Mullins hieb mit der flachen Hand auf die Armlehne seines Ledersessels. „Was für eine verfahrene Geschichte!“, rief er aus, als John ihm alles berichtet hatte. „Für mich ist es sonnenklar, dass Richard dafür geradestehen muss, was auch immer er getan hat. Ob er nun „nur“ Drogen kauft und einnimmt, obwohl er gerade das öffentlich immer wieder lauthals verteufelt, oder ob er sogar ein Mörder ist – der Mann sollte verdammt noch mal zur Rechenschaft gezogen werden.“
John nickte nachdenklich. „Ich sehe das genauso. Aber wir sind nun mal beide keine Familienväter. Für George wäre der Preis für seine Freiheit, das eigene Kind ans Messer zu liefern. Nach unserem heutigen Gespräch kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich zu einer Aussage wird durchringen können.“
Mullins sprang auf. „Wir können doch nicht zulassen, dass er um Richards Willen unschuldig im Gefängnis sitzt. Was können wir nur tun?“
„Sie kennen Richard seit vielen Jahren. Trauen Sie ihm diesen Mord zu?“
Mullins ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. „Das ist schwer zu sagen. Die Geschichte mit den Drogen wundert mich auf jeden Fall nicht. Wie ich Ihnen ja schon erzählte, war Richard immer schon ein Mensch, der im Zweifelsfall den bequemen Weg gewählt hat. Es war auch nie seine Stärke, über die Folgen seiner Handlungen nachzudenken. Aber ein Mord…“ Mullins knetete grübelnd seine Oberlippe. „Das Motiv leuchtet mir ein. Falls er spitzgekriegt hatte, dass Julia Feldmann drohte, brisante Fotos zu veröffentlichen, könnte ich mir vorstellen, dass bei ihm eine Sicherung durchbrannte.“
John beugte sich nach vorn. „Aber genau das ist es, was mich stört. Warum hätte er sie dann ausgerechnet hier im Tower umbringen sollen? Wo von vorneherein klar war, dass die Tat enormes Aufsehen erregen würde und die Zahl der Verdächtigen auf einen recht engen Kreis begrenzt wäre, dem Richard automatisch angehören würde? Da hätte es doch sicher tausend andere Möglichkeiten gegeben, dem Mädchen aufzulauern.“
„Richtig. Das ergibt keinen Sinn.“ Beide Männer starrten in das prasselnde Feuer, das Schatten über die Wände des Büros tanzen ließ.
„Wissen Sie, Mackenzie“, hob Mullins schließlich an. „Was für mich zu dem Bild von Richard als Mörder nicht passt: Dass er kaltblütig zusehen würde, wie sein Vater an seiner Stelle im Gefängnis sitzt. Sicher, er ist oberflächlich, karrieresüchtig und manipulativ. Aber das Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern schien mir doch recht herzlich zu sein. Nein, nein, ich habe eher das Gefühl, dass er ehrlich überrascht war, als ich ihm von der Unschuld seines Vaters erzählte.“
„Dann sollten wir all diejenigen, die noch auf unserer Liste der Verdächtigen stehen, genauer unter die Lupe nehmen. Irgendwie müssen wir versuchen, herauszufinden, ob noch jemand eine Verbindung zu der Studentin hatte.“ John stand auf und streckte seinen verspannten Rücken. „Ich habe eine Idee, wer uns da vielleicht helfen könnte. Vorerst bräuchte ich aber Zugang zu unserem Archiv.“
„Yo“, drang es gelangweilt aus dem Hörer, nachdem John Maggies Nummer gewählt hatte.
„Hallo Tommy, John hier. Ist deine große Schwester zufällig da?“
„Mhm. Renie! Onkel John ist am Rohr!“ John konnte hören, wie Tommy davonschlurfte. Dann drangen andere, entfernte Stimmen an sein Ohr, die zunehmend erzürnt klangen. Er konnte sich unschwer ausmalen, um was es bei dieser Auseinandersetzung ging und er verfluchte, dass er sich so leichtfertig auf Renies Detektivspielereien eingelassen hatte.
Nach einigen Minuten hörte er, wie sich Schritte näherten und der Hörer hochgerissen wurde. „Deine Nichte treibt mich in den Wahnsinn.“ Seit ihrer Kinderzeit hatte er seine Schwester nicht so schreien hören. Schuldbewusst zog John den Kopf ein.
