Wenig später stand er vor einem Polizeibeamten der Nachtschicht, der ihn misstrauisch beäugte.
„Grundsätzlich darf Mr. Campbell Besucher empfangen, aber er hat bisher jeden Kontakt nach außen abgelehnt. Außerdem schläft er vielleicht schon. Ist es denn so dringend? Vielleicht kommen Sie besser morgen früh wieder.“
„Nein, es handelt sich um einen Notfall.“, drängte John und zeigte dem Beamten seine verbundene Hand. „Mr. Campbell ist der Ravenmaster des Towers von London, wie Sie sicher wissen. Ich vertrete ihn, seit er verhaftet wurde. Allerdings gibt es nun große Probleme mit einem der Raben und da ich noch sehr unerfahren bin, brauche ich Georges Rat. Und zwar sofort. Sie werden sehen: Wenn Sie ihm sagen, dass es um die Raben geht, wird er einem Gespräch zustimmen.“ Mit einem zweifelnden Blick wandte sein Gegenüber sich um. Nach einem kurzen Telefonat brummte er, „Warten Sie da hinten.“
John setzte sich auf einen der unbequemen Besucherstühle.
Als nach einigen Minuten eine vergitterte Tür aufging und ein weiterer Polizist ihn zu sich winkte, tat sein Herz einen Sprung. Seine Finte hatte geklappt.
Nach einer umständlichen Prüfung seiner Personalien wurde er in einen fensterlosen Raum geführt, der von einer Plexiglasscheibe mit winzigen Löchern durchtrennt wurde. „Setzen Sie sich dahin. Er wird gleich kommen.“ Damit wurde er allein gelassen.
Als George wenig später eintrat, erschrak John. Mit seiner fahlen Hautfarbe und dem zerknitterten Gesicht wirkte George um viele Jahre gealtert. Der hoffnungslose Ausdruck in seinen Augen versetzte John einen Stich.
„Alter Freund! Ich freue mich, dich wiederzusehen.“, begrüßte er ihn warm.
„John, man hat mir gesagt, es hätte einen Notfall mit einem der Raben gegeben? Was ist los?“ John schluckte.
„Nun, George, ich muss zugeben, dass ich den Vorfall etwas übertrieben dargestellt habe. Tatsächlich hat Bran mich gestern angegriffen.“, beeilte er sich, hinzuzufügen und hob die Hand, damit George den Verband sehen konnte. „Das war jedoch mein Fehler und es war auch halb so schlimm. Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen, um dich zu einem Gespräch zu bewegen.“ Wortlos erhob George sich. John sprang ebenfalls von seinem Plastikstuhl auf. „George, hör mir zu, ich bitte dich, nur fünf Minuten. Bitte.“ Als George nicht reagierte und nur noch wenige Schritte von der Ausgangstür zum Zellentrakt entfernt war, wurde Johns Ton hart.
„Verdammt, George. Wenn schon nicht um deinetwillen, dann tu´s wenigstens für Marcia.“ Beim Namen seiner Frau erstarrte George.
„Willst du, dass Marcia damit leben muss, dass ihr Mann im Mordfall des Jahrzehnts für schuldig erklärt wird, und das nur auf Grund einiger Indizien und seiner Sturheit, die ihn jede Aussage verweigern lässt? Willst du unschuldig den Rest deines Lebens im Gefängnis sitzen?“ Langsam drehte George sich um.
„Du glaubst, dass ich unschuldig bin?“
„Ich sage dir, was ich glaube: Irgendetwas, ich weiß nicht was, verbindet dich mit der Toten. Aber du hast sie nicht umgebracht. Ich denke, du schweigst, um jemanden zu schützen.“
George ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Zu Johns Bestürzung vergrub er das Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Hilflos saß John hinter der Plexiglasscheibe. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie die Wache durch das verglaste Guckloch der Tür hereinsah. Gleich darauf öffnete sich die Tür.
„Ist alles in Ordnung, Campbell?“ George nickte und wischte sich mit dem Ärmel seiner grauen Häftlingskleidung über das Gesicht. Der Beamte ließ sie wieder allein. Minutenlang herrschte Stille im Raum. Schließlich hob George den Kopf.
