Angespannt betrat John das mittlerweile vertraute Gebäude von Scotland Yard. Er hoffte inständig, durch sein Gespräch mit George einige Antworten finden zu können. Er meldete sich beim Empfang an. Nachdem er einige Minuten gewartet hatte, sah er sich jedoch der Person gegenüber, der er am allerwenigsten begegnen mochte: Simon Whittington. Sein Cousin schritt durch die Eingangshalle auf ihn zu und musterte ihn mit ausdruckslosem Gesicht. „John. Wir müssen uns unterhalten.“ John fluchte lautlos und folgte dem Superintendenten in dessen Büro.
Unaufgefordert ließ er sich in einem der Besuchersessel nieder und setzte ein unschuldiges Lächeln auf.
„Wie geht es mit dem Fall voran, Simon? Der Presse lässt sich ja leider kaum etwas darüber entnehmen.“ Whittington knipste ebenfalls ein Lächeln an und ließ seine makellosen Zahnreihen blitzen. „Ich freue mich über dein Interesse. Du bist sicher gekommen, um mir zu berichten, was dir George Campbell bei eurer nächtlichen Unterredung gestern erzählt hat.“
John zeigte wieder einmal seine verbundene Hand, die kaum noch schmerzte.
„Wie du weißt, ist George der Ravenmaster des Towers. Seit er verhaftet wurde, habe ich seine Pflichten übernommen. Allerdings habe ich noch zu wenig Erfahrung, wie man sieht. Stell dir vor, was passiert ist: Ich kam zu spät zur Abendfütterung und – “
„Ich hatte dich gefragt, über was du und Campbell gesprochen habt.“, unterbrach Whittington ihn zähneknirschend.
„Das versuche ich dir ja gerade zu erklären. Nachdem mich einer der Raben angegriffen hatte – allerdings war ich selbst daran schuld – brauchte ich dringend einige Tipps von George. Immerhin stehen die Raben sozusagen in königlichen Diensten und haben das Anrecht auf die beste Pflege – “
„Du willst doch nicht behaupten, ihr habt euch nur über diese Viecher unterhalten? Nach den Aufzeichnungen der Wache hat Campbell während eures Gesprächs einen sehr betroffenen Eindruck gemacht und sogar geweint. Wie willst du mir das bei so einem läppischen Thema plausibel machen?“ John legte einen tief erschütterten Ausdruck auf sein Gesicht. „Läppisches Thema? Die Raben sind Georges Lebensinhalt, und das seit über zwanzig Jahren. Natürlich war er bestürzt, als er von Brans Verhalten gehört hat. Bran ist sozusagen der Rudelführer der Tiere – “ John konnte sehen, wie eine Ader an der Stirn seines Cousins anschwoll und er musste sich ein Grinsen verbeißen.
Abrupt stand sein Cousin auf und baute sich vor John auf. „Was kannst du mir über den Suizidversuch von Marcia Campbell sagen?“
„Ich weiß nur, dass wir sie gerade noch rechtzeitig gerettet haben. Doc Hunter hat uns heute Morgen aus dem Krankenhaus angerufen, dass sie zwar noch nicht über den Berg ist, aber immerhin lebt. Deswegen bin ich hier, schließlich muss George davon erfahren.“
„Warum hat sie das getan?“
John zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das wirst du sie selbst fragen müssen, sobald man wieder mit ihr sprechen kann. Aber welche Frau würde es nicht schwernehmen, wenn ihr geliebter Gatte unter Mordverdacht verhaftet wird?“
„Wie kam es, dass ausgerechnet du und dieser Mullins sie so schnell gefunden habt?“
„Als die Krankenschwester Alarm gegeben hat, dass Marcia verschwunden war, haben wir Suchmannschaften gebildet. Chief Mullins und ich haben in der Water Lane nachgesehen und sie dort entdeckt.“ Verwundert registrierte John, wie leicht ihm die Lügen über die Lippen gingen. Er bemerkte, dass er begann, dieses kleine Schauspiel richtiggehend zu genießen. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun oder kann ich jetzt zu George?“, fragte er freundlich.
