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Eine Möwe ließ sich im wolkenlosen Himmel über Fife durch die Stille und das Mondlicht treiben. Unter ihr glitzerte der Fluss wie Silber. Am westlichen Ufer erhob sich – wie eine gigantische Festungsmauer – ein steiler schwarzer Berg. Kurz vor dem Gipfel hatte ein Mönchsorden einst ein großes Kreuz errichtet. Da es aber auf der nach Fife zeigenden Seite stand, erschien es den meisten Einwohnern der Stadt, als stünde es auf dem Kopf. Aus dem Berghang ragte eine beeindruckende Eisenbrücke hervor, wie die Zugbrücke über einem Burggraben. Dreihundertsechzig Meter lang und neunzig Meter hoch an ihrem höchsten Punkt: die Kenneth-Brücke, oder, wie die meisten sie schlicht nannten, die neue Brücke. Im Vergleich dazu war die alte Brücke ein weit bescheideneres, dafür ästhetisch umso angenehmeres Bauwerk, das ein Stück weiter den Fluss hinunter stand und einen Umweg bedeutete. Inmitten der neuen Brücke erhob sich ein unschönes Marmordenkmal, das den früheren Chief Commissioner Kenneth darstellen sollte und das er selbst in Auftrag gegeben hatte. Die Statue stand ganz knapp noch innerhalb der Stadtgrenzen, denn nirgendwo sonst war man bereit gewesen, dem Nachruhm des alten Ganoven auch nur einen Fingerbreit Land zu opfern. Der Bildhauer hatte sich durchaus an Kenneths Anweisung gehalten und seinen visionären Charakter betont, indem er die typische Pose eines den Horizont absuchenden Mannes gewählt hatte – doch kein noch so wohlwollender Künstler hätte es geschafft, von dem auffallend dicken Nacken und der breiten Kinnpartie abzulenken.

Die Möwe schlug mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen. Sie hoffte auf bessere Fischfangaussichten an der Küste hinter dem Berg, auch wenn das bedeutete, die Wettergrenze passieren zu müssen – von gut zu schlecht. Für alle, die denselben Weg einschlagen wollten, gab es einen zwei Kilometer langen Durchbruch, einen engen, schwarzen Tunnel, der von der neuen Brücke aus durch den Berg führte. Dabei wussten viele die Trennwand zu schätzen, die der Berg darstellte – die angrenzenden Landesbezirke bezeichneten den Tunnel gern als Rektum samt Anus am anderen Ende. Und tatsächlich, kaum hatte die Möwe Fife hinter sich gelassen und die Bergspitze überflogen, geriet sie von einer Welt harmonischer Ruhe in einen eiskalten schmutzigen Regenschauer, der auf die stinkende Stadt herabstürzte. Wie um ihre Verachtung zu zeigen, schiss die Möwe in die Tiefe und ließ sich weiter zwischen den einzelnen Windböen dahintreiben.

Der Möwenschiss landete auf dem Dach eines Unterstandes, unter dem ein ausgemergelter Junge sich auf einer Bank zusammenkauerte. Auch wenn das Schild neben dem Unterstand darauf hindeutete, dass es sich um eine Bushaltestelle handelte, war sich der Junge nicht so sicher. So viele Buslinien waren im Laufe der letzten Jahre stillgelegt worden. Wegen der abnehmenden Einwohnerzahl, wie der Bürgermeister, der alte Hohlkopf, behauptete. Aber der Junge musste zum Hauptbahnhof, um seine Dosis Brew zu bekommen. Das Speed, das er bei den Bikern gekauft hatte, war der letzte Dreck, eher Puderzucker und Kartoffelmehl als Amphetamin.

Der ölig nasse Asphalt glitzerte unter den wenigen Straßenlaternen, die noch funktionierten, und der Regen sammelte sich in Pfützen auf der von Schlaglöchern übersäten Straße, die aus der Stadt hinausführte. Es war schon eine ganze Weile alles ruhig, kein Wagen zu sehen, nur Regen. Doch jetzt hörte er etwas, das wie ein tiefes Gurgeln klang.

