3

»Ich habe mich umgesehen, und im Halbdunkel lagen diese Norse-Rider-Typen auf dem Boden verstreut, mit dem Gesicht nach unten«, sagte Macbeth. »Blut, zerbrochenes Glas und leere Patronenhülsen.«

»Heiland!« Angus’ gelallter Ausruf übertönte das angeregte Gerede im Bricklayers Arms, dem Stammlokal der SWATs hinterm Bahnhof. In den glasigen blauen Augen, mit denen er Macbeth anblickte, schien echte Bewunderung zu liegen. »Ihr habt sie einfach vom Erdboden weggefegt. Wahnsinn! Prost!«

»Na, na, als verhinderter Priester sollten Sie aber auf Ihre Ausdrucksweise achten«, sagte Macbeth. Als die achtzehn anwesenden SWAT-Beamten ihre Bierkrüge hoben, um auf ihn anzustoßen, lächelte er jedoch, schüttelte den Kopf und hob ebenfalls sein Glas. Er trank einen langen Schluck und schaute zu Olafson hinüber, der einen der schweren Bricklayers-Arms-Krüge in seiner linken Hand hielt. »Tut’s weh, Olafson?«

»Beim Gedanken daran, dass einem von denen jetzt auch ordentlich die Schulter brennt, geht’s gleich besser«, lispelte Olafson und rückte schüchtern die Armschlinge zurecht, während die anderen in lautes Gelächter ausbrachen.

»Wirklich in Gang gebracht haben die Sache Banquo und unser Olafson hier«, sagte Macbeth. »Ich habe diesen beiden Künstlern nur den Scheinwerfer gehalten, wie ein gottverdammter Assistent beim Fotografen.«

»Erzählen Sie weiter«, sagte Angus. »Sie und Duff, Sie hatten also alle Norse Riders vor sich auf dem Boden liegen. Was ist dann passiert?« Er schob sich die blonden Haare hinter die Ohren.

Macbeth betrachtete die erwartungsvollen Gesichter am Tisch und tauschte einen Blick mit Banquo, bevor er fortfuhr. »Einige haben geschrien, sie würden sich ergeben. Der Staub hat sich gelegt, und die Musikanlage war in tausend Stücke zerschossen, also war’s endlich ruhig. Aber auch dunkel, und die ganze Situation war ziemlich unklar. Duff und ich haben von unserem Ende des Raums aus angefangen, sie zu kontrollieren. Es gab keine Todesfälle, aber eine ganze Reihe von ihnen brauchten medizinische Versorgung, um es mal vorsichtig auszudrücken. Duff hat geschrien, er könne Sweno nicht finden.« Macbeth fuhr mit einem Finger über sein beschlagenes Glas. »Mir fiel eine Tür hinter dem Tisch auf, da, wo Sweno gesessen hatte. In dem Moment hörten wir auch schon, wie Motorräder gestartet wurden. Also haben wir die anderen liegen lassen und sind raus auf den Hof. Da haben wir dann die drei Maschinen gesehen, die gerade zum Tor rausfuhren. Eins davon war rot, das von Sweno. Und der Wächter, so ein glatzköpfiger Typ mit Schnurrbart, ist auf seine Maschine gesprungen und den anderen hinterher. Duff war fuchsteufelswild, wollte die Verfolgung aufnehmen, aber ich hab ihn dran erinnert, dass da ein paar schwer verletzte Leute im Haus lagen …«

»Haben Sie etwa geglaubt, dass ihn das aufhalten würde?«, fragte eine leise Stimme. »Dass er auf irgendwelche blutenden Arschlöcher Rücksicht nehmen würde, statt Sweno in die Finger zu kriegen?«

Macbeth drehte sich um. Die Stimme kam aus der Nische nebenan, und das Gesicht des Mannes, zu dem sie gehörte, lag im Schatten unter dem Regal, auf dem die Dart-Pokale des Clubs standen.

»Glauben Sie, Duff schert sich um das Leben einiger gewöhnlicher Leute, wenn eine echte Heldentat zum Greifen nahe ist?« Im Schatten wurde ein Bierkrug gehoben. »Immerhin muss man ja auch an die Karriere denken.«

An Macbeths Tisch war es still geworden.

Banquo hustete. »Zur Hölle mit der Karriere. Wir bei den SWATs lassen keine hilflosen Leute sterben, Seyton. Wir wissen ja nicht, wie das bei euch im Rauschgift läuft.«

Seyton beugte sich vor, und Licht fiel auf sein Gesicht. »Bei uns im Rauschgift weiß auch keiner, wie es läuft, das ist ja das Problem, wenn man einen Chef hat wie Duff. Aber ich will Ihre Geschichte nicht unterbrechen, Macbeth. Sie sind also wieder rein und haben sich erst mal um die Verletzten gekümmert?«

»Sweno ist ein Mörder, der wieder töten würde, wenn er die Chance bekäme.« Macbeth hielt Seytons Blick stand. »Und Duff fürchtete, sie würden über die Brücke entkommen.«


»Ich hatte Angst, sie würden über die Brücke entkommen, wie es der Laster ja auch versucht hatte«, sagte Duff. »Also sind wir wieder auf die Motorräder gesprungen. Wir sind losgerast, so schnell wir konnten. Und noch ein bisschen schneller. Eine falsch eingeschätzte Kurve auf der nassen Fahrbahn und …« Duff schob im Lyon’s die goldene, nur halb aufgegessene Crème brûlée über das Tischtuch aus Damast, nahm die Champagnerflasche aus dem Kühler und füllte die Gläser seiner drei Zuhörer auf. »Nach der ersten dieser wahnsinnig engen Kurven ganz unten im Tal hab ich die Rücklichter von vier Motorrädern gesehen und Vollgas gegeben. Im Rückspiegel hab ich festgestellt, dass Macbeth immer noch hinter mir war.«

