26

Duff schluckte, was ihm in der Kehle aufstieg. Es war sein vierter Tag an Bord, aber es gab noch kein Zeichen einer Besserung. Das Meer war das eine, aber dann kam noch der abgestandene Geruch in der Kombüse hinzu. Hinter der Schwingtür war es eine Mischung aus ranzigem Fett und saurer Milch, und auf der anderen Seite, in der Messe, in der die Mannschaft ihr Essen einnahm, waren es Schweiß und Tabak. Der Steward hatte Duff fürs Frühstück eingeteilt, in der Annahme, dass er wenigstens das allein hinbekam. Brot, Wurst- und Käseaufschnitt sowie gekochte Eier zu servieren und Kaffee zu kochen, sollte selbst ein seekranker Anfänger schaffen.

Duff war um sechs Uhr geweckt worden und hatte sich als Erstes in den Eimer neben seinem Bett erbrochen. Er hatte noch keine zwei Nächte in derselben Kabine verbracht, da der Mangel an Kojen bedeutete, dass er sich die Schlafplätze der Männer ausborgen musste, die gerade arbeiteten. Zum Glück hatte er in den Stockbetten bisher immer unten gelegen, sodass er nicht mit dem Eimer hatte schlafen müssen. Er hatte sich gerade seinen Pullover übergestreift, als ihn die nächste Welle Übelkeit erreichte. Auf seinem Weg hinunter in die Kombüse musste er einen Zwischenstopp einlegen, um sich in die Toilette neben der Kabine des Ersten Offiziers zu übergeben und dann noch einmal ins Waschbecken vor der letzten steilen Treppe.

Das Frühstück hatte er inzwischen serviert, und wie es aussah, waren die diensthabenden Mitglieder der Crew mit dem Essen fertig. Zeit aufzuräumen, bevor das Mittagessen zubereitet wurde.

Duff atmete drei tiefe Züge fragwürdiger Küchenluft ein, bevor er aufstand und in die Messe trat.

Vier Leute saßen am nächsten Tisch. Einer von ihnen sprach mit lauter Stimme, ein leicht übergewichtiger Schiffsingenieur mit haarigen Unterarmen, einem ölverschmierten Esso-T-Shirt, Schweißflecken unter den Armen und einer gestreiften Hull-City-Tigers-Kappe auf dem Kopf. Bevor und nachdem er etwas sagte, schniefte er laut, als würde er so seine Satzzeichen setzen. Dazwischen gab er Abschätziges über diejenigen von sich, die unter ihm standen. »Hey, Sparks«, brüllte der Ingenieur, um sicherzugehen, dass auch jeder mitbekam, dass er sich den jungen Funker mit der Brille am anderen Ende des Tisches vorknöpfte, »warum fragst du den neuen Smutje nicht, ob er dir ’ne Fischpastete aufwärmt, damit du deinen Schwanz reinstopfen kannst. Näher kommst du an ’ne Muschi sowieso nie ran.« Er schniefte, bevor er anfing zu lachen. Mehr als ein kurzes, gezwungenes Gelächter der anderen löste er jedoch nicht aus. Der junge Funker lächelte kurz und senkte den Kopf noch tiefer über seinen Teller. Der Ingenieur, von dem Duff wusste, dass die anderen ihn Hutch nannten, schniefte. »Aber wenn ich mir dieses Frühstück hier angucke, bezweifle ich, dass du weißt, wie man ’ne Fischpastete warm macht, oder?« Noch ein Schniefen.

Duff hielt den Kopf unten, wie der Funker. Mehr musste er nicht tun, bis sie den Hafen von Capitol erreichten. Sich bedeckt halten, seine Verkleidung tragen und den Mund nicht aufmachen.

»Sag mal, Smutje! Nennst du das hier Rührei?«

»Stimmt was nicht damit?«, fragte Duff.

»Ob was nicht stimmt?« Der Ingenieur verdrehte die Augen und wandte sich den anderen zu. »Der Grünschnabel fragt mich, ob was nicht stimmt. Bloß dass dieses Rührei aussieht und schmeckt wie Kotze. Wie deine Kotze. Aus deinen grünen, seekranken Kiemen.«

Duff schaute den Ingenieur an. Der Typ grinste, und in seinen Augen glomm ein bösartiges Funkeln. Duff hatte es schon einmal gesehen. Bei Lorreal, dem Direktor des Waisenhauses.

»Es tut mir leid, dass das Rührei nicht Ihren Erwartungen entsprochen hat«, sagte Duff.

»Nicht Ihren Erwartungen entsprochen«, äffte der Ingenieur ihn nach und schniefte. »Glaubst wohl, du bist hier in ’nem Scheiß-Sternerestaurant, was? Auf See wollen wir was Anständiges zu essen, nicht so einen Dreck. Was meint ihr, Jungs?«

Die anderen Männer stimmten kichernd zu, aber Duff sah, dass zwei von ihnen beschämt den Kopf senkten. Vermutlich spielten sie bloß mit, um nicht selber zur Zielscheibe zu werden.