Er hob den Kopf. Zog am Band seiner Augenklappe, die von seiner leeren Augenhöhle herübergerutscht war und sein verbliebenes Auge bedeckte. Vielleicht konnte er per Anhalter ins Zentrum kommen?

Aber nein, das Geräusch kam aus der falschen Richtung.

Wieder zog er die Knie hoch.

Aus dem Gurgeln wurde ein Brüllen. Er konnte sich unmöglich bewegen, außerdem war er sowieso schon pitschnass, also schützte er bloß seinen Kopf mit den Armen. Der Lastwagen raste an ihm vorbei und spritzte einen gewaltigen Schwall Dreckwasser in den Busunterstand.

Er lag da und dachte über das Leben nach, bis ihm bewusst wurde, dass er das besser lassen sollte.

Das Geräusch eines weiteren Fahrzeugs. Hatte er diesmal Glück?

Er kämpfte sich in eine aufrechte Position und hielt Ausschau. Aber nein, auch diesmal kam es aus Richtung Stadt. Und ebenfalls mit hoher Geschwindigkeit. Er starrte in die sich nähernden Scheinwerferlichter. Der Gedanke schoss ihm ganz plötzlich durch den Kopf: Ein Schritt auf die Straße, und all seine Probleme wären gelöst.

Der Van raste an ihm vorbei, ohne eins der Schlaglöcher zu treffen. Schwarzer Ford Transit. Cops, gleich drei. Na toll. Von denen wollte man nun wirklich nicht mitgenommen werden.


»Da ist er, direkt vor uns«, sagte Banquo. »Geben Sie Gas, Angus!«

»Woher wissen Sie, dass sie es sind?«, fragte Olafson und lehnte sich zwischen die beiden Vordersitze des SWAT-Transits.

»Dieselrauch«, sagte Banquo. »Mein Gott, kein Wunder, dass die in Russland eine Ölkrise haben. Fahren Sie dicht auf, Angus, damit die uns im Rückspiegel sehen.«

Angus behielt seine Geschwindigkeit bei, bis sie den schwarzen Auspuff unmittelbar vor sich hatten. Banquo ließ seine Scheibe herunter und stützte das Gewehr am Außenspiegel ab. Hustete. »Jetzt seitlich aufschließen, Angus!«

Angus scherte aus und beschleunigte. Der Transit schoss auf eine Höhe mit dem ächzenden, dröhnenden Laster.

Eine Rauchwolke quoll aus dem Fenster des Lasters. Der Spiegel unter Banquos Gewehrlauf zerbarst knackend.

»Ja, sie haben uns gesehen«, sagte Banquo. »Ziehen Sie wieder hinter ihn.«

Der Regen hörte plötzlich auf, und alles um sie herum wurde noch dunkler. Sie waren im Tunnel. Der Asphalt und die grob behauenen Wände schienen alles Licht der Scheinwerfer zu verschlucken. Außer den Rücklichtern des Lasters konnten sie nichts mehr sehen.

»Was sollen wir tun?«, fragte Angus. »Am andern Ende kommt die Brücke. Und wenn sie es bis über die Mitte schaffen …«

»Ich weiß«, sagte Banquo und hob sein Gewehr. Die Stadt endete beim Denkmal und damit zugleich auch ihre Gerichtsbarkeit und diese Verfolgung. Theoretisch hätten sie natürlich weiterfahren können, das war schon vorgekommen: Hoch motivierte Beamte, die allerdings selten zum Rauschgiftdezernat gehörten, hatten Dealer auf der falschen Seite der Grenze verhaftet. Und jedes Mal hatten sie einen schönen, saftigen Fall, der vor Gericht abgewiesen wurde, und selbst ein Verfahren wegen Amtsmissbrauchs am Hals. Banquo spürte den Rückstoß seiner Remington 700.

»Volltreffer«, sagte er.

Der Laster begann im Tunnel zu schlingern; vom Hinterreifen flogen Gummifetzen auf.

»Jetzt seht ihr, was so ein schweres Lenkrad wirklich taugt«, sagte Banquo und zielte auf den anderen Hinterreifen. »Bisschen mehr Abstand, Angus, falls sie direkt in die Tunnelwand krachen.«

»Banquo!«, rief jemand vom Rücksitz.