„Ich … muss nachdenken. Könntest du morgen wiederkommen?“ John nickte. George stand auf und gab der Wache durch das Glasfenster ein Zeichen, die Tür zu öffnen. Im Hinausgehen wandte er sich noch einmal um. „Wie geht es Marcia?“
„Die erste Zeit nach deiner Verhaftung war schlimm. Bonnie und Edwina Dunders waren rund um die Uhr bei ihr. Mittlerweile hat sie sich wieder ein wenig gefangen. Ihr Hausarzt hat eine Krankenschwester geschickt, die sich um sie kümmert.“ Wieder traten Tränen in Georges Augen. Wütend wischte er sie fort und sagte leise, „Bitte sag ihr, sie soll sich keine Sorgen machen. Und sag ihr … dass ich an sie denke.“
Als John den Tower betrat, war es bereits Mitternacht. Geistesabwesend grüßte er im Vorbeigehen seine Kollegen, die in dieser bitterkalten, klaren Nacht Dienst taten. Obwohl er nach der Fahrt in der überhitzten U-Bahn fror, ging er nicht auf kürzestem Weg zu seiner Wohnung. Stattdessen machte er einen Abstecher zum Rabenhaus.
Die nächtliche Beleuchtung des White Towers sorgte für einen schwachen Lichtschein auf der Wiese hinter der Voliere. Der Nachtfrost ließ seine Schritte leise knirschen. Da er die Raben nicht stören wollte, blieb er einige Meter vom Haus entfernt stehen. Einer der Vögel hob den Kopf aus dem Gefieder und steckte ihn gleich wieder hinein. Ansonsten war alles ruhig. Zufrieden ging John weiter und blieb dann unschlüssig mitten im Innenhof des Towers stehen. Marcia würde sich sicher sehr über Georges Botschaft freuen, nachdem sie tagelang nichts von ihm gehört hatte.
Also lenkte John seine Schritte zum Constable Tower in der äußeren Wallanlage des Towers. Dort waren etliche der Beefeater mit ihren Familien untergebracht. Die Campbells bewohnten eine geräumige Wohnung im Erdgeschoss. Durch die geschlossenen Vorhänge war im Wohnzimmer Lichtschein zu sehen. John klopfte an die Scheibe. Drinnen bewegte sich ein Schatten auf das Fenster zu.
„Ich bin´s, John Mackenzie. Ich habe eine Nachricht von George.“ Der Vorhang wurde beiseite geschoben und eine Frau in Schwesterntracht öffnete nach kurzem Zögern das Fenster einen Spalt breit. John stellte sich noch einmal vor.
„Ah, Sie sind derjenige, der Mrs. Campbells Gatten als Rabenpfleger vertritt. Sie hat mir von Ihnen erzählt. Worum geht es denn?“
„Ich komme gerade von Scotland Yard. Dort konnte ich mit George sprechen. Er bat mich, Marcia etwas auszurichten. Ist sie noch wach?“
„Das könnte sein. Als ich vor einer halben Stunde nach ihr gesehen habe, war sie noch nicht eingeschlafen. Kommen Sie einfach kurz herein, dann sehen wir nach.“
Im Wohnzimmer der Campbells war es gemütlich warm und John nahm dankbar auf dem Sofa Platz, während die Pflegerin – Ms. Doyle, wie auf ihrem Namensschild zu lesen stand – in den Flur verschwand. Gleich darauf ließ ihn ein Schrei hochfahren. Als er in das Schlafzimmer stürzte, starrte Ms. Doyle fassungslos auf das leere, sauber gemachte Doppelbett. „Aber wie konnte sie nur hinausgelangen? Ich war doch die ganze Zeit im Wohnzimmer.“, wimmerte sie.
„Da!“ John zeigte auf eines der Fenster. „Es ist einen Spalt offen. Sie muss hinausgeklettert sein.“ Er packte die aufgelöste Frau am Arm. „Schnell! Rufen Sie die Nachtwache an, die sollen eine sofortige Suchaktion einleiten. Die Nummer ist 111, das Telefon steht im Flur.“ Nachdem sie hinausgelaufen war, durchsuchte John fieberhaft das Zimmer nach einem Hinweis, wohin Georges Frau verschwunden sein könnte. Und tatsächlich, auf der Kommode sprang ihm ein Zettel ins Auge, der an einen Keramikengel gelehnt war.
