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»Willkommen an Bord«, sagte der Kapitän der MS Glamis, als der Lotse die Brücke betrat. »Ich würde heute gern pünktlich ankommen. Jemand wartet auf uns.«

»Kein Problem.« Der Lotse schüttelte dem Kapitän die Hand und nahm hinter ihm seine Position ein. »Wenn die Maschinen funktionieren.«

»Warum sollten sie nicht?«

»Einer Ihrer Ingenieure hat darum gebeten, auf meinem Boot in den Hafen mitgenommen zu werden. Er musste ein Ersatzteil besorgen, das der Erste Ingenieur braucht.«

»Ach?«, sagte der Kapitän. »Davon hat man mir gar nichts gesagt.«

»Wahrscheinlich nur eine Kleinigkeit.«

»Wer war der Ingenieur?«

»Hutch-irgendwas. Da sind sie ja.« Der Lotse deutete auf das Boot, das in hohem Tempo Richtung Hafen fuhr.

Der Kapitän griff nach seinem Fernglas. An Bord sah er achtern eine gestreifte Kappe über dem Rücken eines Esso-T-Shirts.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte der Lotse.

»Niemand verlässt dieses Schiff ohne meine Erlaubnis«, sagte der Kapitän. »Zumindest nicht heute.« Er drückte den Knopf auf der Sprechanlage, der ihn mit der Kombüse verband. »Steward!«

»Kapitän«, ertönte die Antwort am anderen Ende.

»Schicken Sie Johnson mit zwei Tassen Kaffee zu uns herauf.«

»Ich komme sofort, Kapitän.«

»Johnson, hab ich gesagt.«

»Der hat Bauchkrämpfe, Kapitän. Deshalb hab ich ihm erlaubt, sich auszuruhen, bis wir anlegen.«

»Überprüfen Sie, ob er in seiner Kajüte ist.«

»Wird gemacht.«

Der Kapitän nahm seinen Finger vom Knopf.

»Drei Grad Backbord«, sagte der Lotse.

»Aye, aye«, erwiderte der Erste Offizier.

Inspector Seyton hatte gesagt, am sichersten sei es, wenn der Kapitän und der Funker die einzigen Eingeweihten blieben, damit Duff nicht herausfinden konnte, dass seine Tarnung aufgeflogen war. Seyton und zwei seiner besten Männer würden am Kai bereitstehen, wenn sie anlegten, dann an Bord kommen und Duff überwältigen. Außerdem hatte Seyton betont, dass er die Crew außer Reichweite haben wollte, für den Fall, dass Schüsse abgefeuert werden würden. Für den Kapitän hatte es sich allerdings angehört wie: wenn die Schüsse abgefeuert werden.

»Kapitän!« Es war der Steward. »Johnson schläft wie ein Baby in seiner Koje. Soll ich ihn wecken …«

»Nein! Lassen Sie ihn schlafen. Ist er allein in der Kabine?«

»Ja, Kapitän.«

»Gut, gut.« Der Kapitän schaute auf seine Uhr. In einer Stunde würde alles vorüber sein, und er konnte nach Hause fahren zu seiner Frau. Ein paar Tage freihaben. Nur noch der eine Termin bei der Reederei morgen wegen des Versicherungsberichts über eine verdächtig hohe Zahl ähnlicher Krankheitsfälle bei Crewmitgliedern, die im Laufe der letzten zehn Jahre im Laderaum gearbeitet hatten. Hatte irgendwas mit Blut zu tun.

»Kurs stimmt«, sagte der Lotse.

»Wollen wir’s hoffen«, murmelte der Kapitän. »Wollen wir’s hoffen.«


Zehn nach eins. Vor zehn Minuten war ein riesiger Elchkopf aus einer Art Kuckucksuhr gekommen und hatte gemuht. Angus schaute sich um. Er bereute, diesen Ort gewählt zu haben. Um diese Tageszeit waren zwar nur arbeitslose Tagediebe und Trinker im Bricklayers Arms zu finden, aber es handelte sich um die SWAT-Stammkneipe, und wenn ihn jemand aus dem Polizeihauptquartier mit dem Reporter sprechen sah, würde es Macbeth bald zu Ohren kommen. Andererseits war es weniger verdächtig, als in einer versteckten Bar in einer Seitenstraße zu sitzen.

Aber Angus gefiel es nicht. Der Elch gefiel ihm nicht. Die Tatsache, dass der Journalist immer noch nicht aufgetaucht war, gefiel ihm nicht. Angus wäre schon lange aufgebrochen, wäre dies nicht seine letzte Chance gewesen.