„Maggie, es tut mir wirklich leid. Ich hätte Renie nicht in meine Nachforschungen hineinziehen sollen.“
„Hah! Hineinziehen! Unser Hallo-jetzt-komme-ich-und-rette-die-Welt-Fräulein hat sich wie ein Kampfhund darauf gestürzt. Und es ist ihr scheißegal, ob sie um ihrer verdammten Neugierde willen ihrer eigenen Mutter hinterherspioniert oder sich selbst möglicherweise in Gefahr bringt, nein, sie ist ja Miss Hughes-ich-kann-alles, weiß-alles, darf-alles.“
Maggie redete sich immer mehr in Rage, bis ihre Stimme überschnappte. Im Hintergrund konnte John Renie hören, die ebenfalls in höchsten Tönen keifte. Plötzlich noch eine dritte Stimme, verängstigt. „Mum, was ist denn los? Wieso schreit ihr so?“
Maggie atmete tief aus. „Bella, Schätzchen, deine große Schwester und ich haben Streit, aber das hat nichts mit dir zu tun, mach dir keine Sorgen. Weißt du was, sprich doch ein wenig mit deinem Onkel John und ich unterhalte mich mit deiner Schwester. John, gib uns ein paar Minuten.“, wandte sie sich wieder an ihren Bruder und gleich darauf kam Bella an den Apparat. „Onkel John, weißt du, was los ist?“, fragte Bella immer noch beunruhigt.
„Nichts Schlimmes, mein Mädchen. Du kennst ja das Temperament deiner Mutter und deiner Schwester, bei ihnen kracht es zwischendurch mal und dann ist wieder alles in Ordnung. Wie war´s heute in der Schule, erzähl mal.“ Im Flüsterton vertraute Bella ihm an, welche Weihnachtsgeschenke sie im Werkunterricht gebastelt hatte. „Aber nichts verraten!“ John versprach es. „Da kommt Renie, Onkel John. Sie will dich sprechen. Wiedersehen!“
Eine kleinlaute Renie meldete sich. „Mann, so habe ich Mum zuletzt ausflippen sehen, als ich in der dritten Klasse Dads Autoschlüssel geklaut und versucht habe, selbst zur Schule zu fahren.“
„Du hattest deiner Mutter wohl nichts von unserem Gespräch gestern Abend erzählt, obwohl ich dich dringend darum gebeten hatte?“
„Das hätte ich zu einem geeigneten Zeitpunkt schon noch gemacht. Aber als dein Anruf vorhin kam, saßen wir gemeinsam im Wohnzimmer und haben Weihnachtsgeschenke verpackt. Natürlich war sie neugierig, warum du anrufst und mir ist so schnell keine Ausrede eingefallen.“ John hörte, wie sie sich auf die Stirn schlug.
„Ich hätte einfach sagen können, es ginge um ein Weihnachtsgeschenk für sie. Mist, warum ist mir das nicht eher in den Sinn gekommen?“
„Renie!“
„Ja, ist ja gut, jetzt ist es wenigstens raus. Als ich ihr sagte, dass ich euer Gespräch an dem Abend zufällig mitgehört hatte, dachte ich, jetzt platzt ihr gleich eine Ader. Na wenigstens ist ihre größte Wut schon verpufft. Das geht ja schnell bei ihr. Allerdings hab ich ihr das Beste noch gar nicht gesagt.“
„Was meinst du damit?“
„Eins der Mädchen hat mir erzählt, dass Julia öfters im „Laughing Dragon“, einem großen chinesischen Lokal in der Nähe des Wohnheims bedient hat. Also bin ich heute früh gleich dort hin und hab gefragt, ob sie aushilfsweise jemanden brauchen und sie haben ja gesagt. Morgen bin ich schon in der Abendschicht!“, schloss sie triumphierend.
John musste zugestehen, dass dies eine gute Gelegenheit sein konnte, Julias Arbeitskollegen zu befragen. Eingedenk der eben erlebten Szene sagte er jedoch streng, „Du gehst jetzt auf der Stelle zu deiner Mutter und fragst sie, ob sie damit einverstanden ist.“
Renie murrte, erkannte aber, dass es ihm ernst war. „Bin gleich wieder da.“ Wieder vergingen einige Minuten. Dann hörte John die Stimme seiner Schwester, die offensichtlich ihre Selbstbeherrschung wieder gewonnen hatte.
„John? Dieses Mädchen ist einfach wie ein Rhinozeros, das einmal in Gang gekommen durch alles hindurchpflügt. Ich befürchte, es würde nichts bringen, wenn ich ihr diesen Job verbieten würde. Allerdings habe ich ihr das Versprechen abgenommen, nachts für den Heimweg ein Taxi zu nehmen.“
„Mum! Ich bin doch kein kleines Kind! Außerdem bin ich dann meinen halben Lohn schon wieder los.“, hörte John Renie aufbegehren.
