Während der nächsten Stunden kam John sich vor, als führe er Karussell. Er war zur Betreuung der Touristengruppe abkommandiert worden, bis die Metropolitan Police sie vernehmen konnte. Durch die Fenster drang das Flackern des Blaulichts, Stimmen und Geräusche ließen hektische Betriebsamkeit spüren.
Die Stimmung in der Gruppe schwankte zwischen Sensationslust – schließlich waren sie bei dem Ereignis, das die Schlagzeilen der nächsten Tage beherrschen würde, sozusagen live dabei gewesen – und dem Unwillen, in diesem beengten Raum so lange eingesperrt zu sein. John organisierte Tee und Gebäck, beschwichtigte hier und tröstete dort.
Der Deutsche – Mr. Wichtig nannte ihn John bei sich – hatte sich offensichtlich mit der Situation abgefunden und freute sich wohl schon auf die Geschichten, die er zu Hause zum Besten geben würde. Auf seine Nachfrage erklärte ihm John, dass er für einige Jahre in Deutschland stationiert gewesen sei.
„Wie kommt man von der Armee zu diesem Beefeater-Job?“
Diese Frage hatte John bei den Touristen-Führungen durch den Tower, die zu seinen Aufgaben zählten, schon unzählige Male beantwortet.
„Nach mindestens zweiundzwanzig Jahren beim Militär und nach Erreichen eines bestimmten Dienstgrades gibt es die Möglichkeit, sich hier zu bewerben. Allerdings haben nur wenige das Glück, genommen zu werden, da dies ein Job auf Lebenszeit ist und daher nur selten eine der 36 Stellen frei wird – “ Weiter kam er nicht, da mehrere Uniformierte der Londoner Polizei eintraten.
„Wir übernehmen jetzt. Sie werden draußen erwartet.“ Erleichtert verabschiedete sich John mit einem Winken von der Besuchergruppe und trat in die kalte Nachtluft hinaus. Er atmete erst einmal tief durch. Nach dem überhitzten Raum tat die beißend kalte Winterluft gut. Doch die Verschnaufpause sollte nur von kurzer Dauer sein. Ein weiterer Uniformierter trat an ihn heran.
„Sind Sie Mackenzie? Der Superintendent möchte Sie sprechen.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging voran. John blieb nur, ihm zu folgen. Die Szene um ihn herum kam ihm vollkommen irreal vor. Alle verfügbaren Scheinwerfer waren eingeschaltet, um die Water Lane, den nach Sonnenuntergang sonst eher düsteren Weg entlang des Festungswalles, taghell auszuleuchten. Anstatt der sonst üblichen Touristenhorden aus aller Herren Länder hatte heute Nacht die Polizei diesen Teil des Towers schier überschwemmt.
Die größte Menschentraube befand sich in der mit einem niedrigen Geländer abgesperrten Nische unter dem St. Thomas Tower, die zum Verrätertor führte. Von der Außenseite war das Tor nur per Boot erreichbar. Auf diesem Weg wurden in früheren Jahrhunderten Gefangene direkt von der Themse aus in die Festung gebracht.
Nur bei niedrigem Gezeitenstand der Themse war die tief liegende Nische, die von der Festungsseite aus über eine Steintreppe erreichbar war, trockenen Fußes begehbar. Ein flüchtiger Blick sagte John, dass der gegenwärtige Niedrigwasserstand bald beendet sein würde. Durch das Torgitter schwappten bereits erste kleine Wellen herein.
Vor der Wachstube des Cradle Tower stoppte der Uniformierte und öffnete ihm die Tür.
„Bitte warten Sie hier. Der Superintendent wird gleich bei Ihnen sein.“ John setzte sich auf eine Fensterbank in der Wachstube und genoss für einen Augenblick die Stille.
Unvermittelt fiel ihm der Rabe Gworran wieder ein. Ein Diensttelefon war in Griffweite – sollte er dem Ravenmaster doch noch Bescheid geben? Unentschlossen nahm er den Hörer zur Hand. Da öffnete sich die Tür zum Nebenraum.
Der Mann, der eintrat, erschien wie aus dem Ei gepellt. Schuhe, Anzug, Mantel – alles schrie einem geradezu Savile Row entgegen. Mit wenigen Schritten war er bei John, nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte ihn mit Nachdruck auf die Gabel.