»Der Steward hat beim Mittagessen Dienst«, sagte Duff und räumte Teller und Milchkartons auf ein Tablett. »Hoffen wir einfach, dass das in Ordnung ist.«

»Gar nicht in Ordnung«, sagte der Ingenieur, »ist, wie du hier rumläufst. Hast du Läuse? Oder warum hast du immer diese Mütze auf? Und was ist mit diesen Mösenhaaren, sollen die ’nen Bart darstellen? Was ist das, Smutje? Hast du die Muschi deiner Mutter, wo andere ihr Gesicht haben?«

Der Ingenieur schaute sich erwartungsvoll um, aber diesmal blickten alle nur angestrengt zu Boden.

»Ich hätte einen Vorschlag«, sagte Duff, obwohl er genau wusste, dass er den Mund halten sollte. »Sparks kann seinen Schwanz in deinen Ellbogen schieben. Dann weiß er, wie sich ’ne Muschi anfühlt, und du wirst auch endlich mal gefickt.«

Am Tisch wurde es so still, dass man nur noch hören konnte, wie Duff die Teller mit Käse, Wurst und Gurken auf sein Tablett räumte. Kein Schniefen diesmal.

»Ich wiederhole gern noch mal den Teil, der dich bestimmt am meisten interessiert«, sagte Duff und stellte das Tablett ab. »Dann wirst du endlich auch mal gefickt.« Er dehnte die Konsonanten so sehr, dass wirklich niemand daran zweifeln konnte, was er gesagt hatte. Dann wandte sich Duff dem Tisch zu. Der Ingenieur hatte sich erhoben und kam auf ihn zu.

»Nimm die Brille ab«, sagte er.

»Mach ich gern«, sagte Duff. »Dann muss ich dich fettes Stück Scheiße wenigstens nicht mehr sehen.«

Der Ingenieur holte aus, zeigte jedoch allzu deutlich, was er vorhatte. Duff trat einen Schritt zurück, holte Schwung und trat, als die ölschwarze Faust des Ingenieurs an ihm vorbeigeschossen war, zwei Schritte vor. Er schnappte sich seinen Gegner, der inzwischen die Balance verloren hatte, an dessen anderer Hand, drehte sie ihm auf den Rücken, packte seinen Ellbogen und stieß ihn energisch nach vorn. Der Ingenieur schrie auf und beugte sich unwillkürlich vor, um den schmerzhaften Druck auf sein Handgelenk zu verringern, während Duff ihn mit dem Kopf voran gegen die Wand knallen ließ. Duff zerrte den Ingenieur zurück. Rammte ihn wieder nach vorn. Gegen das Schott. Duff riss den Arm seines hilflosen Gegners höher, im Wissen, dass bald etwas nachgeben, etwas brechen musste. Das Schreien des Ingenieurs wurde zu einem Wimmern, und seine Finger griffen verzweifelt nach Duffs Mütze. Duff rammte ihm den Kopf zum dritten Mal gegen die Wand. Machte sich für ein viertes Mal bereit, als er eine Stimme hörte.

»Das reicht, Johnson!«

Duff brauchte eine Sekunde, um sich daran zu erinnern, dass er unter diesem Namen angeheuert hatte. Und um zu begreifen, dass es die Stimme des Kapitäns war. Duff schaute auf. Der Kapitän stand direkt vor ihm. Duff ließ den Ingenieur los, der schluchzend auf die Knie sank.

»Was ist hier los?«

Duff bemerkte erst jetzt, dass er nach Luft rang. Die Provokation. Die Wut. »Nichts, Kapitän.«

»Ich weiß durchaus, wie nichts aussieht, Johnson. Also, worum geht’s? Hutchinson?«

Duff war sich nicht sicher, aber es klang, als würde der Mann auf dem Boden weinen.

Duff räusperte sich. »Eine freundschaftliche Wette, Kapitän. Es ging um verschiedene Griffe beim Ringen. Ich wollte zeigen, dass der Five Grip effektiver ist als ein Hull Haymaker. Ich habe mich wohl zu sehr mitreißen lassen.« Er klopfte dem Ingenieur auf den zitternden Rücken. »Tut mir leid, Alter. Aber wir sind uns doch jetzt einig, dass dieser Griff mehr zu bieten hat, oder?«

Noch immer schluchzend, nickte der Ingenieur.

Der Kapitän nahm seine Mütze ab und musterte Duff. »Der Five Grip sagen Sie, ja?«

»Ja«, erwiderte Duff.

»Hutchinson, Sie werden im Maschinenraum gebraucht. Und ihr anderen habt auch Arbeit, oder nicht?«

Stumm verließen die Männer die Messe.

»Schenken Sie mir eine Tasse Kaffee ein und setzen Sie sich«, sagte der Kapitän.

Duff gehorchte.

Der Kapitän hob seine Tasse mehrere Male zum Mund. Schaute auf die schwarze Flüssigkeit hinunter und murmelte etwas. Gerade als Duff sich fragte, ob der Kapitän seine Anwesenheit vergessen hatte, hob er den Kopf.