»Olafson?«, sagte Banquo und drückte langsam den Abzug.

»Gegenverkehr.«

»Ups.«

Banquo nahm seine Wange vom Gewehr, als Angus bremste.

Vor ihnen schlingerte der ZIS-5 von einer Seite zur anderen, sodass er die Scheinwerfer des entgegenkommenden Wagens immer abwechselnd verdeckte und freilegte. Banquo hörte das verzweifelte Hupen eines Limousinenfahrers, der einen Lkw auf sich zurasen sieht und weiß, dass es zu spät ist, um irgendwas zu tun.

»Jesus …«, lispelte Olafson leise.

Die Hupe ertönte immer lauter und in schnellerem Abstand.

Dann ein helles Aufblitzen von Licht.

Banquo schaute automatisch beiseite.

Erhaschte noch einen kurzen Blick auf den Rücksitz des Wagens, die Wange eines Kindes, an die Scheibe gelehnt.

Dann war er weg, und das ersterbende Geräusch der Hupe klang wie das enttäuschte Stöhnen von Zuschauern, die man um das große Spektakel gebracht hat.

»Schneller«, sagte Banquo. »Jeden Moment sind wir auf der Brücke.«

Angus trat mit dem Fuß aufs Gas, und schon steckten sie erneut in der Wolke, die der Auspuff ausstieß.

»Ruhig halten«, sagte Banquo. »Ruhig …«

In diesem Augenblick wurde die Plane auf der Ladefläche des Lasters zur Seite gerissen, und die Scheinwerfer des Transit strahlten die aufgestapelten Plastikbeutel an, die offenkundig eine weiße Substanz enthielten. Das Rückfenster der Fahrerkabine war zerschlagen worden. Und aus einer Lücke zwischen den Kilobeuteln zielte ein Gewehr auf sie.

»Angus …«

Eine kurze Explosion. Banquo nahm den Blitz eines Mündungsfeuers wahr, dann wurde ihre Windschutzscheibe weiß, zerbarst und stürzte auf sie herunter.

»Angus!«

Angus hatte sofort reagiert und das Lenkrad scharf nach rechts gerissen. Und dann nach links. Die Reifen kreischten, und die Kugeln schossen pfeifend durch die Luft, während die Mündung der Waffe vor ihnen versuchte, mit ihren Manövern Schritt zu halten.

»Herrgott!«, kreischte Banquo und feuerte auf den anderen Reifen, aber die Kugeln ließen nur Funken vom Kotflügel abprallen.

Und plötzlich war der Regen wieder da. Sie waren auf der Brücke.

»Nehmen Sie die Schrotflinte, Olafson«, brüllte Banquo. »Jetzt!«

Der Regen prasselte durch das Loch, das eben noch eine Windschutzscheibe gewesen war, und Banquo rutschte so weit zur Seite, dass Olafson die doppelläufige Waffe auf der Rücklehne seines Sitzes abstützen konnte. Sie ragte über Banquos Schulter, aber dann ertönte ein dumpfer Schlag, wie wenn ein Hammer auf Fleisch prallt, und im nächsten Augenblick war die Waffe verschwunden. Banquo drehte sich um und sah, dass Olafson auf seinem Sitz zusammengesackt war. Sein Kopf war nach vorn gesunken, und auf Brusthöhe klaffte ein Loch in seiner Jacke. Graue Polsterfüllung stieb auf, als die nächste Kugel direkt durch Banquos Sitz schlug und den Platz neben Olafson traf. Der Typ auf dem Laster hatte sich jetzt warmgeschossen. Banquo nahm Olafson die Schrotflinte aus der Hand, riss sie in einer fließenden Bewegung nach vorn und feuerte. Auf der Ladefläche des Lasters gab es eine weiße Explosion. Banquo ließ die Schrotflinte los und griff nach seinem Gewehr. Durch die dicke weiße Pulverwolke hindurch konnte der Typ auf dem Laster unmöglich etwas sehen, aber aus der Dunkelheit erhob sich, wie ein unerwünschter Geist, die von Flutern angestrahlte weiße marmorne Kenneth-Statue. Banquo zielte auf den Hinterreifen und drückte den Abzug. Volltreffer.