„Keine Telefonate. Ich brauche deine Zeugenaussage. Jetzt.“
„Ich freue mich auch sehr über unser Wiedersehen, Simon. Wie ich sehe, bist du deinem Schneider treu geblieben. Auch dein Charme ist ganz der alte.“
Sein eisig-höflicher Tonfall gab keinen Hinweis darauf, was in diesem Moment in John Mackenzie vorging. Tatsächlich hätte er Superintendent Simon Whittington – in einem Anfall regressiv-infantiler Tendenzen, wie er sich selbst innerlich tadelte – am liebsten den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt.
„Oh, was für ein hübscher Junge!“ Das begeisterte Gurren seiner Verwandten, wenn sie seinen jüngeren Cousin Simon umflatterten, hatte John immer noch im Ohr.
Simon hatte von Beginn an ein bemerkenswertes Talent gehabt, die Menschen in seiner Umgebung, vor allem die weiblichen Geschlechts, um den Finger zu wickeln. Gleichzeitig schaffte er es immer wieder, seine Missetaten anderen in die Schuhe zu schieben.
„Buhuhu, John hat meinem Lieblingsteddy den Kopf abgerissen.“ Mit solchen und ähnlichen Klagen war er theatralisch weinend zu Johns Mutter gelaufen, nachdem er in einem seiner Anfälle von Jähzorn wieder etwas zerstört hatte.
Platzte John oder einem seiner Geschwister einmal der Kragen, hieß es stets, sie müssten doch vernünftig sein, ihr Cousin mache das doch nicht mit Absicht. Zudem habe es der Junge doch schwer mit seiner kranken Mutter und dem Vater, der kaum einmal zu Hause sei. Da sollte man doch etwas großzügiger mit ihm sein.
Tante Vivian, die Schwester von Johns Mutter, war immer von zarter Gesundheit gewesen und hatte viel Zeit in Krankenhäusern verbringen müssen. Dort hatte sie Charles Richard Whittington kennengelernt, der nicht nur ein engagierter Arzt war, sondern dazu noch aus derselben Familie stammte wie der legendäre Bürgermeister der Stadt London im 15. Jahrhundert – wie er auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit einfließen ließ. Vivian hatte wenige Jahre nach ihrer Heirat feststellen müssen, dass sich der vielversprechende junge Mann zunehmend in einen vom Ehrgeiz zerfressenen Workaholic verwandelte, der immer weniger in ihrem Heim in Kew vor den Toren Londons anwesend war. Zu ihrer angegriffenen Gesundheit kamen Depressionen. So hatte sie das Angebot ihrer Schwester, sich um ihren Sprössling zu kümmern, dankbar angenommen. Johns Vater, Kurator im Londoner Naturkundemuseum mit einer Leidenschaft für Dinosaurierknochen, hatte nichts dagegen gehabt, wenn sein Neffe die Wochenenden und Schulferien bei ihnen verbrachte. So hatten John und seine beiden Geschwister zähneknirschend mit dem kleinen Tyrannen leben müssen.
Was John am meisten an seinem Cousin hasste, war dessen Vorliebe dafür, Anderen nachzuspionieren. Es war schon für den Eton-Schüler Simon Whittington ein Hauptspaß gewesen, unangenehme Dinge über seine Mitschüler herauszufinden und sie damit unter Druck zu setzen. So hatte er es bereits damals geschafft, sich ein recht angenehmes Leben zu machen, in dem viele seiner Pflichten von seinen geplagten Mitschülern übernommen wurden. Mehr noch als das genoss Simon jedoch das Gefühl der Macht über Andere und er kostete es weidlich aus.
In den Jahren seit John zum Militär gegangen war, waren sie sich nur noch wenige Male bei Familienfeiern begegnet. Hier war Simon immer noch der Star, der nach zahllosen Affären durch seine Heirat mit Patricia Armsworth, einer entfernten Cousine der Herzogin von York und seine steile Karriere bei der Kriminalpolizei für Gesprächsstoff sorgte.
„Er hat ein echtes Gespür dafür, wenn jemand versucht, etwas zu verbergen und er schafft es auch, Geständnisse zu bekommen.“, gestand ihm Johns ältere Schwester Maggie widerwillig zu. Als Staatsanwältin kreuzten sich ihre Wege gelegentlich mit denen des Superintendenten. „Dennoch: Aus dem kleinen Monster von damals hat sich ein intriganter und machthungriger Widerling entwickelt. Ein echtes Rabenaas eben.“
Und nun dieses Wiedersehen. Die beiden Männer starrten sich einen Moment wortlos an. Dann erwiderte der Superintendent mit einem ironischen Lächeln, „Wer hätte soviel modischen Verstand von jemandem erwartet, der sein gesamtes berufliches Leben in einer zweckmäßigen Uniform verbracht hat, die ihm der britische Steuerzahler zur Verfügung gestellt hat?“
Er musterte John betont von oben bis unten.
