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An dem Morgen, an dem Chief Commissioner Duncan tot in seinem Bett gefunden wurde, geschah es zum zweiten Mal in der Geschichte des Inverness, dass Lady allen Gästen Anweisung gab, unverzüglich das Gebäude zu verlassen, und an den Eingang ein GESCHLOSSEN-Schild gehängt wurde.

Caithness traf mit sämtlichen Mitarbeitern der Spurensicherung ein, die sie abziehen konnte, und ließ den gesamten ersten Stock absperren.

Die anderen Beamten, die über Nacht geblieben waren, versammelten sich um den Roulettetisch im leeren Spielsaal.

Duff schaute zu Deputy Chief Commissioner Malcolm hinüber, der am Kopfende des improvisierten Konferenztisches saß. Er hatte seine Brille abgenommen, um sie zu putzen, während er wie gebannt auf den grünen Stoff starrte, als würden dort die Antworten auf alle Fragen liegen. Malcolm war der ranghöchste unter den anwesenden Beamten, und Duff hatte sich schon öfter gefragt, warum er so gebückt durch die Gegend lief. Vielleicht hatte Malcolm, der Bürokrat, in Gesellschaft derart vieler Leute mit praktischer Polizeierfahrung das Gefühl, sich auf dünnem Eis zu bewegen, sodass er sich automatisch nach vorn beugte, um jeden noch so kleinen Rat, jeden geflüsterten Hinweis aufzufangen. Und vielleicht war Malcolm auch nicht deshalb so blass im Gesicht, weil er letzte Nacht zu viel getrunken hatte, sondern weil er nun unversehens zum amtierenden Chief Commissioner geworden war.

Malcolm hauchte auf seine Brille und fuhr fort, sie zu putzen. Er schaute nicht auf. Als würde er es nicht wagen, den Blicken zu begegnen, die auf ihn gerichtet waren, und sich den Kollegen zu stellen, die darauf warteten, dass er etwas sagte.

Vielleicht war Duff aber auch zu streng. Alle wussten, dass Malcolm beim Zusammenschustern von Duncans Programm der eigentliche Schuster gewesen war. Aber konnte er sie führen? Die anderen hatten jahrelange Erfahrung in der Leitung ihrer Abteilungen, während Malcolm seine Tage bloß damit verbracht hatte, gebückt zwei Schritte hinter Duncan herzulaufen wie eine Art überbezahlter Assistent.

»Meine Herren«, sagte Malcolm nun und starrte auf die grüne Tischbespannung. »Ein großer Mann ist von uns gegangen. Mehr werde ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht über Duncan sagen.« Er setzte seine Brille auf, hob den Kopf und musterte die um den Tisch Versammelten. »Als Chief Commissioner hätte er es uns nicht erlaubt, in Sentimentalität zu versinken und zu verzweifeln, er hätte von uns verlangt, dass wir tun, wofür wir bezahlt werden: den oder die Schuldigen zu finden und sie hinter Schloss und Riegel zu bringen. Tränen und Würdigungen werden anschließend folgen. Lassen Sie uns hier und jetzt unsere ersten Schritte koordinieren. Unser nächstes Meeting wird dann heute Abend um sechs Uhr im Hauptquartier stattfinden. Ich schlage vor, dass Sie, wenn wir hier fertig sind, erst einmal Ihre Frauen und so weiter anrufen …«

Malcolms Blick blieb an Duff hängen, aber er konnte nicht erkennen, ob damit eine Anspielung verbunden war.