Ich bekenne mich schuldig am Mord an Julia Feldmann. Meine Krankheit hat mich unzurechnungsfähig gemacht. Mein tiefstes Bedauern gilt der Toten sowie meinem Mann und meinem Sohn, die in keiner Weise mit dieser Sache zu tun haben und nicht für meine Tat bestraft werden sollen. Um weiteren Schaden von ihnen abzuwenden, nehme ich die Gerechtigkeit nun selbst in die Hand. Marcia Campbell
Ungläubig stand er einen Augenblick da, dann rannte er aus der Wohnung, den handgeschriebenen Zettel in der Jackentasche. Dunders hatte schnell reagiert, schon konnte John Stimmen und Schritte hören, die sich ihm eilig näherten. Zwei seiner Kollegen bogen im Laufschritt um die Ecke. „Sie hat vor maximal dreißig Minuten die Wohnung verlassen. Mittlerweile kann sie überall auf dem Gelände sein.“
Oder bereits tot. Diesen Gedanken sprach John nicht aus. „Verteilen wir uns.“
Die beiden Männer rannten in entgegengesetzte Richtungen entlang des äußeren Walls davon, John durch einen Gang neben dem Hospital Block in den Innenhof des Towers. Dort stieß er auf Philip Dunders, der neu hinzustoßende Männer methodisch mit Funkgeräten ausstattete und in verschiedene Richtungen dirigierte.
„Verflucht, falls sie sich etwas antun will, gibt es dutzende Stellen. Allein all die Orte, von denen sie sich in die Tiefe stürzen könnte.“ Unwillkürlich sahen sie zu den Zinnen des White Towers hinauf, dreißig Meter über ihnen.
„Wissen wir, ob sie irgendwelche Schlüssel mitgenommen hat? Wenn sie Georges Schlüsselbund hat, dann kann sie überall hinein.“
„Ich versuche, es herauszufinden.“ John sprintete zurück zum Constable Tower. Die Wohnungstür stand offen.
„Ms. Doyle! Wir brauchen Ihre Hilfe.“ Die Pflegerin hatte sich wieder gefasst und kam aus dem Schlafzimmer gelaufen.
„Soweit ich das sehen kann, ist sie in Morgenmantel und Pantoffeln unterwegs. Ihr Schrank scheint unberührt und an eine Jacke kam sie nicht heran, die hängen alle im Flur.“
Oh Gott, dann hat sie allein schon durch die eisigen Temperaturen kaum eine Chance, wenn sie draußen ist, stöhnte John innerlich. „Haben Sie eine Ahnung, wo die Campbells ihre Schlüssel aufbewahren? Vielleicht in der Garderobe?“
„Ich weiß es nicht. Sehen wir nach.“
John riss einige Schubladen auf und erblickte Georges vertrauten Schlüsselbund. Er raste zurück in den Innenhof. Chief Mullins war mittlerweile zu Dunders gestoßen. Er sprach gerade in ein Funkgerät.
„Schlüssel hat sie keine bei sich, wir können uns also auf die Außenanlagen konzentrieren.“, brachte John schnaufend hervor. „Und sie ist nur mit einem Morgenmantel bekleidet.“ Mullins ließ das Funkgerät sinken.
„Nord-, West- und Südwall sind gecheckt. Ein Trupp durchsucht jetzt die Mauerumgänge im Osten.“ John zog ihn einige Schritte zur Seite.
„Hier ist der Zettel, den sie zurückgelassen hat.“ Mullins las halblaut „…nehme ich die Gerechtigkeit nun selbst in die Hand. Hm. Das hört sich an, als habe sie ein Zeichen setzen wollen – “ Er ließ den Blick über den hell erleuchteten Innenhof des Towers schweben. „Man sollte meinen, der symbolträchtigste Ort wäre der Hinrichtungsplatz. Am Tower Green ist sie aber offensichtlich nicht. Was könnte sonst noch ein geeigneter Ort sein…“ Einen Augenblick lang sahen Chief Mullins und John sich an, dann rannten beide wortlos los.
Durch den Bloody Tower hinaus in die Water Lane, zum Verrätertor. Der Pegel der Themse, dessen eiskaltes Wasser die dunkle Nische füllte, hatte beinahe die Obergrenze erreicht. Mullins packte John am Arm.