Duff warf Chief Commissioner Duncan einen verstohlenen Blick zu, um zu sehen, ob sein Bericht gut aufgenommen wurde. Das sanfte, freundliche Lächeln auf dessen Gesicht war jedoch schwer zu interpretieren. Duncan hatte den eigenmächtigen Einsatz jener Nacht immer noch nicht direkt kommentiert. Aber war die Tatsache, dass er zu dieser kleinen Feier erschienen war, nicht bereits eine Art Anerkennung? Vielleicht. Das Schweigen des Chief Commissioners verunsicherte Duff trotzdem. Mit dem blassen rothaarigen Chef der Antikorruptionseinheit fühlte er sich deutlich wohler: Inspector Lennox lehnte sich wie üblich voller Begeisterung über den Tisch und hing an seinen Lippen. Auch die Chefin der Kriminaltechnik, Caithness, gab ihm mit ihren großen grünen Augen zu verstehen, dass sie ihm jedes einzelne Wort glaubte.

Duff stellte die Flasche ab. »Auf dem Straßenabschnitt vor dem Tunnel konnten Macbeth und ich nebeneinander fahren, und die Rücklichter vor uns kamen immer näher. Als wären sie langsamer geworden. Ich konnte die Hörner auf Swenos Helm erkennen. Aber dann ist was Unerwartetes passiert.«

Duncan schob sein Champagnerglas neben Duffs Rotweinglas, und dieser wusste nicht, ob er das als Gespanntheit oder als Ungeduld auslegen sollte. »Zwei der Motorräder bogen direkt hinter der Bushaltestelle ab, an der Ausfahrt nach Forres, und die zwei anderen fuhren weiter auf den Tunnel zu. Wir waren Sekunden von der Kreuzung entfernt, und ich musste eine Entscheidung treffen.«

Duff legte besondere Betonung auf das Wort Entscheidung. So klang es gewichtig, nach einem mentalen Prozess, für den man Charakterstärke benötigte und eine echte Führungspersönlichkeit sein musste. Die Art von Führungspersönlichkeit, die der Chief Commissioner brauchte, wenn er den künftigen Chef des neu gegründeten Dezernats für Organisierte Kriminalität ernannte. Das DOK war eine Zusammenlegung von Rauschgiftdezernat und Bandendezernat, eine logische Verschmelzung, denn das Drogengeschäft der gesamten Stadt hatten Hecate und die Norse Riders inzwischen unter sich aufgeteilt und alle anderen Banden geschluckt. Die Frage war, wer die Einheit leiten würde, Duff oder Cawdor, der erfahrene Chef des Bandendezernats, der ein verdächtig großes und vollständig abbezahltes Haus im Westteil der Stadt besaß. Das Problem war, dass Cawdor über viele Unterstützer im Stadtrat und unter Kenneths alten Verschwörern im Polizeihauptquartier verfügte. Und obwohl alle wussten, dass es Duncans erklärte Absicht war, die zahlreichen Cawdors loszuwerden, musste er politisches Fingerspitzengefühl beweisen, um im Hauptquartier nicht die Kontrolle zu verlieren. Klar war nur, dass einer von beiden, Cawdor oder Duff, am Ende als Sieger hervorgehen und der andere ohne eigene Einheit dastehen würde.

»Ich hab Macbeth signalisiert, dass wir den beiden nach Forres folgen sollten.«

»Wirklich?«, fragte Lennox. »Aber damit war doch klar, dass die anderen beiden die Bezirksgrenze überqueren würden?«

»Ja, das war das Dilemma. Aber Sweno ist ein schlauer Fuchs. Schickte er zwei Männer als Lockvögel nach Forres und fuhr selbst über die Grenze? Schließlich war er der einzige Norse Rider, gegen den wir wirklich etwas in der Hand haben. Oder rechnete er damit, dass wir genau das glaubten, und tat deshalb das Gegenteil?«

»Haben wir?«, fragte Lennox.

»Haben wir was?« Duff versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Unterbrechung ärgerte.

»Etwas gegen Sweno in der Hand? Das Stoke-Massaker ist verjährt, soweit ich weiß.«

»Die zwei Postüberfälle in Distrikt 1 vor fünf Jahren«, entgegnete Duff ungeduldig. »Wir haben Swenos Fingerabdrücke und alles.«

»Und bei den anderen Norse Riders?«

»Null Komma nichts. Und in dieser Nacht haben wir auch nichts bekommen, weil sie alle Helme aufhatten. Na jedenfalls, als wir dann nach Forres abgebogen sind, sahen wir den Helm …«

»Das Stoke-Massaker?«, fragte Caithness.

Duff stöhnte auf.

»Damals waren Sie wahrscheinlich noch nicht mal geboren«, sagte Duncan freundlich. »Die Geschichte begann in Capitol, gleich nach dem Krieg. Swenos Bruder sollte als Deserteur verhaftet werden und war dumm genug, eine Waffe zu ziehen. Die beiden Kollegen, die da waren, um ihn festzunehmen, hatten beide den Krieg im Schützengraben verbracht und haben ihn an Ort und Stelle ausgeschaltet. Sweno hat seinen Bruder dann mehrere Monate später in Stoke gerächt. Er ist auf das örtliche Revier gegangen und hat vier Polizeibeamte erschossen, zu denen auch eine schwangere Kollegin gehörte. Sweno ist danach vom Radar verschwunden, und als er wieder auftauchte, war der Fall verjährt. Bitte, Duff, erzählen Sie weiter.«

»Vielen Dank. Ich hab mir gedacht, dass sie vermutlich nicht mitbekommen hatten, dass wir ihnen so dicht auf den Fersen waren und Swenos Helm sehen konnten, als wir Richtung Forres und zur alten Brücke gefahren sind. Ein paar Kilometer weiter haben wir sie jedenfalls eingeholt. Das heißt, Macbeth feuerte zweimal in die Luft, als sie noch ein gutes Stück voraus waren, und da haben sie angehalten. Wir haben ebenfalls gestoppt. Das Tal lag schon hinter uns, deshalb hat es da auch nicht geregnet. Gute Sicht, Mondschein, fünfzig bis sechzig Meter zwischen uns. Ich hatte meine AK-47 gezogen und hab ihnen gesagt, dass sie absteigen und fünf Schritte auf uns zukommen sollten. Dann sollten sie sich auf die Fahrbahn knien und die Hände hinter den Kopf halten. Das haben sie auch getan, und wir sind abgestiegen und auf sie zugegangen.«

Duff schloss die Augen.