„Ein Job, der das Tragen dieses lächerlichen Gewandes erfordert, wäre für mich unvorstellbar. Aber für dich war es sicher ein Aufstieg – vom Seelenklempner zum Bewacher der Kronjuwelen.“ Damit drehte er sich um und winkte John, ihm ins Nebenzimmer zu folgen. John unterdrückte erfolgreich den Impuls, seinem Cousin den nächstbesten harten Gegenstand an den Kopf zu werfen und stampfte hinterher.
Der Superintendent setzte sich an einen Tisch und bedeutete John, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ein Constable, der an der Wand saß, einen Block in der Hand, nickte John zu.
„Du kannst dir sicher vorstellen, dass es ein beträchtliches öffentliches Interesse an einer schnellen Aufklärung dieses Falles gibt. Ein gewaltsamer Tod mitten in einem unserer nationalen Wahrzeichen – diese Geschichte wird über unsere Landesgrenzen hinaus für Aufsehen sorgen. Ich bin auf ausdrücklichen Wunsch von höchster Ebene mit den Ermittlungen betraut.“ Selbstgefällig strich Whittington seine Seidenkrawatte glatt. Dann beugte er sich über den Tisch und fixierte John mit einem eindringlichen Blick.
„Also, was weißt du darüber?“
John fühlte sich unversehens wie der Hauptverdächtige eines Kapitalverbrechens.
„Ich weiß fast nichts. Adams und ich haben anhand der Einlassliste den Namen und die Adresse der Toten herausgefunden –“ Ungeduldig winkte Whittington ab.
„Das wissen wir längst. Sie ist eine Austauschstudentin aus Deutschland, wir haben ihre Papiere bei ihr gefunden. Aber du musst doch etwas beobachtet haben. Nach meinen Informationen war dein Dienstbeginn um 22.00 Uhr. Der diensthabende Offizier hat mich darüber unterrichtet, dass du dich eine Minute nach zehn vom Wachhäuschen am White Tower auf den Weg zu deinem Dienst im Byward Tower gemacht hast. Damit musst du die Besuchergruppe passiert haben, die nach dem Ende der Schlüsselzeremonie durch die Water Lane hinausging.“
„Äh…“ John spürte, wie er errötete. „Tatsächlich habe ich kurz nach den Raben gesehen. Während ich beim Gehege war, muss die Gruppe vorbeigekommen sein. Ich … habe nicht aufgepasst.“
„Was hattest du bei den Raben verloren? Das fällt doch gar nicht in deinen Aufgabenbereich, oder doch?“
„Nein“, gestand John. „Aber ich habe mich mit dem Ravenmaster angefreundet und die Tiere interessieren mich. Ich schaue oft bei ihnen vorbei, wenn ich frei habe.“
Messerscharf kam der Einwand, „Du hattest aber nicht frei, sondern hattest deinen Wachdienst anzutreten.“
John versuchte sich zu verteidigen.
„Das Gehege liegt genau auf dem Weg und zudem hätte es nicht mal eine Minute gedauert. Aber einer der Raben, Gworran, er kann Geräusche wirklich fantastisch nachahmen und ist ein sehr gelehriges Tier – “ John bemerkte den mörderischen Blick seines Cousins. „Also, Gworran wirkte sehr seltsam, er sah krank aus. Deshalb war ich ein wenig länger dort und habe überlegt, ob ich George Campbell, den Ravenmaster, benachrichtigen soll. Als ich bemerkte, dass es schon fünf nach zehn war, habe ich entschieden, ihn von der Wachstube anzurufen und bin losgelaufen. Als ich dort ankam, hatte Adams schon festgestellt, dass eine Person aus der Gruppe fehlte. Ab dem Zeitpunkt bin ich aus der Wachstube im Byward Tower nicht herausgekommen, weil ich Befehl hatte, bei der Gruppe zu bleiben.“ John atmete tief aus.
Whittington runzelte unzufrieden die Stirn.
