbeiten, in dem auch Julia Feldmann gekellnert hatte, haben wir unsere Überwachung auf sie konzentriert. Gestern Abend allerdings meldete der Beamte einigermaßen verwirrt, dass du das Lokal betreten hättest, aber nicht wieder erschienen wärst. Als er den Hinterausgang kontrollieren wollte, sah er dich auf der Straße sitzen. Du hättest ziemlich fertig ausgesehen, sagte er. Willst du mir sagen, was da los war?“
„Äh, nicht so wichtig. Übrigens habe ich noch eine Information, der du vielleicht nachgehen möchtest.“ Simon lauschte aufmerksam, als John wiedergab, was er über den ehemaligen Infanteristen Gerry Burrows erfahren hatte. „Vielleicht könnt ihr bei Scotland Yard herausbekommen, was aus ihm geworden ist. Es könnte ja eine Verbindung zu Nigel Owen geben.“
Simon nickte und stand auf. „Ich muss jetzt zurück in die Zentrale und zusehen, dass wir in den nächsten Stunden intensive Nachforschungen nach diesem Owen führen. “ Er zog eine Karte aus der Tasche. „Unter dieser Nummer kannst du mich jederzeit erreichen. Gib mir Bescheid, wenn die Operation vorbei ist.“ Schon verschwand er mit wehendem Mantel um die Ecke.
Als Maggie zurückkam, erzählte er ihr alles, was er von Simon erfahren hatte. „Ich darf gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn Simon nicht ein so gerissener Ermittler wäre und seine Leute auf mich und Renie angesetzt hätte.“
Maggie nickte nachdenklich. „Heute hat er all das wettgemacht, womit er uns über die Jahre geärgert hat. Ich schäme mich direkt wegen der Schimpfnamen, mit denen ich ihn insgeheim immer belegt habe.“
„Wir sollten ihm ein besonders schönes Geschenk zu Weihnachten besorgen, was meinst du?“
„Ja, das machen wir, John. Ich kümmere mich morgen gleich darum. Vielleicht frage ich Patricia, ob sie eine Idee hat. Außerdem möchte ich mich auch bei dem Detective bedanken, der Renie gerettet hat.“ Sie schwiegen einen Moment. Dann fragte Maggie, „Sag mal, du hast wirklich überhaupt nichts von der Überwachung gemerkt?“
„Gar nichts. Nur, als Renie mich in die Gasse hinter dem China-Restaurant geworfen hat, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, da wäre jemand.“
Maggie gluckste. „Die Geschichte hat Renie mir beim Frühstück erzählt. Das ist ja wirklich ein Heuler.“ Sie kicherte.
„Haha. Was denkst du, welche Angst ich bekam, als diese kleine Chinesin mit ihrer riesigen Fleischgabel auf meine Leibesmitte zielte? Und wie mich die Mädchen dann wie einen Sack Müll auf die Straße befördert haben – “ Weiter kam er nicht. Prustend lagen sie sich in den Armen und konnten nicht mehr aufhören, zu lachen.
Eine Schwester, die um die Ecke sah und erbost meinte, „Sie sind hier in einem Krankenhaus. Bitte seien Sie doch leiser.“, führte nur zu einem weiteren hysterischen Lachkrampf. Schließlich beruhigten sie sich und warteten in einträchtigem Schweigen, während der Zeiger der Uhr im Warteraum vorrückte.
John musste eingenickt sein. Er schrak hoch, als seine Schwester ihn leicht schüttelte. Dr. Forsythe stand vor ihnen. „Wir haben die Operation erfolgreich abgeschlossen, Mrs. Hughes. Ihre Tochter darf das Bein allerdings ein paar Tage lang unter keinen Umständen belasten. Danach kann sie behutsam beginnen, an Krücken zu gehen. Bis die Sache ganz ausgeheilt ist, können durchaus sechs Wochen vergehen.“
Maggie strahlte ihn an. „Das macht nichts. Die Hauptsache ist doch, dass sie wieder ganz gesund wird. Kann ich zu ihr?“
„Sie befindet sich im Aufwachraum. Wir werden sie im Lauf der Nacht auf ihr Zimmer bringen können. Mir wäre es am liebsten, Sie kämen morgen früh vorbei. Dann können Sie Maureen die Sachen bringen, die sie hier braucht und der Stationsarzt kann Ihnen alles Weitere erklären.“
John erhob sich ächzend. „Komm, Maggie, dann gehen wir jetzt am besten. Momentan können wir nichts für Renie tun, also kehrst du am besten zu Tommy und Bella heim.“
„Du hast recht. Alan dürfte auch allmählich zu Hause angekommen sein. Danke für alles, Doktor. Gute Nacht.“ Während sie draußen auf ein Taxi warteten, rief John den Superintendenten an.