Nun war es an Whittington, überlegen zu lächeln. „Nein, tut mir leid.“
„Wie bitte? Wieso nicht?“, begehrte John auf. Der Superintendent ging wieder um den Schreibtisch herum, ließ sich in seinen Sessel fallen und streckte lässig die Beine von sich.
„Tja, lieber Cousin, ich hatte dich ja gewarnt: Auf Einmischung in meine Ermittlungen reagiere ich allergisch. Also untersage ich dir ab sofort den Kontakt zu unserem Verdächtigen.“
„Dazu hast du nicht das Recht!“ Whittington griff nach dem mit seinen Initialen verzierten Zigarrenetui und nahm eine der dicken Rollen heraus. Genüsslich hielt er sich eine Cohiba unter die Nase. „Ich verstehe deine Enttäuschung. Tatsächlich kann ich in Fällen, wo eine Verdunklungsgefahr besteht, beim leitenden Staatsanwalt ein Kontaktverbot beantragen. Ausgenommen davon bleibt selbstverständlich der Anwalt des Verdächtigen. Wir sind schließlich ein Rechtsstaat.“
„Verdunklungsgefahr? Verdammt, Simon, so etwas kannst du mir nicht einfach unterstellen. Du – “
„Vorsicht, was du sagst, John. Bevor du dich hier noch weiter echauffierst, sieh dir das mal an.“ Er zog ein Foto aus einer Schublade und warf es John hin. Sprachlos starrte John auf das Bild.
„Das willst du gegen mich verwenden? Das meinst du nicht ernst.“ Whittington würdigte ihn keines Blickes und beschäftigte sich hingebungsvoll mit seiner Zigarre. John hielt es nicht mehr in seinem Sessel. „Wie viele Jahre ist das her? Mindestens fünfundzwanzig. Ich war damals noch nicht mal volljährig. Ich bekam eine Ermahnung und das war´s. Nicht mal die Army hat das interessiert und du kannst mir glauben, die prüfen das Vorleben eines jeden sehr genau.“
„Immerhin habt du und deine Ökofreunde damals mit euren Sitzstreiks auf der Zufahrtsstraße den Betrieb in Sellafield so gut wie lahm gelegt und die Polizei an der Ausübung ihrer Pflichten gehindert.“
„Die Betreiberfirma hatte radioaktive Abfälle ins Meer geleitet und riesige Gebiete verseucht! Damals sind Leute aus dem ganzen Land mit Bussen nach Sellafield gefahren, um zu demonstrieren – “
„Das tut hier nichts zur Sache. Widerstand gegen die Staatsgewalt und Eingriff in den Straßenverkehr – und dazu noch die Tatsache, dass ihr Beefeater bekanntermaßen eine verschworene Gemeinschaft seid, deren Mitglieder füreinander lügen würden, ohne mit der Wimper zu zucken – für Sir Fenton Carruthers war das Grund genug, Kontakte zu dir und dem Rest der Tower-Bagage vorerst zu unterbinden.“ Das selbstzufriedene Lächeln verschwand.
„Lass dir etwas gesagt sein: Das war das letzte Mal, dass du dich in meine Ermittlungen eingemischt hast. Ansonsten wirst du dich wundern, welche Geschütze ich noch auffahren kann.“ Whittington lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück. „Und nun wünsche ich dir einen guten Tag. Constable Hewitt wird dich zum Ausgang geleiten.“
In seinem Kopf toste es, als John neben Mullins auf dem Rückweg von Sir Fitzgeralds Kanzlei im Taxi saß. Der Anwalt hatte versprochen, sich umgehend nach ihrem Gespräch zu Scotland Yard aufzumachen. Empört über Whittingtons Schachzug hatte er für den folgenden Tag einen Termin beim leitenden Staatsanwalt erwirkt. „Was der Superintendent da vorbringt, ist einfach lächerlich. Aber er hat beim alten Carruthers einen Stein im Brett, und zwar nicht erst, seit er die Bayswater-Morde im letzten Jahr so schnell aufgeklärt hat. Ich werde sehen, was ich tun kann, um dieses hanebüchene Kontaktverbot wieder aufheben zu lassen. Einstweilen hoffen wir, dass George in dieser Lage endlich zu einem Gespräch mit ihm bereit ist.“
Müde lehnte John sich in das zerschlissene Polster zurück. Er hatte das Ohrensausen, das nach Brans Attacke schnell wieder abgeklungen war, wie einen alten Bekannten begrüßt. Einen Bekannten, der sich hoffentlich bald wieder verabschiedete.