„Da hinten!“ Im selben Augenblick entledigten sich beide Männer ihrer Jacken und Schuhe, sprangen über das Geländer und tauchten in das nachtschwarze Themsewasser ein.
Die Kälte raubte John den Atem. Er hatte das Gefühl, sein Herz wäre stehengeblieben. „Nun machen Sie schon, Mackenzie. Helfen Sie mir!“ Als er die energische Stimme des Chiefs hörte, löste er sich aus seiner Erstarrung. Mit wenigen Zügen war er am Gitter des Verrätertores angelangt. Gemeinsam bugsierten sie Marcias leblose Gestalt hinüber zum Geländer, wo mehrere Beefeater ihnen helfend die Hände entgegenstreckten. Jemand hatte geistesgegenwärtig das kleine Tor im Geländer aufgesperrt, so dass sie ihren Körper in die Water Lane hinaufziehen konnten.
Doc Hunter war bereits zur Stelle. Ohne Mullins´ Hilfe hätte John es nicht mehr die Betonstufen hinauf geschafft, die unter Wasser hinauf zur Water Lane führten. Mullins schob und von oben zogen einige Kollegen an ihm, bis er neben Marcia auf dem Pflaster der Water Lane lag. „Schnell, schnell, Bahren aus der Krankenstation“, befahl Hunter. Während einige Männer davonrannten, ließ Mullins sich neben John auf den Boden fallen.
„Ist … sie noch am Leben?“, krächzte er. John hob mühselig den Kopf und blickte zu Marcia hinüber. Hunter hatte sie in eine wärmespeichernde Rettungsfolie eingewickelt, bis er Decken gebracht bekam. Er antwortete nicht. Mit grimmigem Gesicht begann er mit einer Herzdruckmassage.
Nach wenigen, endlos erscheinenden Minuten, in denen John mit dem Bedürfnis kämpfte, einfach die Augen zu schließen und sich in ein schwarzes Loch fallen zu lassen, wurden die beiden Männer in Decken gehüllt und auf zwei Bahren gelegt. Zugleich kam aus dem Byward Tower ein Notarztteam herbeigeeilt. „Ich fahre mit ihr in die Klinik. Ihr beide lasst euch in der Krankenstation versorgen.“, bestimmte Doc Hunter. Mullins protestierte schwach.
„Ich will euch in die Klinik begleiten.“
„Sie hören jetzt auf mein Kommando. Ihr habt genug getan. Ich halte euch auf dem Laufenden.“ Weg war der Arzt. Also ließen John und Chief Mullins sich quer durch den Tower zu der kleinen Krankenstation neben der Wohnung des Docs bringen. Ms. Doyle, die sich sichtlich Vorwürfe wegen des Verlusts ihrer Patientin machte, freute sich, sich nützlich machen zu können. Sie wies ihre Helfer an, den beiden Unterkühlten die stellenweise steif gefrorene Kleidung vom Körper zu ziehen. Frank Abbott rief kurzerhand seine Frau an, die heißen Tee, Heizdecken und Wärmflaschen organisierte. Nachdem die Pflegerin Temperatur, Puls und Blutdruck gemessen hatte, nickte sie zufrieden. „Ihre Körpertemperatur ist nicht im kritischen Bereich, dazu war Ihr Aufenthalt in dem Eiswasser Gott sei Dank zu kurz. Sie haben beide momentan sehr hohen Blutdruck, aber das ist normal in einer solchen Situation. Passen Sie nur auf, morgen bleibt Ihnen als Erinnerung an Ihr Abenteuer höchstens ein kleiner Schnupfen.“
Mullins und John, die immer noch heftig zitternd unter ihren jeweiligen Decken lagen, warfen sich einen Blick zu und rollten mit den Augen.
Mit einem frischen Verband für Johns Hand und einer Thermoskanne heißen Tees versorgt, fanden die beiden Männer sich schließlich allein wieder. Johns Frösteln hatte nachgelassen und er genoss die wohlige Wärme unter dem dicken Federbett, das man ihm gebracht hatte, die Füße auf einer heißen Wärmflasche. Er merkte, wie er wegdämmerte, als Mullins´ heisere Stimme an sein Ohr drang.