„Danke für die Nachricht, John. Bis jetzt konnten wir Nigel Owen nicht lokalisieren. Aber immerhin konnten wir Li Chan in dem Lokal finden. Wir haben sie sicher untergebracht. Es hat eine Weile gedauert, aber schließlich hat sie mir gesagt, dass sie Nigel Owen wenige Tage vor Julias Tod mit ihr gesehen hat. Nach dem Ende der Nachtschicht putzte sie noch die Küche, der Rest der Belegschaft war schon gegangen. Als sie im dunklen Speiseraum irgendetwas holen wollte, sah sie Julia direkt vor der Fensterfront mit Owen stehen. Er übergab ihr ein Päckchen. Am nächsten Tag, sagte Li, hätte sie Julia auf den Fremden angesprochen. Julia hätte sehr abweisend reagiert und gesagt, sie würde diesen Mann hassen und hoffen, sie müsste ihn nie wieder sehen.“ John hörte im Hintergrund leises Gemurmel. „Wir starten jetzt eine Einsatzbesprechung, ich muss gehen. Alles weitere morgen, John.“
John setzte Maggie in ein Taxi und machte sich auf den Heimweg. Trotz der klirrenden Kälte schlenderten etliche Passanten durch die nächtlichen Straßen, vorbei an den bunt geschmückten Schaufenstern und den allgegenwärtigen Weihnachtsbäumen, die mit ihren elektrischen Kerzen warmes Licht auf die Gehsteige warfen. Aus einigen Kneipen drang Musik.
John hatte das Gefühl, blind auf einen Abgrund zugelaufen zu sein. Erst, als ihn eine helfende Hand zurückgerissen hatte, hatte er die Augen geöffnet und die gähnende Tiefe wahrgenommen, die drohte, ihn und die Menschen, die er liebte, zu verschlingen.
Leise knarrend öffnete sich die Tür der Kapelle St. Peter ad Vincula. John war lange nicht in einem Gottesdienst gewesen, aber heute Nacht hatte er das Bedürfnis, eine Kerze anzuzünden. Danach ging er die wenigen Schritte zu seiner Wohnung und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Früh am nächsten Morgen saß John kribbelig in der mittlerweile vertrauten Eingangshalle von Scotland Yard. Nachdem er Bonnie und Mullins von den Geschehnissen des gestrigen Tages berichtet hatte, hatte der Chief ihm einen halben Tag freigegeben.
„Sehen Sie zu, ob Sie George nicht dazu bewegen können, nun eine Aussage zu machen. Das Einzige, wofür Richard sich wird verantworten müssen, ist sein Drogenkonsum. Wenn man bedenkt, welchen Dreck manch andere von unseren Volksvertretern am Stecken haben, ist das ja noch direkt harmlos.“, sagte Mullins zynisch.
John schüttelte den Kopf. „Ganz so einfach wird es nicht werden. Immerhin hat er Owen mit seiner Aussage, sie wären im fraglichen Zeitraum ständig zusammen gewesen, gedeckt. Also ist er mindestens noch wegen Falschaussage dran. Aber dennoch denke ich, bleibt George jetzt nichts anderes mehr übrig, als auszusagen. Wenn sie Owen erwischen, wird er mit Sicherheit versuchen, George und Richard zu belasten. Also wäre es klüger, jetzt mit der Wahrheit herauszurücken.“
Georges Gesicht drückte äußerst gemischte Gefühle aus, nachdem John mit seinem Bericht geendet hatte. Schock über Renies knappes Entrinnen. Erleichterung, dass ein anderer an die Stelle des Hauptverdächtigen gerückt war. Zweifel.