Er sah sie jetzt vor sich. Sie knieten. Duffs Lederjacke knarzte, als er auf sie zuging. Ein einzelner Regentropfen hing an seinem geöffneten Visier, am äußeren Rand seines Gesichtsfelds. Er würde fallen. Bald.


»Es war vielleicht noch ein Abstand von zehn bis fünfzehn Schritten zwischen uns, als Sweno eine Waffe zog«, sagte Macbeth. »Duff hat sofort reagiert. Hat abgedrückt, Sweno dreimal in die Brust getroffen. Er war tot, bevor sein Helm auf dem Boden aufkam. Aber in der Zwischenzeit hatte auch der zweite Mann nach seiner Waffe gegriffen und auf Duff angelegt. Zum Glück hat er es jedoch nicht geschafft, den Abzug zu drücken.«

»Scheiße«, rief Angus. »Sie haben ihn erschossen, oder?«

Macbeth lehnte sich zurück. »Mit dem Dolch erwischt.«

Banquo musterte seinen direkten Vorgesetzten.

»Beeindruckend«, flüsterte Seyton im Halbdunkel. »Andererseits hat Duff schneller reagiert als Sie, in dem Augenblick, als Sweno nach seiner Waffe griff, oder? Ich hätte gewettet, Sie wären der Schnellere, Macbeth.«

»Tja, da haben Sie sich geirrt«, sagte Macbeth. Was sollte das, worauf war Seyton aus? »Genau wie Duff sich geirrt hatte«, sagte Macbeth und hob seinen Bierkrug an die Lippen.


»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte Duff und gab dem Kellner ein Zeichen, dass er eine weitere Flasche Champagner bringen solle. »Natürlich nicht, was die Schüsse anbelangt. Aber als es darum ging, zu entscheiden, welchen Motorrädern wir folgen sollten.«

Der Oberkellner kam an den Tisch und informierte sie leise darüber, dass das Lokal leider schließen müsse und es illegal sei, nach Mitternacht Alkohol auszuschenken. Es sei denn, dass der Chief Commissioner …

»Danke, nein«, sagte Duncan, der sehr gut verschmitzt lächeln und gleichzeitig tadelnd die Augenbrauen hochziehen konnte. »Wir halten uns ans Gesetz.«

Der Kellner zog sich zurück.

»Eine falsche Entscheidung treffen manchmal auch die Besten von uns«, sagte Duncan. »Wann ist es Ihnen klar geworden? Als Sie den Helm abgenommen haben?«

Duff schüttelte den Kopf. »Unmittelbar davor, als ich neben dem Toten niedergekniet bin und zufällig einen Blick auf sein Motorrad geworfen habe. Es war nicht Swenos Maschine, der Säbel war nicht da. Und die Riders tauschen niemals ihre Motorräder.«

»Aber sie tauschen ihre Helme?«

Duff zuckte mit den Schultern. »Ich hätte es wissen müssen. Schließlich hatten Macbeth und ich gerade denselben Trick angewandt. Sweno hatte die Helme gewechselt, und sie sind extra langsam gefahren, damit wir sehen konnten, dass der Rider mit dem Helm nach Forres abgebogen war. Er selbst ist durch den Tunnel gefahren und über die Brücke entkommen.«

»Clever gemacht, ohne Zweifel«, sagte Duncan. »Zu schade, dass seine Leute nicht auch so clever waren.«

»Was meinen Sie?«, fragte Duff und schaute auf das Lederheft mit der Rechnung hinab, das der Kellner vor ihm abgelegt hatte.

»Warum richten sie ihre Waffen auf Polizisten, wenn sie doch genau wissen – wie Sie selbst gesagt haben –, dass wir ausschließlich gegen Sweno Beweise in der Hand haben? Sie hätten sich einfach festnehmen lassen können und das Revier ein paar Stunden später als freie Männer wieder verlassen.«

Duff zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben sie nicht geglaubt, dass wir Polizisten waren. Vielleicht hielten sie uns für Hecates Leute und glaubten, wir wollten sie umbringen.«

»Oder, wie der Chief Commissioner sagt«, warf Lennox ein, »sie waren einfach nur blöd.«

Duncan kratzte sich am Kinn. »Wie viele Norse Riders haben wir in Haft genommen?«

»Sechs«, sagte Duff. »Als wir zum Clubhaus zurückkamen, waren nur noch die wirklich schwer Verwundeten da.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass Gangs wie die Norse Riders dem Feind ihre Verwundeten überlassen.«

»Sie wussten, dass sie auf diese Weise schneller medizinische Hilfe bekommen würden. Sie werden jetzt im Krankenhaus behandelt, aber wir gehen davon aus, dass wir morgen noch weitere in Gewahrsam nehmen können. Und dann werden sie über Sweno befragt. Ganz egal, was für Schmerzen sie haben. Wir finden ihn, Sir.«

»Schön. Viereinhalb Tonnen Amphetamin. Das ist eine Menge«, sagte Duncan.

»Allerdings.« Duff lächelte.