„Wie verzweifelt muss Marcia gewesen sein, in diese eiskalte Brühe zu steigen. Der Mord an dem Mädchen muss ihr entsetzliche Qualen verursacht haben.“
„Ich … glaube nicht, dass sie es war.“ Mit diesen Worten schlief John ein.
„Aufstehen, Mackenzie! Ich habe gute Nachrichten.“
„Mmmmm.“ Grummelnd öffnete John ein Auge. Als er den Kommandanten vor seinem Bett stehen sah, fielen ihm die Ereignisse der Nacht schlagartig wieder ein. „Was…“ Heftiges Niesen überkam ihn. Mit tränenden Augen richtete er sich schließlich auf und nahm ein Taschentuch, das Mullins ihm reichte.
„Ich habe mit Doc Hunter gesprochen: Marcia lebt!“ John blieb der Mund offen stehen.
„Offensichtlich haben wir sie gerade noch rechtzeitig aus dem Wasser gezogen. Es stand Spitz auf Knopf, sagen die Ärzte.“ Mullins schüttelte staunend den Kopf. „Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten, aber durch die extreme Kälte ist nur wenig Blut ausgetreten. Allerdings war sie bereits bewusstlos und wäre kurze Zeit später wegen Unterkühlung gestorben.“
„Pff. Das sollte sogar ein medizinischer Laie wissen, dass man sich die Pulsadern am besten in der warmen Badewanne aufschneidet.“ Schwester Doyle war unbemerkt hereingekommen. Als sie die Blicke der beiden Männer bemerkte, schlug sie sich verlegen die Hand vor den Mund. „Aber selbstverständlich bin ich sehr froh, dass Mrs. Campbell das nicht wusste und noch gerettet werden konnte.“
„Wie wäre es, wenn Sie frischen Tee für Mr. Mackenzie hier besorgen könnten?“ Bei Mullins´ nur mühsam beherrschtem Ton floh die Krankenschwester aus dem Zimmer.
Mullins setzte sich auf den Bettrand. „Gestern Nacht sagten Sie etwas, das mir Rätsel aufgibt: Sie denken, Marcia ist nicht die Mörderin von Julia Feldmann? Obwohl sie es in ihrem Schreiben selbst zugibt?“ John nieste abermals und nickte dann.
„Ich denke, sie hat den Selbstmordversuch aus demselben Grund unternommen, aus dem George seit Tagen stur die Aussage verweigert: Sie will jemanden schützen.“ Mullins sah ihn verständnislos an.
„Wie kommen Sie darauf? Woher wollen Sie wissen, aus welchem Grund George so ausdauernd schweigt?“ John fiel ein, dass der Chief noch gar nichts von seinem Besuch bei Scotland Yard wusste. Also wiederholte er das Gespräch mit George, so genau es ging. Er musste sich auf die Zunge beißen, um Maggies Informationen nicht preiszugeben. Als er geendet hatte, fuhr Mullins sich verwirrt durch die Haare.
„Also scheint bei den Campbells jeder vom anderen zu glauben, dass er schuldig ist. Aber wenn wir davon ausgehen, dass Sie richtig liegen und weder George noch Marcia haben die Studentin getötet: Dann bleibt uns ja nur noch eine Möglichkeit.“ John wiegte den Kopf.
„Lassen Sie uns keine voreiligen Schlüsse ziehen: Aber wir sollten dringend ein Gespräch mit Richard führen. Außerdem müssen wir versuchen, mit Marcia zu reden. Darf sie schon Besuch empfangen?“ Mullins sprang auf.
„Sie stehen jetzt auf und ich rufe Hunter im Krankenhaus an. Ach, und übrigens“, er drehte sich noch einmal um. „Nach Ihren Worten gestern habe ich Marcias Abschiedsbrief erst einmal sicher bei mir verwahrt. Außer Ihnen und mir weiß keiner von seiner Existenz. Ich hielt es vorerst für unnötig, ihn weiterzugeben. Whittington würde sie sicher unter Arrest stellen, sollte er davon erfahren. Das möchte ich ihr nicht zumuten, falls sie wirklich unschuldig ist.“ Damit war er aus der Tür. John schüttelte staunend den Kopf. Der Chief musste großes Vertrauen in ihn setzen, wenn er auf seine Einschätzung hin der Polizei wichtiges Beweismaterial vorenthielt.