Wenn er an die Szene in Whittingtons Büro zurück dachte, spürte er wieder ohnmächtige Wut in sich aufsteigen. „Es geht Whittington wie immer nur um eins: Macht. Dieses egomanische Scheusal, dieser….“, grummelte er vor sich hin.
„Sie sehen schrecklich aus, Mackenzie.“, bemerkte Mullins mit einem Seitenblick. „Ich lasse sie für ein, zwei Tage vom Dienst befreien. Erholen Sie sich erst mal.“
„Nein, Chief. In der letzten Zeit habe ich sowieso kaum einmal regulär Dienst geschoben. Die heutige Nachtwache im Byward Tower übernehme ich auf jeden Fall, das schaffe ich schon.“ Er nieste wieder. „Ihnen scheint das alles gar nichts auszumachen. Sie müssen eine eiserne Konstitution haben, Chief.“ Mullins grinste.
„Sagen wir mal so: In fünfundzwanzig Jahren Einsatz bei der Royal Air Force habe ich vielleicht eine größere Widerstandskraft gegen Stress, Kälte und Vogelangriffe entwickelt als Sie hinter Ihrem Schreibtisch.“ Er lachte herzhaft. „Aber machen Sie sich keine Gedanken, Mackenzie: Für einen Psycho-Onkel halten Sie sich ganz brauchbar.“
John hatte gehofft, nach der Abendfütterung eine Mütze voll Schlaf zu erwischen, bevor er um 22.00 Uhr seinen Wachdienst antrat. Das Klingeln des Telefons riss ihn jedoch unsanft aus dem Schlummer. „Sind Sie das, Mr. Mackenzie? Walters am Apparat.“
„Oh, Sir Fitzgerald, guten Abend.“ Nun war er wieder hellwach. „Was gibt es? Konnten Sie mit George sprechen?“
„Ja. Ich habe versucht, ihm den Selbstmordversuch seiner Frau möglichst schonend beizubringen, aber er war dennoch schwer getroffen. Als ich ihm sagte, dass Sie vorerst nicht mit ihm sprechen dürften, erwiderte er, dann würde er warten, bis man Sie wieder zu ihm lassen würde. Er scheint kein Vertrauen zu mir zu haben.“, schloss der Anwalt gekränkt.
„Das hatte ich befürchtet. Sir Fitzgerald, bitte versuchen Sie Ihr möglichstes, damit der Staatsanwalt die Kontaktsperre möglichst schnell wieder aufhebt. George verfügt über wichtige Informationen, ohne die wir nicht weiterkommen.“ Der Anwalt versprach es und legte auf. Flüchtig überlegte John, ob er Maggie bitten sollte, bei ihrem Kollegen ein gutes Wort für ihn einzulegen. Dann entschied er sich dagegen, um seine Schwester nicht noch weiter in die Sache hineinzuziehen. Sie hatte ohnehin schon ein beträchtliches Risiko auf sich genommen.
Nachdem er die Besucher der Schlüsselzeremonie vollzählig hinausgelassen hatte, setzte John sich hinter den Schreibtisch im Byward Tower und lauschte dem Ticken der Wanduhr. Der Zeiger bewegte sich nur quälend langsam vorwärts, während er mit dem Wunsch kämpfte, den Kopf auf die Arme zu legen und die Augen zu schließen. Aber dann würde er sicher nicht rechtzeitig zu seinem Kontrollgang um 23.30 Uhr aufwachen. Auf der Suche nach einer Ablenkung durchblätterte er die Aufzeichnungen der Wache. 178 High Holborn, London WC1. Julia Feldmanns Adresse sprang ihm ins Auge. Ein Blick in die Datenbank des Towers ergab auch ihre Telefonnummer, die alle Bewerber für ein Ticket zur Schlüsselzeremonie angeben mussten. Ohne sagen zu können, warum, griff er zum Telefon.