»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.«

Die gerollten Rs. Angus schaute auf. Es war nur die Stimme, die ihm verriet, dass der Mann in der gelben Öljacke wirklich Walter Kite war. Angus hatte gehört, dass er konsequent dem Fernsehen eine Absage erteilte und sich weigerte, sein Foto in Zeitungen und Promi-Magazinen abbilden zu lassen, da er den Auftritt des Reporters für eine Ablenkung von seiner Story hielt. Das Wort war alles.

»Der Regen und der Verkehr«, sagte Walt Kite und knöpfte sich die Jacke auf. Wasser rann aus seinen dünnen Haaren.

»Der Regen und der Verkehr sind immer schuld«, sagte Angus.

»Zumindest benutzen wir das gern als Ausrede«, sagte der Radioreporter und setzte sich ihm gegenüber in die Nische. »In Wahrheit ist mir die Fahrradkette abgesprungen.«

»Ich dachte, Walter Kite lügt nie«, sagte Angus.

»Kite, der Radioreporter, lügt niemals«, erwiderte Kite mit sarkastischem Grinsen. »Walter, der Privatmann, kann da leider nicht ganz mithalten.«

»Sind Sie allein?«

»Immer. Erzählen Sie mir, was Sie nicht am Telefon sagen wollten.«

Angus atmete tief ein und begann zu sprechen. Diesmal überfiel ihn nicht dieselbe Nervosität wie beim Gespräch mit Lennox und Caithness. Vielleicht weil die Würfel bereits gefallen waren, es gab keinen Weg zurück. Er benutzte mehr oder weniger dieselben Worte wie am Tag zuvor in der Estex-Fabrik, berichtete Kite aber auch von seinem Treffen mit Lennox und Caithness. Er gab Kite alles. Die Namen. Die Details über das Clubhaus und den Einsatz in Fife. Über den Befehl, die Leiche des Babys zu verbrennen. Während er sprach, zog Kite eine Serviette aus dem Spender auf dem Tisch, um sich das schwarze Schmieröl von den Fingern zu wischen.

»Warum ich?«, fragte Kite und nahm sich noch eine zweite Serviette.

»Weil man von Ihnen sagt, dass Sie ein mutiger Journalist sind. Und integer«, sagte Angus.

»Schön zu hören, dass die Leute das denken«, sagte Kite und musterte Angus. »Ihr Ausdrucksvermögen ist weitaus besser als das der meisten jungen Polizeibeamten.«

»Ich habe Theologie studiert.«

»Das erklärt beides, Ihre Ausdrucksweise und warum Sie sich dieser Sache aussetzen wollen. Sie glauben, dass gute Taten Erlösung bringen.«

»Sie irren sich, Kite. Ich glaube weder an Erlösung noch an irgendetwas Göttliches.«

»Haben Sie schon mit irgendwelchen anderen …«, er grinste gehässig, »… integren oder weniger integren Journalisten gesprochen?«

Angus schüttelte den Kopf.

»Gut. Denn wenn ich an diesem Fall arbeite, brauche ich die Exklusivrechte. Also kein Wort zu anderen Journalisten, zu niemandem. Ist das abgemacht?«

Angus nickte.

»Wo kann ich Sie erreichen, Angus?«

»Meine Telefonnummer …«

»Kein Telefon. Adresse.«

Angus schrieb sie auf Kites ölfleckige Serviette. »Wie geht’s jetzt weiter?«

Kite stieß ein Seufzen aus. Wie ein Mann, der weiß, dass ein gewaltiger Haufen Arbeit vor ihm liegt.

»Ich werde erst einmal ein paar Dinge überprüfen müssen. Das ist ein großer Fall. Ich möchte ungern, dass man mir später Fehlinformationen nachweist, oder dass ich verdächtigt werde, mich vor jemandes Karren spannen zu lassen.«

»Mein einziges Ziel ist, dass die Wahrheit rauskommt und Macbeth aufgehalten wird.«

Angus wusste, dass er die Stimme erhoben hatte, als sich Kite umschaute, um sicherzugehen, dass keiner der wenigen Gäste etwas mitbekam. »Wenn das wahr ist, stimmt es nicht, dass Sie nicht ans Göttliche glauben.«

»Gott existiert nicht.«

»Ich dachte eher ans Göttliche im Menschen, Angus.«

»Sie meinen das Menschliche im Menschen, Kite. Das Gute zu wollen ist ebenso menschlich wie zu sündigen.«

Kite nickte langsam. »Sie sind der Theologe. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich Ihnen glaube, muss ich die Geschichte nachprüfen – und auch Sie als Person. Ich glaube, das meint man mit …«, er stand auf und knöpfte sich seine Öljacke zu, »… Integrität.«

»Wann, glauben Sie, kann das veröffentlicht werden?« Angus atmete tief ein und wieder aus. »Ich traue Lennox nicht. Er wird zu Macbeth gehen.«

»Ich mache die Story zur obersten Priorität«, sagte Kite. »Sie müsste eigentlich in zwei Tagen stehen.« Er holte seine Brieftasche hervor.