»So viel, dass Sie sich vielleicht doch fragen sollten, warum Sie mich nicht im Vorfeld über Ihren Einsatz verständigt haben.«

»Die Zeit«, erwiderte Duff rasch. Er hatte sich genau überlegt, wie er die unvermeidliche Frage beantworten würde. »Es war nicht genug Zeit zwischen dem Tipp und dem Zugriff. Als Chef der Einheit musste ich abwägen – den ordnungsgemäßen Dienstweg gegen das Risiko, nicht verhindern zu können, dass viereinhalb Tonnen Amphetamin ihren Weg zur Jugend dieser Stadt finden.«

Duff stellte fest, dass Duncan ihn nachdenklich betrachtete. Der Zeigefinger des Chief Commissioners fuhr immer wieder über die Spitze seines Kinns. Dann befeuchtete er sich die Lippen.

»Es hat auch viel Blutvergießen gegeben. Die Brücke ist stark beschädigt. Sämtliche Fische im Fluss sind jetzt vermutlich Junkies. Und Sweno ist immer noch auf freiem Fuß.«

Duff fluchte im Stillen. Dieser scheinheilige, arrogante Idiot musste natürlich das düstere Gesamtbild beschwören.

»Aber«, sagte der Chief Commissioner, »sechs Norse Riders sitzen in Haft. Und wenn wir uns in den nächsten Wochen alle ein bisschen beschwingter fühlen, nachdem wir frischen Fisch gegessen haben, ist das immer noch besser, als wenn der Stoff bei unserem Nachwuchs landet. Oder …« Duncan nahm die Champagnerflasche. »In der Asservatenkammer.«

Lennox und Caithness lachten. Es war allgemein bekannt, dass aus der Asservatenkammer des Hauptquartiers immer noch unkontrolliert beschlagnahmte Beweismittel verschwanden.

»Also«, sagte Duncan und hob sein Glas. »Gute Polizeiarbeit, Duff.«

Duff blinzelte zweimal. Sein Herz schlug rasch und leicht. »Vielen Dank«, sagte er und leerte sein Glas.

Duncan schnappte sich das Lederheft. »Das geht auf mich.« Er nahm die Rechnung, hielt sie eine Armlänge von sich entfernt und kniff die Augen zusammen. »Auch wenn ich nicht erkennen kann, ob das überhaupt unsere Rechnung ist.«

»Wer kann das schon!«, sagte Lennox mit einem steifen Lächeln, als niemand lachte.

»Lassen Sie mich«, sagte Caithness, nahm die Rechnung und setzte sich ihre Hornbrille auf. Duff wusste, dass sie sie nicht brauchte. Sie trug sie nur, um ein paar Jahre älter zu wirken und von ihrem Äußeren abzulenken. Duncan hatte Mut bewiesen, als er ihr die kriminaltechnische Abteilung übergeben hatte. Nicht, weil irgendjemand an ihrer beruflichen Kompetenz zweifelte – sie war die beste Kadettin an ihrer Polizeischule gewesen und hatte zudem noch Chemie und Physik studiert. Aber sie war jünger als alle anderen Abteilungschefs, dazu Single und so gut aussehend, dass zwangsläufig Zweifel an seinen Motiven aufkommen mussten. Die Kerzenflammen ließen ihre lachenden Augen ebenso schimmern wie ihre feuchten Lippen und ihre leuchtend weißen Zähne. Duff schloss die Augen. Die glitzernde Fahrbahn, die Geräusche der Reifen auf der nassen Straße. Die knallenden Schüsse. Das Blut, das zu Boden gespritzt war, als der Mann sich den Dolch aus dem Hals gerissen hatte. Es war, als würde eine Hand Duffs Brust zusammendrücken. Rasch öffnete er die Augen und schnappte nach Luft.

»Alles okay?« Lennox hielt eine Wasserkaraffe über Duffs Glas. »Trinken Sie das, Duff, um den Champagner zu verdünnen. Sie müssen ja noch fahren.«

»Kommt nicht infrage«, sagte Duncan. »Ich möchte nicht, dass meine Helden wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet werden oder auf der Straße verunglücken. Für meinen Fahrer ist ein kleiner Umweg kein Problem.«

»Vielen Dank«, sagte Duff. »Aber Fife …«

»… liegt mehr oder weniger auf meinem Weg«, sagte Duncan. »Und es sind Mrs Duff und Ihre beiden wunderbaren Kinder, die mir danken sollten.«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Duff, schob seinen Stuhl zurück und stand auf.


»Ein hervorragender Polizeibeamter«, sagte Lennox, während er Duff dabei zusah, wie er auf die Toilettentür am anderen Ende des Raumes zuschwankte.

»Duff?«, fragte Duncan.

»Der auch, aber ich dachte an Macbeth. Seine Resultate sind beeindruckend, seine Männer lieben ihn, und obwohl er schon unter Kenneth gearbeitet hat, wissen wir in der Antikorruptionseinheit, dass er wirklich eine weiße Weste hat. Zu schade, dass er rein formell nicht über die Qualifikationen für einen Posten in der höheren Leitungsebene verfügt.«

»Man muss nur die Polizeischule besucht haben, das ist die einzige zwingende Voraussetzung. Denken Sie an Kenneth.«

»Ja, aber Macbeth ist eben keiner von uns.«

»Von uns?«

»Na ja.« Lennox hob mit trockenem Lächeln sein Champagnerglas. »Sie haben für die bisherigen Führungspositionen nur Kandidaten ausgewählt, die bekanntermaßen zur Elite gehören – ob uns das gefällt oder nicht. Wir kommen alle aus dem Westen der Stadt oder aus Capitol, haben einen Universitätsabschluss oder einen respektablen Familiennamen. Macbeth stammt ja eher aus dem einfachen Volk, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Ja, ich weiß. Hören Sie, mir macht es ein bisschen Sorge, wie unsicher Duff auf den Beinen war. Könnten Sie …?«


Zum Glück war die Toilette menschenleer.