Eine Stunde später standen ihnen Doc Hunter und der behandelnde Arzt in einem beengten Sprechzimmer des St. Bartholomew´s Krankenhauses gegenüber.
„Es ist wirklich sehr wichtig, dass wir mit ihr reden. Bitte lassen Sie uns zu ihr. Nur fünf Minuten.“
Hunter beugte sich zu seinem Kollegen und raunte ihm zu, „Das sind die Herren, die die Patientin aus der Themse gerettet haben.“ Daraufhin wurde der Blick des Stationsarztes etwas freundlicher.
„Na gut, ich werde gleich noch mal nach ihr sehen. Wenn ich es verantworten kann, dann können Sie kurz hinein.“
Hunter rieb sich müde über die Augen. „Marcia hatte unglaubliches Glück, dass Sie sie entdeckt haben. Wenig später wäre es vorbei gewesen. Ich nehme an, der Druck ist ihr einfach zu groß geworden, mit Georges Verhaftung und Richards Wahlkampagne, die sie sich so zu Herzen nimmt.“
Mullins und John vermieden es, einander anzusehen und brummten etwas Unverbindliches. Hunter gähnte herzhaft.
„Ich muss mich aufs Ohr hauen. Eine der Schwestern soll mir ein Taxi besorgen.“ Er verließ das Sprechzimmer, kam aber gleich wieder zurück. „Whittington ist im Anmarsch“, zischte er. „Eine Vernehmung steht Marcia in ihrem Zustand nicht durch. Ich werde versuchen, ihn abzuwimmeln.“ Damit verschwand er wieder. Mullins und John grinsten sich an, als sie hörten, wie Hunter den Superintendenten in aufgeblasenem Ton mit einer Woge von unverständlichen Fachbegriffen überschüttete.
Whittington jedoch ließ sich von der medizinischen Terminologie nicht beeindrucken und verlangte, Marcia auf der Stelle zu sehen. Dabei wurde er zunehmend laut. Da riss Hunter der Geduldsfaden.
„Superintendent, bei aller gebotenen Achtung: Dieser Skandal wegen Misshandlung von Verdächtigen bei der Metropolitan Police im vergangenen Jahr ist den Leuten noch in bester Erinnerung. Wenn Sie nun darauf bestehen, die Patientin, die vor wenigen Stunden knapp dem Tode entronnen und noch keineswegs stabil ist, mit Ihren impertinenten Fragen zu behelligen, werde ich dies an Ihre Vorgesetzten und an die Medien weitergeben. Und wie Sie sehen, verfüge ich über eine ganze Reihe von Zeugen für Ihr Verhalten. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Verabschieden Sie sich jetzt. Sofort.“
Nach einer endlosen Minute des Schweigens war zu hören, wie sich Schritte entfernten. Draußen murmelten mehrere Leute durcheinander. John lugte vorsichtig hinaus. Whittington hatte den Rückzug angetreten, einige Schwestern und Pfleger sahen ihm missbilligend nach. Doc Hunter brummte, „Dieser Popanz. Meint, er muss sich mit mir anlegen.“
„Gut gemacht, Doc. Erstmal sind wir ihn los.“
„Oh Patrick, warum musstet ihr mich herausziehen?“ Marcias Stimme war ein raues Flüstern. Chief Mullins fehlten die Worte.
„Wie kannst du so etwas nur fragen? Ich…“ Hilfesuchend sah er John an, der sich im Hintergrund hielt.
„George wird dich brauchen, wenn er aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Scotland Yard wird früher oder später herausfinden, dass er unschuldig ist.“, sagte dieser sanft. Marcias stumpfer Blick wurde mit einem Mal klar.