»Vielen Dank. Aber ich zahle selbst für meinen Kaffee.«

»Schön.« Kite steckte die Brieftasche zurück in seine Jacke. »Sie sind ein seltener Vogel in dieser Stadt, wissen Sie.«

»Eindeutig vom Aussterben bedroht.« Angus lächelte schwach.

Er blickte dem Reporter nach, bis dieser zur Tür hinaus war. Schaute sich im Pub um. Niemand Verdächtiges. Alle schienen mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt zu sein. Zwei Tage. Er musste irgendwie versuchen, zwei Tage lang am Leben zu bleiben.


Seyton mochte Capitol nicht. Mochte die breiten Straßen nicht, die prunkvollen Parlamentsgebäude und den ganzen anderen Scheiß – die grünen Parkanlagen, die Bibliotheken und das Opernhaus, die Straßenkünstler, die kleinen gotischen Kirchen und die geradezu lächerlich extravagante Kathedrale, die zufriedenen Menschen auf den Terrassen der Restaurants und das teure Nationaltheater mit seinen prätentiösen Stücken, unverständlichen Dialogen und monomanischen Königen, die im letzten Akt das Zeitliche segneten.

Deshalb bevorzugte er die Haltung, die er jetzt eingenommen hatte, mit dem Rücken zur Stadt und dem Blick hinauf aufs Meer.

Sie standen in der Hafenmeisterei und konnten nun auch die MS Glamis sehen.

»Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe wollen?«, fragte der Beamte mit dem Aufnäher der Polizei von Capitol auf seiner Uniform. Vor ihrer Ankunft hatte es eine Diskussion über den Zuständigkeitsbereich gegeben, aber Capitols Chief Commissioner hatte sich kooperativ gezeigt, zum Teil, wie er sagte, weil der Mord an einem Polizisten in einer anderen Stadt auch sie betraf, zum anderen, weil man an Bord eines Schiffes eine Ausnahme machen konnte.

»Noch mal vielen Dank, aber ich bin mir ganz sicher«, sagte Seyton.

»Schön, aber wenn Sie ihn festgenommen und an Land gebracht haben, übernehmen wir.«

»Selbstverständlich. Hauptsache, Sie behalten die Gangway und das Schiff im Auge.«

»Er wird nicht davonkommen, Inspector.« Der Polizist deutete auf die Kollegen in Zivil, die sich fünfzig Meter von der Anlegestelle entfernt in zwei Ruderbooten befanden. Sie taten so, als würden sie angeln, waren aber bereit, Duff augenblicklich einzufangen, falls er über Bord springen würde.

Seyton nickte. Es war noch nicht lange her, seit er in einem anderen Hafenbüro gestanden und gewartet hatte. Damals war es Duff gewesen, der keine Hilfe hatte annehmen wollen, der dämliche Idiot. Aber nun hatten sie die Rollen getauscht. Und er würde dafür sorgen, dass Duff dies auch erfuhr. Er würde es ihn spüren lassen. Einige endlose Sekunden lang. Die Polizei in Capitol wusste natürlich nichts von Macbeths Befehl: Duff sollte nicht an Land geführt, sondern getragen werden. In einem Leichensack.

Die Glamis drehte bei, und die See schäumte weiß unter der Oberfläche. Dann stieg das weiße Wasser auf und schlug Blasen wie Champagner. Seyton lud seine MP-5. »Olafson. Ricardo. Bereit?«

Die zwei SWAT-Männer nickten. Sie verfügten über Grundrisse des Schiffes, auf denen eingezeichnet war, wo sich Duffs Kabine befand.

Kabeltaue wurden von der Glamis aus an die Anlegestelle geworfen, eines vom Bug und eines vom Heck, um die Poller gewickelt und festgezurrt. Der Bug des Schiffes stieß sanft gegen kreischende Reifen. Eine Gangway wurde herabgelassen.

»Jetzt«, sagte Seyton.

Sie rannten hinaus, über den Kai und die Gangway hinauf. Die Mannschaft starrte sie mit offenen Mündern an; offenbar hatte der Kapitän es geschafft, das Geheimnis zu wahren. Sie stürmten eine eiserne Leiter hinab, vorbei an einer Kabine, die als die des Ersten Offiziers gekennzeichnet war. Weiter hinab. Und noch weiter. Vor der Tür der Kabine 12 blieben sie stehen.

Seyton lauschte, hörte aber bloß seinen eigenen Atem und das Rumoren der Maschinen. Ricardo hatte seine Position ein Stück weiter den Gang herunter eingenommen, von wo er die Türen in der Nähe im Auge behalten konnte, für den Fall, dass sich Duff doch in einer anderen Kabine aufhielt, sie hörte und versuchte, die Flucht zu ergreifen.