Duff zog sich den Hosenstall zu, stellte sich vor eines der Waschbecken, drehte einen Hahn auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Er hörte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete.

»Duncan schickt mich, um nach Ihnen zu sehen«, sagte Lennox.

»Mm. Was meinen Sie? Was denkt er?«

»Worüber?«

Duff zog ein Papiertuch aus dem Spender und trocknete sein Gesicht. »Darüber … wie die Sache gelaufen ist.«

»Er denkt wahrscheinlich, was wir alle denken: Sie haben gute Arbeit geleistet.«

Duff nickte.

Lennox lachte leise vor sich hin. »Sie wollen den Posten als Chef des neuen Dezernats unbedingt haben, oder?«

Duff drehte den Hahn zu und seifte seine Hände ein, während er den Leiter der Antikorruptionseinheit im Spiegel ansah. »Finden Sie, dass ich zu ehrgeizig bin?«

»Es ist nicht verkehrt, wenn man die Karriereleiter hochklettern will.« Lennox lachte erneut. »Es ist nur lustig zu sehen, wie Sie sich dabei anstellen.«

»Ich bin qualifiziert, Lennox. Ist es da nicht meine Pflicht gegenüber dieser Stadt und mir selbst und der Zukunft meiner Kinder, dass ich mich für den Posten ins Zeug lege, so gut ich kann? Soll ich das größte Dezernat einfach Cawdor überlassen? Wir wissen doch beide, dass er einiges an Dreck und Blut am Stecken haben muss, wenn er so lange unter Kenneth überlebt hat.«

»Aha«, sagte Lennox. »Sie treibt also die Pflichterfüllung? Kein persönlicher Ehrgeiz. Nun, wenn Sie so ein Heiliger sind, will ich Ihnen mal die Tür aufhalten.« Lennox verbeugte sich tief. »Ich nehme an, die Gehaltserhöhung und die damit verbundenen Privilegien werden Sie dann auch ausschlagen.«

»Das Gehalt, die Ehre und der Ruhm spielen für mich keine Rolle«, sagte Duff. »Aber die Gesellschaft belohnt denjenigen, der sich für sie einsetzt. Auf das Gehalt herabzublicken, würde bedeuten, auf die Gesellschaft herabzublicken.« Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Woran erkannte man, dass jemand log? War es möglich, die Lüge zu erkennen, wenn man selbst glaubte, die Wahrheit zu sagen? Wie lange würde er dafür brauchen, sich selbst davon zu überzeugen, dass es die Wahrheit war – die Version, auf die sich Macbeth und er geeinigt hatten und die sie erzählen würden, wenn man sie fragte, wie sie die beiden Männer auf der Straße getötet hatten?

»Haben Sie Ihre Hände jetzt fertig gewaschen, Duff? Ich glaube, Duncan will nach Hause.«


Draußen vor dem Bricklayers Arms verabschiedeten sich die SWAT-Männer voneinander. »Treue und Brüderlichkeit«, sagte Macbeth mit lauter Stimme.

Die anderen antworteten ihm einstimmig und mal mehr, mal weniger lallend: »Mit Feuer getauft, in Blut vereint.«

Dann gingen sie in alle Himmelsrichtungen davon. Macbeth und Banquo nach Westen, vorbei an einem Straßenmusiker, der sein Meet Me On The Corner eher heulte als sang, und durch die verlassenen, heruntergekommenen Hallen und Gänge des Hauptbahnhofs. Ein merkwürdig warmer Wind wehte ihnen entgegen und trieb Müll zwischen den einst so schönen dorischen Säulen hindurch, die nach Jahren der Verschmutzung und Vernachlässigung langsam zerfielen.

»Also«, sagte Banquo. »Erzählst du mir jetzt, was wirklich passiert ist?«

»Erzähl du mir lieber von dem Laster und Kenneth«, sagte Macbeth. »Neunzig Meter freier Fall!« Sein Gelächter hallte von der Backsteindecke wider.

Banquo lächelte. »Komm schon, Macbeth. Was ist da draußen auf der Landstraße passiert?«

»Haben die schon gesagt, wie lange die Brücke wegen der Reparaturarbeiten gesperrt bleiben wird?«

»Die andern kannst du vielleicht anlügen, aber nicht mich.«

»Wir haben sie erwischt, Banquo. Musst du sonst noch was wissen?«

»Muss ich?« Banquo wedelte mit der Hand vor seiner Nase, um den Gestank zu verscheuchen, der von der Treppe zu den Toiletten kam. Darauf stand vornübergebeugt eine Frau unbestimmbaren Alters mit den Haaren im Gesicht und klammerte sich am Geländer fest.

»Nein.«

»Na schön«, sagte Banquo.

Macbeth blieb stehen und kniete sich vor einem Jungen hin, der mit einer Bettlertasse an der Wand hockte. Der Junge hob den Kopf. Er hatte eine schwarze Klappe über einem Auge, und das andere starrte benebelt ins Nichts wie in einem Traum. Macbeth legte einen Geldschein in seine Tasse und eine Hand auf seine Schulter. »Wie geht’s?«, fragte er sanft.

»Macbeth«, sagte der Junge. »Sehen Sie ja.«

»Du kannst es«, sagte Macbeth. »Vergiss das nie. Du kannst aufhören.«

Die Stimme des Jungen schlitterte lallend von einem Vokal zum nächsten. »Und woher wissen Sie das?«

»Glaub mir, andere haben es auch geschafft.« Macbeth richtete sich wieder auf, und der Junge rief ihnen ein zittriges »Gott segne Sie, Macbeth« hinterher.