Der Laster raste von einer Seite zur anderen, ein Vorderreifen schob sich auf die Randerhebung, ein Hinterreifen traf die Kante, und die Seite des ZIS-5 schleifte am stahlverstärkten Brückenzaun entlang. Das Kreischen von Metall auf Metall übertönte das Motorgeheul des Wagens. Unglaublicherweise schaffte es der Fahrer jedoch, den schweren Laster wieder auf die Fahrbahn zu bekommen.

»Fahr bloß nicht über die verdammte Grenze!«, brüllte Banquo.

Die letzten Gummireste hatten sich von den Hinterreifen des Lasters gelöst, und eine Funkenfontäne stob in den Nachthimmel. Der ZIS-5 geriet neuerlich ins Schlingern. Der Fahrer versuchte verzweifelt, gegenzusteuern, aber diesmal hatte er keine Chance. Der Wagen brach aus, schoss über den Asphalt. Er war so gut wie an der Grenze angelangt, als die Reifen wieder Halt fanden und den Laster von der Straße trugen. Zwölf Tonnen sowjetischen Militärgeräts trafen Chief Commissioner Kenneth direkt unter der Gürtellinie, rissen ihn von seinem Sockel und schleiften die Statue sowie zehn Meter Stahlzaun mit sich, bevor sie über die Kante flogen. Angus hatte es geschafft, den Transit anzuhalten, und in der plötzlichen Stille beobachtete Banquo, wie sich der mondbeschienene Kenneth im Sturz langsam um sein eigenes Kinn drehte. Hinter ihm folgte der ZIS-5, Motorhaube voran, mit einem Schweif aus weißem Puder, wie ein verfluchter Amphetamin-Komet.

»Mein Gott …«, flüsterte der Polizist.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Statue und Wagen ins Wasser eintauchten und es für einen Augenblick weiß färbten. Auch das Geräusch des Aufpralls erreichte Banquo mit Verzögerung.

Dann kehrte die Stille zurück.


Sean stand vor dem Clubhaus, trat von einem Fuß auf den anderen und starrte durch das Tor.

Kratzte sich am NORSE RIDER BIS ZUM TOD-Tattoo auf seiner Stirn. Das letzte Mal war er im Kreißsaal so nervös gewesen. War es nicht mal wieder typisch, dass Colin und er die kürzeren Strohhalme gezogen hatten und ausgerechnet in der Nacht Wache halten mussten, in der es wirklich zur Sache ging? Man hatte es ihnen nicht erlaubt, mitzufahren und den Stoff abzuholen, und bei der Party durften sie auch nicht mitfeiern.

»Meine Alte will das Kind nach mir benennen«, sagte Sean, hauptsächlich zu sich selbst.

»Glückwunsch«, erwiderte Colin tonlos und zupfte an seinem Walross-Schnurrbart. Der Regen perlte von seiner leuchtenden Glatze ab.

»Danke«, sagte Sean. Eigentlich hatte er beides nicht gewollt. Weder das Tattoo, das er ein Leben lang nicht mehr loswerden würde, noch ein Kind, für das dasselbe galt. Freiheit. Das war es doch, was so ein Leben auf dem Motorrad versprach, oder? Aber erst hatte der Club seine Vorstellung von Freiheit verändert, dann Betty. Wirklich frei kann man nur sein, wenn man irgendwohin gehört, wenn man wahre Solidarität empfindet.

»Da sind sie«, sagte Sean. »Scheint alles gut gelaufen zu sein, was?«

»Zwei fehlen«, entgegnete Colin, spuckte seine Zigarette aus und öffnete das hohe, mit Stacheldraht bewehrte Tor.

Das erste Motorrad hielt vor ihnen an. Hinter dem gehörnten Helm ertönte ein dröhnender Bass. »Die Cops haben uns in einen Hinterhalt gelockt, die Zwillinge kommen deshalb ein bisschen später.«

»Okay, Boss!«, sagte Colin.