„Was sagst du da, John? George … hat nichts mit dem Mord zu tun?“ John schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein. Er hat die ganze Zeit geschwiegen, weil er Angst hatte, du oder Richard wären darin verwickelt. Er wollte euch schützen, genauso wie du versucht hast, durch deine Tat deine Familie zu schützen. Ihr seid schon ein tolles Team, wie ihr euch füreinander aufopfern wolltet.“
Marcias Gesicht spiegelte den unbändigen Wunsch wider, Johns Worten Glauben zu schenken. „Aber woher weißt du, dass er unschuldig ist, wenn er doch mit niemandem spricht?“
„Gestern Abend konnte ich kurz mit ihm reden. Ich bin überzeugt davon, dass er Julia Feldmann nicht umgebracht hat, auch wenn wir es noch nicht beweisen können. Er war es, der mich zu dir schickte. Ich sollte dir ausrichten, er würde an dich denken und du solltest dir keine Sorgen machen.“
Einen kurzen Moment lang dachten alle drei daran, was geschehen wäre, hätte John in dieser Nacht nicht vor Marcias Tür gestanden.
Dann ergriff Marcia bewegt die Hände der beiden Männer. „Ihr seid so gute Freunde für uns. Wie konnte ich nur an George zweifeln, während ihr an ihn geglaubt habt?“ Plötzlich stockte sie. „Aber was ist dann mit den Fingerabdrücken? Mir wurde gesagt, die Polizei hätte Georges Abdrücke auf dem Rucksack des Mädchens gefunden. Darum dachte ich, es müsste George gewesen sein, der …“
„Der Fingerabdruck beweist lediglich, dass er den Rucksack in der Hand gehabt haben muss, aber nicht, dass er ein Mörder ist. Könnte er sonst irgendwie in Kontakt mit dem Mädchen gestanden haben oder ihr irgendwo begegnet sein?“ Marcia sah sie ratlos an.
„Ich habe keine Ahnung. Ich bin sicher, dass er sie nie erwähnt hat.“
Mullins tätschelte ihre Hand und stand auf. „Es wird sich schon alles aufklären. Wichtig ist erstmal, dass du wieder auf die Beine kommst. Also ruh dich schön aus.“ Sie schickten sich an, zu gehen. Marcia aber umklammerte Johns Hand. „Mein Sohn – er hat doch nichts damit zu tun?“
„Nigel Owen sagte mir, er wäre in der fraglichen Zeit mit Richard zusammen in der Bar gewesen, um Telefonate zu führen. Mach dir keine Gedanken um ihn.“, beruhigte John sie und löste sich behutsam aus ihrem Griff.
In der Tür drehte Mullins sich noch einmal um. „Ach, da fällt mir etwas ein, Marcia: Deinen Abschiedsbrief hat außer John und mir niemand gesehen. Wir werden ihn vernichten. Wir wollen die Polizei doch nicht durch ein falsches Geständnis verwirren, nicht wahr?“
Er zwinkerte ihr zu und sie verabschiedeten sich. Trotz der Verbände um ihre Handgelenke, der zahlreichen Schläuche und Monitore, an die sie angeschlossen war, wirkte Georges Frau so gelöst, als sei eine tonnenschwere Last von ihr genommen worden.
Draußen wurde John wieder von heftigem Niesen überfallen. „Ich brauche jetzt dringend etwas Warmes, bevor wir zurückfahren. Gehen wir in die Cafeteria.“
Angesichts eines Gebräus, das wie Spülwasser aussah und als Earl Grey verkauft wurde, entschied John sich für eine Tasse Kaffee. Sie setzten sich.
„Kein Wunder, dass die hier kaum Gäste haben. Die Stühle sind noch unbequemer als die von Scotland Yard und was sie einem da für zwei Pfund als Kaffee verkaufen…“ Mullins schüttelte sich. Dann sah er John anerkennend an.
„Sie lagen richtig mit Ihrer Vermutung Marcia betreffend. Aber was jetzt? Wenn Richard auch nichts mit der Sache zu tun hat, dann stehen wir wieder am Anfang.“
John schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir Owens Aussage, dass er pausenlos mit Richard zusammen war, für bare Münze nehmen können. Er scheint ja wie besessen davon zu sein, Richard zum Wahlerfolg zu verhelfen. Daher frage ich mich, ob er nicht auch bedenkenlos für ihn lügen würde.“ Mullins nickte nachdenklich.
„Außerdem, Chief, überlegen Sie: Wenn keiner der Campbells eine Verbindung zu Julia Feldmann hatte: Warum hätte George dann die Notwendigkeit gesehen, sie durch sein Schweigen schützen zu wollen? Ich denke, es gibt da doch irgendeinen Berührungspunkt, von dem wir nichts wissen. Aber George kennt ihn.“