Sie gingen in die Hallen im östlichen Teil des Bahnhofs, wo eine verdächtige Stille herrschte, wie in einer Kirche. Die Junkies, die nicht an den Wänden oder auf den Bänken saßen, lagen oder standen, torkelten in einer Art langsamem Tanz durch die Gegend wie Astronauten in einem fremden Gravitationsfeld. Manche schauten die beiden Polizisten misstrauisch an, aber die meisten ignorierten sie einfach. Als hätten sie Röntgenaugen und längst festgestellt, dass ihnen die beiden nichts zu verkaufen hatten. Die meisten waren so ausgemergelt und in so schlimmem Zustand, dass man nicht genau sagen konnte, wie lange sie schon am Leben waren. Oder wie lange sie es im Grunde nicht mehr waren.

»Warst du nie in Versuchung, wieder anzufangen?«, fragte Banquo.

»Nein.«

»Die meisten Ex-Junkies träumen von einem letzten Schuss.«

»Ich nicht. Verschwinden wir hier.«

Sie gingen zur Treppe am westlichen Ausgang und blieben kurz stehen, bevor sie unter dem Dach hervortraten, das sie vor dem Regen schützte. Neben ihnen, auf schwarzen Schienen und einem niedrigen Sockel, ragte etwas auf, das im Dunkeln wie ein Urzeitmonster wirkte: Bertha, hundertzehn Jahre alt und die erste Lokomotive des Landes, Symbol für den Zukunftsoptimismus, der hier einst geherrscht hatte. Die breiten, majestätischen, sanft abfallenden Stufen führten hinab auf den finsteren, verlassenen Worker’s Square, auf dem früher jede Menge los gewesen war, Marktbuden und hin und her eilende Reisende. Nun wirkte er geradezu gespenstisch, ein Platz, über den nur noch der Wind hinwegheulte. Am gegenüberliegenden Ende brannte Licht in einem altehrwürdigen Backsteingebäude, in dem einst das National Railway Network seine Büros gehabt hatte. Nachdem der Zugverkehr eingestellt worden war, hatte es leer gestanden – bis es schließlich verkauft, renoviert und zum glamourösesten und elegantesten Gebäude gemacht worden war, das die Stadt heute noch aufzubieten hatte: zum Inverness-Casino. Banquo war nur einmal dort gewesen und hatte sofort gewusst, dass dieser Ort nicht das Richtige für ihn war. Oder, besser gesagt: Er war nicht das Richtige für diesen Ort gewesen. Er war wohl eher der Typ für den Obelisken, wo die Gäste nicht so gut gekleidet waren, die Drinks nicht so teuer und die Prostituierten nicht so schön und auch weniger diskret.

»Gute Nacht, Banquo.«

»Gute Nacht, Macbeth. Schlaf gut.«

Banquo sah, dass ein leichtes Zittern den Körper seines Freundes durchlief, dann leuchteten Macbeths weiße Zähne in der Dunkelheit. »Grüß Fleance von mir und sag ihm, dass sein Vater heute Nacht großartige Arbeit geleistet hat. Was hätte ich darum gegeben, Kenneth in freiem Fall von dieser Brücke segeln zu sehen …«

Banquo hörte seinen Freund leise kichern, während er in der Finsternis und dem Regen des Worker’s Square verschwand. Doch als sein eigenes Lachen verklungen war, fühlte er sich beklommen. Macbeth war nicht bloß ein Freund und Kollege, er war wie ein Sohn, ein Moses im Weidenkorb, den Banquo fast ebenso liebte wie Fleance. Deshalb wartete Banquo, bis er Macbeth auf der anderen Seite des Platzes wieder auftauchen und in das Licht treten sah, das über dem Eingang des Casinos brannte. Eine große Frau in langem rotem Kleid und mit flammend roten Haaren tauchte jetzt daraus auf, um ihn zu umarmen. Als hätte ein Geist sie vorgewarnt, dass ihr Liebster auf dem Weg zu ihr war.

Lady.

Vielleicht hatte sie von den Vorkommnissen dieses Abends Wind bekommen. Eine Frau wie Lady hätte es nicht so weit gebracht ohne Informanten, die ihr alles mitteilten, was sich unter der Oberfläche dieser Stadt abspielte.

Sie verharrten immer noch in ihrer Umarmung. Lady war eine wunderschöne Frau und früher womöglich noch schöner gewesen. Niemand schien zu wissen, wie alt sie war, aber Macbeths dreiunddreißig Jahren hatte sie eindeutig einige voraus. Doch vielleicht stimmte es ja, was man sagte: Wahre Liebe überwindet alle Hindernisse.

Vielleicht aber auch nicht.

Der alte Polizist drehte sich um und schlug den Weg nach Norden ein.


In Fife bog der Chauffeur des Commissioners, wie angewiesen, in die Einfahrt ein. Der Kies knirschte unter den Reifen des Wagens.

»Hier können Sie halten. Den Rest des Wegs gehe ich zu Fuß«, sagte Duff.

Der Chauffeur bremste. In der nun einsetzenden Stille konnten sie die Grillen und das Rauschen der Herbstbäume hören.