»… und ihnen mitteilen, dass Sie in nächster Zeit wahrscheinlich nicht nach Hause kommen werden.« Er hielt einen Augenblick inne. »Denn erst einmal werden Sie die Person aufspüren und in Gewahrsam nehmen, die uns Chief Commissioner Duncan genommen hat.« Lange Pause. »Duff, von Ihrer Mordkommission erwarte ich in einer Stunde einen vorläufigen Bericht mit allem, was Caithness und ihr Team am Tatort gefunden beziehungsweise nicht gefunden haben.«

»Gut.«

»Lennox, ich brauche einen vollständigen Hintergrundbericht über die Leibwächter und alle Einzelheiten über ihre Bewegungen vor dem Mord. Wo sie waren, mit wem sie gesprochen, was sie gekauft haben, alle Veränderungen auf ihren Bankkonten. Und befragen Sie auch ihre Familien und Freunde in aller Schärfe. Fordern Sie alle Ressourcen an, die Sie brauchen.«

»Vielen Dank, Sir.«

»Macbeth, Sie haben zu diesem Fall bereits viel beigetragen, aber ich brauche mehr. Überprüfen Sie, inwieweit Ihr Dezernat die Tat mit den großen Akteuren in Verbindung bringen kann. Wer profitiert am meisten davon, Duncan loszuwerden?«

»Ist das nicht ziemlich offensichtlich?«, sagte Macbeth. »Wir haben Swenos Stoff im Fluss versenkt, zwei seiner Männer getötet und die Hälfte der Norse Riders verhaftet. Das ist Swenos Rache und …«

»Es ist keineswegs offensichtlich«, entgegnete Malcolm.

Die anderen starrten den Deputy Chief Commissioner überrascht an.

»Für Sweno wäre eine Fortsetzung von Duncans Feldzug nur von Vorteil.« Malcolm tippte mit den Fingern auf einige Jetons, die nach der hastigen Evakuierung noch immer auf dem Tisch lagen. »Wie lautete Duncans erstes Versprechen an diese Stadt? Er würde Hecate verhaften. Und nun, da die Norse Riders dezimiert sind, hätte Duncan alle zur Verfügung stehenden Kräfte auf Hecate konzentriert. Und hätte Duncan Erfolg gehabt, was wäre die Folge gewesen?«

»Er hätte den Markt für Sweno freigeräumt, für ein mögliches Comeback«, sagte Lennox.

»Ganz ehrlich«, sagte Macbeth, »glauben Sie wirklich, dass ein rachsüchtiger Sweno derart rational an die Sache herangehen würde?« Malcolm hob kaum merklich eine Augenbraue. »Ein Mann aus einfachsten Verhältnissen, ohne Bildung, ohne weitere Verbündete, dem das profitabelste Geschäft seit dreißig Jahren zunichtegemacht wurde. Könnte der rational über die finanziellen Perspektiven nachdenken? Wäre er dazu in der Lage, auf seine Rache zu verzichten, weil er abwägt, was langfristig vorteilhaft für sein Geschäft sein könnte?«

»Okay«, sagte Duff. »Hecate wäre derjenige, der am meisten davon profitiert, dass Duncan nicht mehr da ist. Sie gehen also davon aus, dass er dahintersteckt?« Er schaute Malcolm an.

»Ich gehe von gar nichts aus. Aber wie wir wissen, ist Duncans extreme Priorisierung der Jagd auf Hecate in aller Munde gewesen. Hecate würde also jeden möglichen Nachfolger Duncan vorziehen.«

»Vor allem wenn es ein Nachfolger wäre, auf den Hecate persönlichen Einfluss hätte«, sagte Duff. Als ihm klar wurde, was er damit angedeutet hatte, schloss er sofort die Augen. »Entschuldigung, ich wollte nicht …«

»Schon in Ordnung«, sagte Malcolm. »Wir können hier ganz offen sprechen, und was Sie sagen, ergibt sich aus meinen Argumenten. Hecate könnte glauben, dass er es leichter hätte als unter Duncan. Also wollen wir ihm zeigen, wie sehr er sich irrt.« Malcolm schob alle Jetons auf Schwarz. »Unsere Arbeitshypothese lautet also Hecate. Aber hoffen wir einfach mal, dass wir um sechs schon mehr wissen. Also, ans Werk.«