Die Motorräder knatterten eins nach dem anderen durchs Tor. Einer der Jungs reckte den Daumen hoch. Gut, der Stoff war in Sicherheit, der Club gerettet. Sean atmete erleichtert auf. Die Maschinen rollten über den Hof, vorbei an dem schuppenartigen kleinen Holzhaus, auf dem das Norse-Riders-Logo prangte, und verschwanden in der großen Garage. Im Schuppen war bereits der Tisch gedeckt. Sweno hatte entschieden, den Deal mit einem Besäufnis zu feiern, und nach einigen Minuten hörte Sean, wie im Haus die Musik angestellt wurde und das erste Triumphgebrüll losbrach.

»Wir sind reich.« Sean lachte. »Weißt du, wo sie den Stoff hinbringen?«

Colin antwortete nichts, verdrehte bloß die Augen.

Er wusste es nicht. Niemand wusste es. Nur Sweno. Und die im Laster natürlich. So war es am besten.

»Da kommen die Zwillinge«, sagte Sean und öffnete wieder das Tor.

Die Motorräder passierten langsam, beinahe zögerlich, die Hügelkuppe und näherten sich ihnen.

»Hi, João, was ist denn pass…«, begann Sean, aber die Maschinen fuhren ohne anzuhalten an ihnen vorbei durchs Tor.

Schließlich hielten die Zwillinge mitten im Hof, als hätten sie vor, ihre Maschinen dort stehen zu lassen. Dann nickte einer von ihnen der offenen Garagentür zu, und sie fuhren hinein.

»Hast du Joãos Visier gesehen?«, fragte Sean. »Da war ein Loch drin.«

Colin seufzte schwer.

»Im Ernst, Mann!«, sagte Sean. »Direkt in der Mitte. Ich will wissen, was da unten am Hafen wirklich passiert ist.«

»Hey, Sean …«

Aber Sean war schon weg, lief über den Hof und betrat die Garage. Die Zwillinge waren abgestiegen. Beide standen mit dem Rücken zu ihm, trugen immer noch ihre Helme. Einer von ihnen hielt die Tür, die von der Garage direkt ins Clubhaus führte, einen Spaltbreit offen. Als wolle er selbst nicht gesehen werden, aber schon mal schauen, wie die Party lief. João, Seans bester Kumpel, stand neben seinem Motorrad. Er hatte das Magazin aus seiner AK-47 entfernt und schien zu zählen, wie viele Kugeln noch übrig waren. Sean klopfte ihm auf den Rücken. Das musste ihn ziemlich erschreckt haben, denn er wirbelte herum.

»Was ist mit deinem Visier passiert, João? Steinsplitter abgekriegt, was?«

João antwortete nicht, schien zu sehr damit beschäftigt, das Magazin zurück in die AK-47 zu stecken. Dabei stellte er sich merkwürdig ungeschickt an. Und noch etwas war merkwürdig. Er schien … größer zu sein. Als wenn hier gar nicht João stand, sondern …

»Scheiße!«, brüllte Sean, trat einen Schritt zurück und griff nach seinem Gürtel. Ihm war klar geworden, was das Loch im Visier zu bedeuten hatte und dass er seinen besten Kumpel nicht wiedersehen würde. Sean zog seine Waffe, entsicherte sie und wollte sie gerade auf den Mann richten, der immer noch mit der AK-47 zu kämpfen hatte, als ihn etwas an der Schulter traf. Automatisch schwenkte er die Waffe in die Richtung, aus der der Schlag gekommen war. Aber dort war niemand. Nur der Typ in der Norse-Riders-Jacke, der bei der Tür stand. Augenblicklich wich alle Kraft aus seiner Hand, und er ließ die Waffe fallen.

»Keinen Mucks«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Sean drehte sich wieder um.

Die AK war auf ihn gerichtet, und in dem angeschlagenen Visier sah er die Spiegelung eines Dolches, der aus seiner Schulter ragte.


Duff drückte die Mündung der AK gegen das Tattoo auf der Stirn des Mannes. Schaute in sein fassungsloses, hässliches Gesicht. Sein Finger drückte den Abzug, nur eine Winzigkeit … Er hörte das Rasseln seines eigenen Atems im Inneren des Helms und wie sein Herz unter der etwas zu engen Lederjacke hämmerte.