„Dann erzähl mir etwas über die Touristengruppe. Gab es da jemanden, der dir aufgefallen ist?“ John überlegte fieberhaft. Dann schilderte er seinem Cousin die wenigen Eindrücke, die er in dem Durcheinander gewonnen hatte. Als er von Mr. Wichtig und der Handelsdelegation erzählte, erhellte sich Whittingtons Gesicht.
„Deutsche, soso. Vielleicht gibt es da eine Verbindung. Na, das finden wir schon heraus.“ Abrupt stand er auf. „Du wirst dir jetzt die Leiche ansehen. Ich will wissen, ob du das Mädchen schon einmal gesehen hast.“
Schweigend gingen sie den Weg zurück bis zum Verrätertor. Die Menge der Uniformierten teilte sich bei der Ankunft des Superintendenten respektvoll.
„Sir, wir mussten die Leiche vom Tatort entfernen. Der Wasserspiegel in der Nische stieg zu schnell. Wir bringen sie dann ins Labor der Spurensicherung, wenn Sie einverstanden sind.“
„Einen Moment noch. Ich möchte, dass Mr. Mackenzie hier noch einen Blick auf die Tote wirft.“
Als John im grellen Scheinwerferlicht wenige Schritte von der Toten entfernt stand, nahm er ein allzu vertrautes Brausen, Klingeln, Kreischen wahr. Diesen entsetzlichen Lärm in seinem Kopf, der ihm über Monate das Leben zur Hölle gemacht hatte. Nein!, schrie es in ihm. Alles, nur das nicht.
Durch den Lärm drang die Stimme seines Cousins an sein Ohr, der ihn scharf beobachtete.
„Ist dir die Tote bekannt, John?“ John schüttelte stumm den Kopf. Nein, er war sich sicher, diese junge Frau mit den glatten blonden Haaren, deren Finger sich im Todeskampf in den braunen Schal verkrallt hatten, der unbarmherzig eng und immer enger gezogen worden war, noch nie gesehen zu haben.
Er atmete bewusst ein und wieder aus und zwang sich, sich auf Einzelheiten zu konzentrieren. Braune Winterstiefel, Jeans und eine wattierte Jacke. Soweit sich das noch beurteilen ließ, ebenmäßige Gesichtszüge und sorgfältig gezupfte Augenbrauen. Als sein Blick weiter wanderte, bemerkte er, dass die Schnalle des kleinen Rucksacks, der neben ihr lag, offen stand. Ob sie ihn wohl gerade geöffnet hatte, als sie angegriffen worden war? Oder hatte der Mörder etwas darin gesucht und dann vergessen, ihn zu schließen? Vielleicht hatte die Polizei ihn auch auf der Suche nach den Papieren der Toten geöffnet.
John wurde bewusst, dass die meisten Umstehenden ihn anstarrten. Er räusperte sich.
„Tut mir leid, Simon, mir ist diese Frau völlig unbekannt.“ Whittington sah ihn noch einen Moment lang misstrauisch an, dann wandte er sich zu einem Mann in Zivil um. Nach einem kurzen Wortwechsel kam er auf John zu, nahm ihn beim Arm und führte ihn ein paar Schritte zur Seite.
„Wir werden jetzt versuchen, durch die Befragung der Besucher und die Aufzeichnungen der Überwachungskameras den Todeszeitpunkt genauer zu bestimmen. Persönlich halte ich es für wahrscheinlich, dass die Tat beim Verlassen des Towers begangen wurde. Ob sie auf dem Weg erwürgt wurde und dann über das Geländer in die Nische hinunterbefördert wurde oder sich Opfer und Täter unten in der Nische befanden, wird sich herausstellen. Tatsache ist, dass der Täter ein hohes Risiko einging. Von der Water Lane aus hätte er leicht beobachtet werden können.“ Er trat einen Schritt näher an John heran.
„Ist es nicht höchst … seltsam, dass die Wachablösung, deren Weg exakt am Verrätertor vorbeiführt, genau an diesem Abend einige Minuten später erfolgte als sonst, weil der Wachhabende angeblich nach einem“ – er spie das Wort geradezu aus – „Vogel sehen musste.“ Nun kam er ganz nahe heran und feuerte eine letzte Breitseite ab.
„Ist dir schon in den Sinn gekommen, dass das Mädchen noch am Leben sein könnte, wenn du deinen Dienstpflichten nachgekommen wärst?“
Trotz seines grimmigen Tons war ein triumphierendes Funkeln in seinen Augen, als er John mit den Worten „Du wirst dich zu unserer Verfügung halten.“ stehen ließ.