Seyton schaltete seine Taschenlampe ein und nickte Olafson zu. Dann ging er hinein. Die Taschenlampe war überflüssig; im Inneren war es hell genug. Duff lag auf der unteren Koje, der Wand zugedreht, mit einer Decke zugedeckt. Er trug die grüne Mütze, die der Kapitän erwähnt hatte. Angeblich nahm »Johnson« sie niemals ab und zog sie immer bis zu seiner großen Brille hinunter. Nur einmal war sie hochgerutscht, und der Kapitän hatte die Narbe gesehen. Seyton holte die Waffe hervor, die er in Duffs Hand legen würde, und feuerte zwei Schüsse in die Wand hinter sich. Nach den ohrenbetäubenden Explosionen hörte Seyton einige Sekunden lang nur noch ein hohes Schrillen. Duff zuckte in seiner Koje zusammen und erstarrte. Seyton flüsterte ihm direkt ins Ohr.

»Sie haben geschrien«, sagte er. »Sie haben geschrien, und es war wundervoll, das zu hören. Du darfst auch ein bisschen schreien, Duff. Denn ich habe mich entschlossen, dir zuerst in den Bauch zu schießen. Weil wir so gute alte Bekannte sind, du arrogantes Arschloch.«

Ein starker Geruch ging von Duff aus. Seyton atmete ihn ein. Aber es war nicht der köstliche Gestank der Angst. Es war … Schweiß. Abgestandener, alter Männerschweiß. Älter als die paar Tage, die Duff vermisst wurde.

Der Mann in der Koje wandte ihm sein Gesicht zu.

Es war nicht Duffs Gesicht.

»Was?«, sagte der Mann. Die Decke rutschte herunter und entblößte eine nackte Brust und einen haarigen Unterarm.

Seyton drückte den Lauf seiner Maschinenpistole gegen die Stirn des Mannes. »Polizei. Was tun Sie hier, und wo ist Duff?«

Der Mann schniefte. »Ich schlafe hier, das sehen Sie doch. Und ich hab keine Ahnung, wer dieser Duff sein soll.«

»Johnson«, sagte Seyton und drückte die Mündung der Waffe so fest gegen den Kopf des Mannes, dass dieser aufs Kissen zurücksank.

Noch ein Schniefen. »Der Smutje? Haben Sie mal in der Kombüse nachgesehen? Oder in den anderen Kabinen? Wir schlafen auf dieser Fahrt immer da, wo gerade was frei ist. Was hat denn Johnson gemacht, hä? Scheint ja was Ernstes gewesen zu sein. Wenn Sie mir ein Loch in den Kopf pusten wollen, dann schießen Sie jetzt endlich, Arschloch.«

Seyton zog seine Waffe zurück.

»Olafson, nehmen Sie Ricardo und durchsuchen Sie das Schiff.« Seyton musterte das aufgedunsene Gesicht vor ihm. Roch den Mann. War er wirklich so furchtlos, oder war es der zusammengesetzte Gestank anderer Körperteile, der den Geruch der Angst überdeckte?

Olafson stand noch immer hinter ihm.

»Durchsucht das Schiff!«, brüllte Seyton. Und hörte, wie die Stiefel von Olafson und Ricardo den Gang hinunterdröhnten. Dann, wie Kabinentüren aufgerissen wurden.

Seyton streckte sich. »Wie heißen Sie, und warum tragen Sie Johnsons Mütze?«

»Hutchinson. Und die Mütze können Sie gerne haben. Sie sehen aus, als bräuchten Sie dringend was zum Reinwichsen.«

Seyton schlug zu. Die Waffe riss die Haut an der Wange des Mannes auf, und sofort kam Blut zum Vorschein. Aber der Typ zuckte nicht mit der Wimper, auch wenn seine Augen sich mit Tränen füllten.

»Antworten Sie mir«, zischte Seyton.

»Ich bin wach geworden, und mir war kalt. Ich wollte mir mein T-Shirt anziehen. Das hatte ich da drüben auf der Truhe abgelegt. Aber mein T-Shirt und meine Mütze waren beide weg, stattdessen lag da diese Mütze. Mir war kalt, da hab ich sie aufgesetzt, okay?« Hutchinsons Stimme schwankte, aber der Hass brach durch die Tränen hindurch. Angst und Hass, Hass und Angst, es ist immer dasselbe, dachte Seyton und wischte das Blut von der Mündung seiner MP-5.

Wütende Stimmen ertönten im Gang. Seyton wusste es bereits. Sie würden das gesamte Schiff durchsuchen, jede Nische, jeden Winkel – vergebens. Duff war bereits auf und davon.

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