»Duff«, sagte Macbeth an der Tür zum Clubhaus. »Ganz ruhig jetzt.«

Duff drückte den Abzug noch ein weiteres Stück.

»Hör auf«, sagte Macbeth. »Diesmal nehmen wir eine Geisel.«

Duff ließ den Abzug los.

Das Gesicht des Mannes war weiß wie ein Laken. Aus Angst oder wegen des Blutverlusts. Wegen beidem vermutlich. Seine Stimme zitterte. »Wir retten keine …«

Duff schlug ihm den Lauf gegen die Stirn. Hinterließ einen Streifen, der einen Augenblick lang ebenso weiß leuchtete wie Duffs eigenes Markenzeichen. Dann füllte er sich mit Blut.

»Du hältst die Klappe, mein Sohn, dann wird alles gut«, sagte Macbeth, der zu ihnen getreten war. Er schnappte sich die langen Haare des jungen Mannes, riss ihm den Kopf zurück und legte ihm die Klinge seines zweiten Dolchs an die Kehle. Dann schob er ihn voran Richtung Clubhaustür. »Bereit?«

»Denk dran, Sweno gehört mir«, sagte Duff und schaute noch einmal nach, ob das geschwungene Magazin auch wirklich richtig in der Waffe saß, bevor er Macbeth und dem Norse Rider folgte.

Macbeth stieß die Tür auf und betrat den Raum mit der Geisel vor sich und Duff dicht im Nacken. Grinsend und brüllend hockten die Norse Riders an einem langen Tisch in dem großen, offenen Clubraum, der bereits mit dichtem Rauch gefüllt war. Alle kehrten der Wand mit den drei Türen, die aus dem Raum hinausführten, den Rücken zu. Vermutlich eine Clubregel. Duff schätzte ihre Zahl auf etwa zwanzig. Die Musik war laut aufgedreht. Die Stones. Jumpin Jack Flash.

»Polizei!«, schrie Duff. »Keiner rührt sich, oder mein Kollege wird diesem netten jungen Mann die Kehle durchschneiden.«

Die Zeit schien unvermittelt stillzustehen, und Duff sah, wie der Mann am Kopf der Tafel seinen Kopf wie in Zeitlupe hob. Ein rotes Schweinegesicht mit großen Nüstern und Zöpfen, die so straff geflochten waren, dass sie die Augen zu zwei engen, hasserfüllten Strichen in die Länge zogen. Aus seinem Mundwinkel hing ein langer, dünner Zigarillo. Sweno.

»Wir retten keine Geiseln«, sagte er.

Der junge Mann verlor das Bewusstsein und sackte in sich zusammen.

In den nächsten zwei Sekunden erstarrte der gesamte Raum, und nur noch die Rolling Stones waren zu hören.

Bis Sweno einen Zug von seinem Zigarillo nahm. »Schnappt sie euch«, sagte er.

Duff registrierte mindestens drei Norse Riders, die exakt gleichzeitig reagierten, und drückte auf den Abzug seiner AK-47. Hielt drauf. Versprühte Bleigeschosse vom Kaliber 7,62 Millimeter, die Flaschen zerschlugen, den Tisch durchlöcherten, die Wand trafen, Fleisch zerfetzten und schließlich auch Mick Jagger zwischen zwei laut geplärrten Silben stoppten. Neben ihm hatte Macbeth nach den zwei Glocks gegriffen, die er den beiden toten Norse Riders am Kai abgenommen hatte. Zusammen mit ihren Jacken, Helmen und Motorrädern. Duffs Waffe fühlte sich in seiner Hand warm und weich an, wie eine Frau. Eine Lampe nach der anderen zerbarst, und Dunkelheit senkte sich allmählich über den Raum. Als Duff schließlich den Finger vom Abzug nahm, schwebten Staub und Federn in der Luft, und eine einzelne Lampe schwang an der Decke hin und her, sodass die Schatten wie flüchtende Geister über die Wände jagten.

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