„Nigel Owen? Bist du sicher, John? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Er hat doch all die Monate aufopferungsvoll für Richards Erfolg gearbeitet. Er war auch oft zu Gast bei uns und Marcia und ich hielten ihn für einen sehr angenehmen Mann. Warum um Himmels Willen sollte er Julia Feldmann umbringen und dann versuchen, mich als den Täter hinzustellen?“
„Ich weiß es nicht. Sein Motiv wird die Polizei sicher herausfinden. Tatsache ist, dass er nun im Zusammenhang mit dem Mord und auch mit dem versuchten Mord an meiner Nichte gesucht wird. Die Polizei wird das Unterste zuoberst kehren und mit Sicherheit werden Hinweise auf dich und Richard auftauchen. Ich bitte dich, George“ Er sah seinen Freund beschwörend an. „Mach jetzt, heute, auf der Stelle eine Aussage. Sag der Polizei alles, was du weißt. Und Richard sollte dasselbe tun. Wenn er nun reinen Tisch macht, kommt er mit Sicherheit besser davon, als wenn die Polizei durch ihre Ermittlungen gegen Owen alles herausfindet.“ George schluckte mühsam.
Dann hatte er sich entschieden: „Ruf den Anwalt an. Er soll herkommen. Und sag Whittington, ich bin bereit, mit ihm zu reden. Ach, und sag dem Anwalt, er soll auch versuchen, Richard zu einer Aussage zu bewegen. Es … ist wohl besser so.“ Er straffte die Schultern und stand auf.
Auch John stand auf. „Alter Freund, ich bin stolz auf dich. Wir sehen uns bestimmt bald wieder – und ich hoffe, es wird dann nicht hier drin sein.“
In einem ruhigen Winkel der Eingangshalle rief er Sir Fitzgerald Walters an und gleich darauf Chief Mullins, um ihm von seinem Gespräch mit George zu berichten. Als er auflegte und sich umdrehte, stand sein Cousin mit einem breiten Lächeln vor ihm.
„Ich dachte es mir: Du hast es geschafft, dass Campbell endlich redet. Gut, gut.“
John runzelte die Stirn. „Soso, der Superintendent ist sich nicht zu schade, ein privates Telefongespräch zu belauschen? Ich wäre ohnehin gleich zu dir gekommen, um es dir zu sagen.“
Simon warf ihm einen gespielt schockierten Blick zu. „John, ich hoffe, du vergisst nicht, dass meine Ermittlungsmethoden deine Nichte vor dem Tod bewahrt haben. Übertriebene Empfindlichkeit deinerseits ist da wohl kaum angesagt.“
John biss die Zähne zusammen und bemühte sich um ein Lächeln. „Richtig. Sobald Sir Fitzgerald eingetroffen ist, wird George aussagen. Gibt es etwas Neues bei euren Nachforschungen?“
„Owen ist immer noch wie vom Erdboden verschwunden. Im Lauf des Vormittags bekomme ich den Durchsuchungsbefehl für seine Wohnung. Sicher werden wir dort irgendwelche Hinweise finden. Auch mit Richard Campbell werde ich heute noch sprechen.“ John legte Whittington bittend die Hand auf den Arm. „Denkst du, du kannst es einrichten, als erstes Georges Aussage aufzunehmen?“
„So, hat er es jetzt plötzlich eilig damit, die Karten auf den Tisch zu legen? Na gut, ich will sehen, was sich machen lässt.“
Als er sich wegdrehte, fiel John noch etwas ein. „Ach, Simon, wie geht es deinem Beamten?“
„Er wurde noch in der Nacht operiert. Hat sich einen Fuß und den Ellbogen gebrochen und auch sonst ein paar Kratzer abgekriegt. Er wird einige Wochen dienstunfähig sein. Aber was tut man nicht alles, um Zivilisten, die nicht wissen, was gut für sie ist, vor Gefahren zu bewahren.“ Mit einem salbungsvollen Lächeln schritt er davon.
Aargh, das wird er uns jetzt für den Rest unseres Lebens vorhalten. John seufzte und machte sich zum Krankenhaus auf.