„Sag ihr, dass ich das Taxi bezahlen werde, Maggie. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn Renie irgendwie in Gefahr käme.“
„Also gut. Und halt mich auf dem Laufenden, John, ja? Auf meine Tochter kann ich mich ja leider nicht verlassen.“ Mit dieser Spitze verabschiedete sie sich und reichte den Hörer an ihre Tochter weiter.
„Auf meine Tochter kann ich mich ja leider nicht verlassen“, äffte Renie sie nach. John seufzte. Es gab Momente, in denen er zutiefst dankbar war, keine eigene Familie zu haben. Dieser gehörte dazu.
Er ließ sich von Renie die Adresse des Lokals geben. „Ginge es, dass ich dir morgen einen Packen Fotos vorbeibringe? Ich habe von den Mitgliedern der Tower-Mannschaft, die noch auf unserer Verdächtigenliste stehen, Archivbilder herausgesucht. Wenn du in dem Lokal jemanden findest, der Kontakt mit Julia hatte, könntest du die Fotos herumzeigen. Vielleicht hat sie jemand mit einem der Abgebildeten gesehen.“
„Gute Idee, John. Natürlich mache ich das.“
„Allerdings bräuchten wir noch Aufnahmen von Richard Campbell und auch von seinem Manager.“
„Ach, das ist kein Problem. Die finde ich mit Sicherheit im Internet. So professionell, wie Richard seinen Wahlkampf führt, hat er sicher eine eigene Seite im Netz. Treffen wir uns doch zum Frühstücken bei Collier´s, dann kannst du mir die Fotos geben.“ Als sie sich verabschiedeten, hörte sie sich schon wieder vergnügt und voller Tatendrang an.
Obwohl er sich erschöpft fühlte, schlief John in dieser Nacht erst spät ein. Kurze Zeit später schreckte er hoch, weil er geträumt hatte, das Telefon würde klingeln. Das Rrring, Rrring, war so intensiv gewesen, dass er aus dem Bett sprang und zum Telefon hastete. Erst als er den Hörer in der Hand hielt, aus dem das Freizeichen erklang, wurde ihm bewusst, dass er geträumt hatte. Brummelnd suchte er sich in der dunklen Wohnung den Weg zurück ins Bett.
Die Uhr von St. Peter ad Vincula schlug zehn. Der Zapfenstreich des Trompeters verklang. John trat durch den düsteren Durchgang im Bloody Tower hinaus in die von dickem Nebel verhüllte Water Lane. Der Nebel schien ihn zu verschlucken. Er hörte die Themse leise gluckern. Ohne jede Orientierung tappte er herum, bis er sich plötzlich schmerzhaft das Bein an etwas Metallischem stieß. Das Geländer vor dem Verrätertor. Er klammerte sich daran, dankbar für einen Halt in diesem undurchdringlichen Wabern. Mit einem Mal teilten sich die Schwaden und er konnte vor sich die Nische sehen, hinter der sich das Falltor in der Festungsmauer als Silhouette abzeichnete. Zwei Gestalten waren dort unten, eine davon in der vertrauten Uniform der Beefeater. „Wer ist da?“, rief er. Da wandte sich ihm die uniformierte Gestalt zu, beide Hände in einen Schal verkrampft, der um den Hals eines gesichtslosen Mädchens lag. „George!“, hörte John sich ausrufen. „Hör auf, du bringst sie ja um!“ Dann jedoch bemerkte er, dass Georges Arme von dünnen Seilen gehalten wurden, ebenso sein Kopf und seine Beine. Oh Gott, er ist eine Marionette. Neben John tauchte aus dem Nichts ein junges Mädchen auf. Angela. „Dieses Miststück hat es verdient, endlich mal eins auf die Mütze zu kriegen.“ Sie kicherte dämonisch und löste sich in Luft auf.
Das Herz klopfte John bis zum Hals, als er erwachte. Er tappte zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Genauso wie in seinem Traum hatten sich dichte Nebelschwaden über den Tower gelegt, die alles verschluckten. Während er wartete, dass sein Herzschlag sich beruhigte, hatte er das Gefühl, dass sich in dem Gewirr in seinem Kopf plötzlich Konturen abzuzeichnen begannen. Morgen – oder vielmehr heute – früh musste er nach seinem Treffen mit Renie als erstes in den Yard.