Da die Polizei das Apartment sicher noch nicht zur Weitervermietung frei gegeben hatte, erwartete er, dass sich niemand melden würde.
„High Holborn Residence, Empfang, Garrett am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Verdattert hielt John den Hörer in der Hand, aus dem die gelangweilte Stimme drang. Er hatte sich keinerlei Gedanken gemacht, was er sagen sollte. Dann kam ihm eine Idee.
„Äh, guten Abend. Wir suchen eine Unterkunft für unsere Tochter. Meine Frau hat gehört, dass in Ihrem Studentenwohnheim ein Einzelapartment frei geworden ist.“
Der Mann schnaubte. „Das kann man so sagen. Die Vormieterin dürfte das wohl prominenteste Mordopfer des Vereinigten Königreichs sein. Sie haben sicher davon gelesen.“
„Natürlich. Eine schreckliche Geschichte. Ist das Apartment denn schon wieder zugänglich?“
„Gestern haben wir endlich die Freigabe von der Polizei bekommen. Sie haben ohnehin längst alles mitgenommen, was Miss Feldmann gehört hat. Aber hören Sie, Mister, wir nehmen während der Vorlesungszeiten nur Studenten der London School of Economics.“
„Unsere Tochter ist gegenwärtig im ersten Jahr an der LSE. Momentan lebt sie in einer WG, aber sie versteht sich mit ihren Mitbewohnern nicht und möchte daher so schnell wie möglich ein Einzelapartment beziehen.“
„Aha. Naja, wenn Sie wollen, dann kommen Sie doch in den nächsten Tagen vorbei und sehen sich das Zimmer an. Normalerweise haben wir eine Warteliste für freie Räume, aber mitten unter dem akademischen Jahr haben die meisten Studenten schon etwas gefunden und der große Run setzt dann erst wieder ein, kurz bevor nächstes Jahr die neue Vorlesungszeit beginnt. Aber ich sage Ihnen gleich, die High Holborn Residence ist ein sehr gepflegtes Haus mit bester Ausstattung und zentraler Lage. Der Preis ist also entsprechend.“
„Was kostet das Zimmer denn?“
„So um die sechshundertfünfzig Pfund im Monat. Vierzehn Quadratmeter inklusive eigenem Waschbecken. Küche und Bad teilen sich jeweils fünf Zimmer.“
„Nun ja, das ist nicht billig, aber es sprengt unseren finanziellen Rahmen auch nicht. Passen Sie auf, ich komme morgen am frühen Abend mal vorbei und werfe einen Blick darauf.“
„Mein Dienst beginnt immer erst um zwanzig Uhr, also wird ein Kollege von mir da sein. Am besten geben Sie mir Ihren Namen, dann sage ich ihm Bescheid, dass Sie kommen.“ John überlegte fieberhaft. Wenn Simon zu Ohren kam, dass er sich im Studentenwohnheim umgeschaut hatte, drohte neuer Ärger. So gab er den ersten Namen an, der ihm in den Sinn kam. „Murray, John Murray.“
Nach dem Ende seiner Nachtwache um sechs Uhr morgens ging John zum Rabenhaus, um das Futter herzurichten. Obwohl es noch dunkel war, wurden die Vögel munter, während er das Fleisch und die hartgekochten Eier kleinschnippelte. Er füllte ihre Näpfe, öffnete die Voliere und ging dann in seine Wohnung, um vor seinem nachmittäglichen Besucherdienst einige Stunden bitter benötigten Schlaf hereinzuholen.