»Sie wollen sie nicht wecken«, sagte Duncan und schaute den Weg hinunter, wo ein kleines weißes Bauernhaus friedlich im Mondlicht lag. »Ich finde, da haben Sie vollkommen recht. Mögen unsere Lieben in Unwissenheit und Sicherheit schlafen. Ein schönes kleines Häuschen haben Sie hier.«

»Vielen Dank. Und entschuldigen Sie noch mal den Umweg.«

»Wir müssen alle mal einen Umweg in Kauf nehmen, Duff. Und wenn Sie das nächste Mal einen Tipp bekommen, wie jetzt mit den Norse Riders, dann nehmen Sie auch einen Umweg in Kauf und kommen zu mir. Okay?«

»Okay.«

Duncan fuhr sich mit dem Zeigefinger übers Kinn. »Unser Ziel ist es, aus dieser Stadt einen besseren Ort für alle zu machen, Duff. Aber das bedeutet, dass sämtliche positiven Kräfte zusammenarbeiten und daran denken müssen, was das Beste für die Gemeinschaft ist und nicht nur für sich selbst.«

»Natürlich. Ich würde gern noch sagen, dass ich bereit bin, jede Aufgabe zu übernehmen, sofern sie der Truppe und der Stadt dient, Sir.«

Duncan lächelte. »In diesem Fall wäre es an mir, Ihnen zu danken, Duff. Ach, eines noch …«

»Ja?«

»Sie sagten, vierzehn Norse Riders einschließlich Sweno wären mehr gewesen, als Sie erwartet hatten. Und es wäre viel unauffälliger gewesen, wenn sie bloß ein, zwei Leute geschickt hätten, um den Laster abzuholen?«

»Ja.«

»Ist Ihnen mal der Gedanke gekommen, dass auch Sweno einen Tipp bekommen haben könnte? Womöglich hat er erwartet, dass Sie da sein würden. Insofern war Ihre Angst vor einer undichten Stelle vielleicht nicht unbegründet. Gute Nacht, Duff.«

»Gute Nacht.«

Duff machte sich auf den Weg zu seinem Haus, atmete den Geruch der Erde und des Grases ein, auf dem das abgefallene Laub lag. Dieser Gedanke war ihm durchaus schon gekommen, und nun hatte Duncan ihn ausgesprochen. Eine undichte Stelle. Ein Informant. Und er, Duff, würde ihn aufspüren. Er würde ihn schon am nächsten Tag aufspüren.


Macbeth lag mit geschlossenen Augen auf der Seite. Hinter sich hörte er ihren gleichmäßigen Atem und von unten, aus dem Casino, den Bass der Musik wie einen gedämpften Herzschlag. Das Inverness hatte die ganze Nacht geöffnet, aber inzwischen war es selbst für die manischsten Spieler und die durstigsten Trinker reichlich spät. Draußen auf dem Flur gingen die Übernachtungsgäste vorbei und schlossen ihre Zimmer auf. Manche allein, andere mit ihren Ehefrauen oder -männern. Wieder andere in anderer Gesellschaft. Diesen Dingen schenkte Lady keine große Beachtung, solange sich die Frauen, die das Casino regelmäßig besuchten, an ihre ungeschriebenen Gesetze hielten. Sie mussten immer diskret, gepflegt, stets nüchtern, frei von Geschlechtskrankheiten und vor allem – das war das entscheidendste Kriterium – attraktiv sein. Einmal, kurz nachdem sie zusammengekommen waren, hatte Lady gefragt, warum er die Frauen nie ansah. Und gelacht, als er geantwortet hatte, dass er eben nur Augen für sie habe. Erst später war ihr klar geworden, dass er das ganz ernst meinte. Er musste sich nicht umdrehen, um sie zu sehen, ihre Züge waren in seine Netzhaut eingebrannt. Ganz gleich, wo er sich befand, er brauchte nur die Augen zu schließen, und schon war sie da. Es hatte niemanden vor Lady gegeben in seinem Leben. Gut, manche Frauen hatten sein Herz höherschlagen lassen, und definitiv hatten die Herzen mancher Frauen seinetwegen höhergeschlagen. Aber er war nie mit ihnen intim geworden. Und natürlich gab es die eine, die ihm das Herz gebrochen hatte. Als Lady das klar geworden war und sie ihn lachend gefragt hatte, ob sie bei ihm etwa an eine echte Jungfrau geraten sei, hatte er ihr seine Geschichte erzählt. Die Geschichte, die seitdem zwei Menschen kannten. Und dann hatte sie ihm ihre erzählt.

Hier in der Suite fühlte sich das Seidenlaken schwer und teuer an auf seinem nackten Körper. Wie ein Fieber, heiß und kalt zugleich. An ihrem Atem konnte er erkennen, dass sie wach war.

»Was ist los?«, flüsterte sie schläfrig.

»Nichts«, sagte er. »Ich kann bloß nicht schlafen.«

Sie kuschelte sich an ihn und strich ihm mit der Hand über Brust und Schultern. Manchmal, jetzt zum Beispiel, atmeten sie im völligen Gleichklang. Als wären sie ein und derselbe Organismus, wie siamesische Zwillinge, die sich eine Lunge teilten. Genau so hatte es sich damals angefühlt, als sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten anvertraut hatten. Seitdem wusste er, dass er nicht mehr allein war.

Ihre Hand glitt an seinem Oberarm hinab, über die Tätowierungen und bis zum Unterarm, wo sie seine Narben streichelte. Auch von ihnen hatte er ihr erzählt. Und von Lorreal. Sie hatten schlicht und einfach keinerlei Geheimnisse voreinander. Allerdings gab es einige schlimme Details, und er hatte sie angefleht, sie ihm zu ersparen. Sie liebte ihn, nur das war wichtig, nur das musste er wirklich über sie wissen. Er drehte sich auf den Rücken. Ihre Hand streichelte über seinen Bauch, hielt inne und wartete. Sie war die Königin. Und ihr Diener erhob sich gehorsam unter dem Seidenstoff.