Banquo spürte, wie der Schlaf von ihm abfiel, wie der Traum von ihm wich. Er blinzelte. Hatten ihn die Kirchenglocken geweckt? Nein. Da war etwas im Zimmer. Eine Gestalt, die am Fenster saß, das gerahmte Foto betrachtete und ihn jetzt, ohne aufzuschauen, ansprach. »Kater?«

»Macbeth. Wie …?«

»Fleance hat mich reingelassen. Er wohnt jetzt also in meinem alten Zimmer. Selbst die alten Schuhe trägt er auf, die du mir damals gekauft hast.«

»Wie spät ist es denn?«

»Und dabei hatte ich gedacht, derart spitze Schuhe wären längst aus der Mode.«

»Deshalb hattest du sie hiergelassen. Aber Fleance würde alles anziehen, wenn es mal dir gehört hat.«

»Überall Bücher und Schulkram. Er arbeitet wirklich hart, hat das Zeug, es bis nach ganz oben zu schaffen.«

»Ja, er wird es schaffen.«

»Aber wie wir beide wissen, reicht das manchmal eben nicht, um an die Spitze zu kommen. Man ist bloß einer von vielen. Auf die richtige Gelegenheit kommt es an. Man muss die Fähigkeit und den Mut haben, zuzuschlagen, wenn sich der entscheidende Augenblick ergibt. Weißt du noch, wer dieses Foto gemacht hat?«

Macbeth hielt es hoch. Fleance und Banquo unter dem toten Apfelbaum. Der Schatten des Fotografen, der auf sie fiel.

»Du. Was willst du?« Banquo rieb sich das Gesicht. Macbeth hatte recht: Er hatte wirklich einen Kater.

»Duncan ist tot.«

Banquos Hände fielen auf die Bettdecke. »Was hast du gesagt?«

»Seine Leibwächter haben ihn letzte Nacht im Inverness erstochen.«

Banquo spürte Übelkeit in sich aufsteigen und musste mehrere Male tief einatmen, um sich nicht zu übergeben.

»Das ist die Gelegenheit«, sagte Macbeth. »Die Weggabelung. Von hier führt ein Weg in die Hölle und der andere zum Himmel. Ich bin hier, um dich zu fragen, welchen du wählst.«

»Was meinst du damit?«

»Ich will wissen, ob du mir folgen wirst.«

»Das hab ich dir doch schon gesagt. Die Antwort lautet Ja.«

Macbeth wandte sich ihm zu. Lächelte. »Und das kannst du sagen, ohne zu wissen, ob es der Weg zum Himmel ist oder der zur Hölle?« Sein Gesicht war blass, seine Pupillen unnatürlich klein. Musste am grellen Morgenlicht liegen. Denn hätte Banquo Macbeth nicht besser gekannt, er hätte glauben können, er wäre wieder high. Er wollte den Gedanken von sich schieben, doch in diesem Augenblick brach die Gewissheit über ihn herein wie ein Schwall eiskaltes Wasser.

»Warst du es?«, fragte Banquo. »Hast du ihn umgebracht?«

Macbeth legte den Kopf schief und musterte Banquo. Musterte ihn, wie man einen Fallschirm mustert, bevor man springt, eine Frau, bevor man versucht, sie zum ersten Mal zu küssen.

»Ja«, sagte er. »Ich habe Duncan umgebracht.«

Banquo fiel es schwer zu atmen. Er kniff die Augen zusammen. Hoffte, dass Macbeth, dass dies alles verschwunden sein würde, wenn er sie wieder aufschlug. »Und was jetzt?«

»Jetzt muss ich Malcolm umbringen«, hörte er Macbeth sagen. »Das heißt, du musst Malcolm umbringen.«

Banquo öffnete die Augen.

»Für mich«, sagte Macbeth. »Und für meinen Kronprinzen, für Fleance.«

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