Bevor er seine erste Gruppe vor dem White Tower abholte, machte er einen Abstecher in Mullins´ Büro. „Chief, haben Sie von Sir Fitzgerald gehört?“
„Nein. Er wollte mich nach seinem Gespräch mit dem Staatsanwalt anrufen, aber bis jetzt warte ich noch auf Nachricht von ihm. Stattdessen hatte ich vorhin einen Anruf von Richard Campbell. Er wollte sich bei mir und natürlich auch bei Ihnen für die Rettung seiner Mutter bedanken. Allerdings schien er mir einigermaßen verwirrt, weil Marcia ihm sagte, sein Vater wäre unschuldig. Er wollte wissen, wie wir darauf kämen. Als ich ihm von Ihrem Gespräch mit George erzählte, schien er es gar nicht recht glauben zu können.“ Er sah John scharf an.
„Sie sind sich Ihrer Sache doch sicher, Mackenzie? Wenn wir Marcia vergebens Hoffnung gemacht hätten, wäre das sehr grausam.“ John hielt seinem Blick stand.
„Ich bin mir sicher, Sir: Wer auch immer Julia Feldmann umgebracht hat, George war es nicht.“ Mullins nickte.
„Gut. Da wir Richard ja noch nicht von der Liste der Verdächtigen gestrichen haben, dachte ich mir, ich fühle ihm doch gleich mal auf den Zahn. Also fragte ich ihn, ob ihm irgendetwas aufgefallen ist, während sein Vater mit den Gästen bei der Schlüsselzeremonie war. Aber er hat nur das bestätigt, was Owen Ihnen schon sagte: Dass sie beide in der Bar von ihren Mobiltelefonen aus Gespräche mit Sponsoren geführt hätten. Auch meine Frage, ob einer der beiden den Club zum Rauchen verlassen hat, verneinte er.“
„Hm. Das könnte die Wahrheit sein, oder die beiden haben sich abgesprochen, wer weiß. Mir kam gestern Nacht die Idee, mir das Umfeld von Julia Feldmann näher anzusehen. Heute nach Dienstschluss werde ich mir ihr Apartment ansehen. Vielleicht kann ich ja mit ihren Nachbarn ins Gespräch kommen.“ Der Chief sah ihn erstaunt an.
„Wie haben Sie das geschafft? Unser hochgeschätzter Superintendent gewährt Ihnen doch sicher keinen Zutritt zu der Wohnung.“ John grinste.
„Natürlich nicht. Aber die Polizei hat offensichtlich alle Spuren gesichert und das Apartment zur Neuvermietung frei gegeben. Also kann ich es heute als treusorgender Vater einer Studentin und potenzieller Mieter besichtigen.“ Mullins pfiff anerkennend.
„Sie Schlitzohr! Na, dann viel Glück und lassen Sie sich nicht von Ihrem Cousin erwischen.“
Eine Traube junger Leute quoll aus dem Haupteingang der High Holborn Residence, als John hineinging. Er meldete sich am Empfang und wurde von einem freundlichen jungen Mann, den sein Namensschild als Carl auswies, in den zweiten Stock geführt.
„Da wären wir. Alle unsere Apartments sind voll möbliert, wie Sie sehen. Dusche und Küche sind gleich hier, müssen allerdings mit vier weiteren Studenten geteilt werden.“
„Carl, die Tür der Mikrowelle klemmt schon wieder! Sieh dir das mal an.“ Eine in Joggingsachen gekleidete junge Frau stand vor der Küchenzeile, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Bin schon da, Alison. Sehen Sie sich ruhig um, Mr. Murray.“ Carl wandte sich dem widerspenstigen Gerät zu. John wanderte in das Einzelzimmer, das Julia Feldmann bewohnt hatte. Auf engem Raum drängten sich ein schmales Bett, ein Schreibtisch mit zwei Stühlen, ein Kleiderschrank und ein Bücherregal. Das kleine Waschbecken war blank geputzt, konnte sein Alter genauso wie das zweckmäßige Mobiliar aber nicht leugnen. Alles in allem fühlte John sich stark an seine eigene Studentenbude erinnert, mit Ausnahme des modernen Telefons auf dem Schreibtisch. Die Wände waren leer, auf dem Boden kein Krümel. Er warf einen schnellen Blick durch die halb offene Tür hinaus. Carl war immer noch mit dem Mikrowellengerät beschäftigt. Er öffnete den Kleiderschrank. Auch hier herrschte gähnende Leere, wie auch in dem kleinen zimmereigenen Safe, dessen Tür offen stand. Auch in den Schreibtischschubladen war nichts zurückgeblieben, ebensowenig wie unter der Matratze, die John verstohlen anhob.