Als Duff neben seine Frau ins Bett kroch, auf ihren gleichmäßigen Atem lauschte und die Wärme ihres Rückens spürte, kam es ihm vor, als verblassten die Erinnerungen an die zurückliegende Nacht bereits. Hier zu sein, hatte diese Wirkung auf ihn, das war schon immer so gewesen. Sie hatten sich kennengelernt, als er noch Student gewesen war. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie aus dem Westteil der Stadt, und auch wenn ihre Eltern anfänglich skeptisch gewesen waren, akzeptierten sie nach einer Weile den hart arbeitenden, ehrgeizigen jungen Mann. Außerdem kam Duff selbst aus einer respektablen Familie, wie sein Schwiegervater fand. Der Rest folgte beinahe automatisch. Hochzeit, Kinder, ein Haus in Fife, wo der Nachwuchs aufwachsen konnte, ohne die giftige Luft der Stadt einatmen zu müssen, der Berufseinstieg, die tägliche Schufterei. Lange Tage und die Aussicht auf Beförderung. Und die Zeit verrann. So war es eben. Sie war eine gute Ehefrau, dagegen konnte man nichts sagen. Klug, fürsorglich und loyal. Und er – war er etwa kein guter Ehemann? Sorgte er nicht für sie, legte er etwa nicht das Geld für die Ausbildung der Kinder zurück, hatte er etwa kein Häuschen am See gebaut? Nein, weder sie noch ihr Vater hatten Grund, sich zu beschweren. Er war, wie er war, daran konnte er nichts ändern. Wie auch immer, es sprach viel dafür, ein Zuhause zu haben, eine Familie, es gab einem Frieden. Dieses Leben hatte sein eigenes Tempo, seinen eigenen Ablauf, und dabei spielte es keine große Rolle, was draußen vor sich ging. Keine entscheidende Rolle. Und er brauchte diese Realität – oder eher, das Ausblenden der Realität –, das musste er haben. Dann und wann.

»Bist du also wieder nach Hause gekommen …«, murmelte sie.

»Zu dir und den Kindern«, sagte er.

»… mitten in der Nacht.«

Er lag da und lauschte auf das Schweigen zwischen ihnen. Versuchte sich darüber klar zu werden, ob es etwas Gutes war oder etwas Schlechtes. Dann legte sie ihm zärtlich die Hand auf die Schulter, drückte ihre Fingerspitzen fürsorglich gegen seine müden Muskeln, und er wusste, dass sie sich entspannen würden.

Er schloss die Augen.

Und sah es wieder vor sich.

Den Regentropfen, der am Rand seines Visiers hing. Den Mann, der vor ihm kniete. Sich nicht rührte. Den Helm mit den Hörnern. Duff wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Stattdessen hob er die Waffe auf Schulterhöhe. Konnte der Mann sich nicht wenigstens bewegen? Bald würde der Regentropfen fallen.

»Duff«, sagte Macbeth hinter ihm. »Duff, nicht …«

Der Tropfen fiel.

Duff feuerte. Feuerte noch einmal. Und noch einmal.

Drei Schüsse.

Der Mann, der vor ihm kniete, kippte zur Seite.

Die anschließende Stille war ohrenbetäubend. Er kauerte sich neben den Toten und nahm ihm den Helm ab. Es war, als würde man ihn mit einem Schwall Eiswasser übergießen, als er erkannte, dass es nicht Sweno war. Die Augen des jungen Mannes waren geschlossen; es sah aus, als würde er friedlich schlafend auf dem Boden liegen.

Duff drehte sich um, warf Macbeth einen Blick zu. Spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, und immer noch unfähig, etwas zu sagen, schüttelte er den Kopf. Macbeth nickte zur Antwort und zog dem anderen den Helm ab. Ebenfalls ein noch junger Mann. Duff spürte, wie ihm etwas die Kehle hinaufschoss, und schlug sich die Hände vors Gesicht. Unter seinem Schluchzen hörte er das Flehen des Mannes wie Möwenschreie über einer menschenleeren Ebene. »Nein, bitte! Ich habe nichts gesehen! Ich werde es niemandem sagen! Bitte, mir werden sowieso keine Geschworenen glauben. Ich ver…«

Die Stimme wurde abgeschnitten. Duff hörte, wie ein Körper auf der Fahrbahn aufschlug, ein tiefes Gurgeln, dann war alles still.

Er drehte sich um. Erst jetzt bemerkte er, dass der andere Mann weiße Sachen trug, die nun das Blut aufsogen, das aus dem Loch in seinem Hals drang.

Macbeth stand hinter dem Mann, mit einem Dolch in der Hand. Seine Brust hob und senkte sich schwer. »So«, stieß er bitter aus. »Jetzt hab ich dir meine Schuld zurückgezahlt, Duff.«


Duff presste seine Fingerspitzen auf die Stelle, wo es wehtun würde. Die andere Hand hielt er dem Mann über den Mund, um seine Schreie abzudämpfen, und drückte ihn auf das Krankenhausbett hinunter. Verzweifelt zerrte der Typ an den Handschellen, die ihn ans Kopfende fesselten. Im hellen Tageslicht, das durch das Fenster strömte, konnte Duff in seinen schreckgeweiteten Augen unter dem NORSE RIDER BIS ZUM TOD-Tattoo auf seiner Stirn deutlich das Netzwerk aus Äderchen um die schwarzen, vergrößerten Pupillen erkennen. Duffs Zeige- und Mittelfinger färbten sich rot, während er sie unter dem Verband mit einem schmatzenden Geräusch direkt in die Schulterwunde presste.

Jede Aufgabe, dachte Duff, sofern sie der Truppe und der Stadt dient.

Dann wiederholte er die Frage: »Wer ist euer Informant bei der Polizei?«

Er zog seine Hand von der Schulter. Der Mann hörte auf zu schreien. Duff nahm ihm die andere Hand vom Mund. Aber er antwortete nicht.

Also riss Duff den Verband ab und drückte diesmal all seine Finger in die Wunde. Er wusste, er würde eine Antwort bekommen, es war nur eine Frage der Zeit. Ein Mann kann nur ein gewisses Maß an Schmerz ertragen, bis er aufgibt, bis er jeden tätowierten Schwur bricht und alles tut – absolut alles –, was er niemals für möglich gehalten hätte. Denn Verrat ist menschlich, ewige Treue nicht.

Загрузка...