Als er wieder in die Küche hinausging, kam er sich wie ein Idiot vor. Was hatte er erwartet? Einen Notizzettel mit dem Namen ihres Drogendealers? Fotos, die sie für eine Erpressung verwenden wollte? Den Namen ihres Mörders in die grässliche beige Wandfarbe geritzt?
Draußen hatte Carl endlich das Problem gelöst und Alison holte einen Becher erhitzte Nudelsuppe aus der Mikrowelle. Ohne ein Dankeswort verließ sie die Küche und verschwand in ihrem Zimmer. Carl zuckte mit den Schultern und sah John fragend an.
„Denken Sie, es gefällt Ihrer Tochter? Natürlich ist die Einrichtung nicht die neueste und die Farbe muss irgendwann erneuert werden, aber dafür haben wir einen gut ausgestatteten Computerraum mit allen Schikanen, eine Bar mit Billardraum und eine hauseigene Wäscherei. Und die Lage ist unschlagbar.“ John lächelte über den Eifer des jungen Mannes.
„Am besten soll sie es sich selbst einmal ansehen. Ich für meinen Teil finde es ganz in Ordnung. Sagen Sie, können Sie mir etwas über die Mitbewohner sagen? Meine Tochter möchte aus ihrer jetzigen Wohnung ausziehen, weil es mit den anderen Mitgliedern der Wohngemeinschaft einfach nicht passt. Ich will nicht, dass das wieder passiert.“ Carl überlegte angestrengt.
„Hm. Wir haben vierhundertfünfzig Studenten im Haus und ich arbeite erst seit ein paar Monaten hier, da kenne ich natürlich bei weitem nicht alle. Am ehesten noch die“, er wies mit einer Kopfbewegung auf Alisons geschlossene Tür, „die sich öfter mal beschweren, weil irgendeine Kleinigkeit nicht in Ordnung ist. Auf jeden Fall ist dies eine rein weibliche Gruppe. Außer Alison kenne ich nur noch Jean Falston persönlich, die ist ganz in Ordnung.“
„Haben Sie auch die Vormieterin des Zimmers gekannt? Die umgebracht wurde?“
Carl nickte. „Julia Feldmann. Die ist mir aufgefallen, weil sie besonders ruhig und zurückhaltend war. Durchaus höflich, aber, Sie wissen schon, so ein bisschen Rühr-mich-nicht-an.“
„Ich weiß, was Sie meinen. Hatte sie Kontakte zu ihren Mitbewohnerinnen?“
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich kaum, die hatte wohl immer nur ihr Studium im Kopf. Unten in unserer Bar hab ich sie auf jeden Fall nie gesehen. Wollen Sie denn mit Ihrer Tochter noch einmal vorbeikommen? Dann sollten Sie sich beeilen, es hat sich schon herumgesprochen, dass das Zimmer wieder zu haben ist. Heute war bereits eine Studentin da, um es zu besichtigen.“ Er begleitete John zum Ausgang.
Unzufrieden mit sich selbst lenkte John seine Schritte zur U-Bahn Station Covent Garden. Doch schon nach wenigen Metern wurde er gestoppt, als jemand von hinten seinen Arm ergriff und zischte, „Mr. Mackenzie, was haben Sie hier verloren? Mischen Sie sich etwa in die Ermittlungen der Metropolitan Police ein?“
Ertappt fuhr er herum – und stand seiner Nichte gegenüber, die vergnügt losprustete.
„Renie! Was tust du hier? Und was soll das überhaupt?“