»Grundsätzlich mache ich mir nicht die Mühe, mir die Vorgeschichte einzelner Leute anzuschauen, Johnson. Die meisten Mitglieder der Besatzung sind schlichte Burschen mit beschränktem Intellekt. Ihre Vergangenheit lässt man besser ruhen, und ihre Zukunft wird nicht an Bord der MS Glamis stattfinden. Sie werden sowieso nicht lange meinem Kommando unterstehen und sind daher auch nicht mein Problem. Ich weiß, dass es nichts bringt, sich in der Hinsicht zu sehr zu engagieren. Mich interessiert nur, wie sie als Gruppe funktionieren, als meine Crew.«

Der Kapitän trank einen weiteren Schluck und verzog das Gesicht. Duff hatte keine Ahnung, ob das am Kaffee lag, an irgendwelchen Schmerzen oder am Thema des Gesprächs.

»Sie kommen mir wie ein Mann mit Bildung und Ambitionen vor, Johnson, aber ich werde nicht fragen, wie Sie hier gelandet sind. Ich bezweifle sowieso, dass ich die Wahrheit hören würde. Aber ich vermute, dass Sie jemand sind, der weiß, wie Gruppen funktionieren. Sie wissen, dass es immer eine Hackordnung gibt und dass jeder darin seinen Platz einnehmen muss. Der Kapitän an der Spitze, der neue Rekrut ganz unten. Solange jeder die eigene Position und die der anderen akzeptiert, haben wir eine gut zusammenarbeitende Mannschaft. So wie ich es möchte. Im Augenblick herrscht allerdings ein gewisses Durcheinander am unteren Ende der Hackordnung hier auf der MS Glamis. Wir haben drei Küken an Bord. Sparks, weil er der Jüngste ist. Sie, weil Sie zum ersten Mal zur See fahren. Und Hutchinson, weil er der Dümmste ist und es allen sehr schwer macht, ihn zu mögen.«

Noch ein Schluck.

»Sparks wird diese Reise als Küken überleben. Er ist jung und intelligent genug, und er wird lernen. Sie, Johnson, sind offensichtlich gerade aufgestiegen, nach dem, was Sie mit Hutchinson gemacht haben. So wie ich das sehe, haben Sie die Situation genau zu diesem Zweck herbeigeführt. Aber wie ich Hutch kenne, hat er angefangen. Der dumme Idiot hat sich natürlich selbst die Grube gegraben. Deshalb sucht er auch jemanden, der unter ihm steht. Wahrscheinlich wird es irgendein armer Schlucker sein, der in Capitol bei uns anheuert. Da werden wir nämlich noch einige Männer aufnehmen müssen, weil uns ständig welche verlassen. Verstehen Sie?«

Duff zuckte mit den Schultern.

»Da liegt mein Problem, Johnson. Hutch wird es immer weiter versuchen, aber er bleibt ganz unten in der Hackordnung. Und ich hätte auf dieser Position lieber jemanden, der stumm sein Schicksal akzeptiert. Hutch ist ein ewiger Unruhestifter. Er meint, er hätte im Leben schon genug eingesteckt und jetzt müsse mal wer anders dran sein. Deshalb wird er weiterhin für eine miese Atmosphäre an Bord sorgen. Er ist kein schlechter Ingenieur, aber durch ihn arbeitet die Mannschaft schlechter, als wenn er nicht da wäre.«

Ein lautes Schlürfen.

»Warum entlasse ich ihn dann nicht, fragen Sie. Und das fragen Sie, weil Sie kein Seemann sind und nichts von den Verträgen wissen, die die Gewerkschaft bei uns abschließt. Es läuft darauf hinaus, dass ich Hutch nicht loswerde, bis ich etwas gegen ihn in der Hand habe, das mir einen sogenannten objektiven Grund gibt, ihn an Land zu setzen. Dass er einen Kollegen körperlich angegriffen hat, könnte so ein objektiver Grund sein …«

Duff nickte.

»Also? Ich bräuchte von Ihnen nur ein Ja und eine Unterschrift für die Gewerkschaft. Den Rest hole ich mir von den Augenzeugen.«

»Wir haben nur rumgealbert, Kapitän. Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Nein, das wird es nicht.« Der Kapitän kratzte sich am Kinn. »Wie gesagt, ich habe nicht die Angewohnheit, mich ins Vorleben meiner Mannschaft einzumischen. Aber ich muss sagen, dass ich den Griff, den Sie bei Hutch angewandt haben, bisher nur zweimal gesehen habe: bei der Militärpolizei und bei der Hafenpolizei. Das verbindende Element wäre die Polizei. Deshalb würde ich jetzt gerne die Wahrheit erfahren.«

»Die Wahrheit?«

»Ja. Hat er Sie angegriffen?«

Duff nahm den Kapitän in Augenschein. Er vermutete, dass er von Anfang an gewusst hatte, dass Cliff Johnson nicht sein echter Name war und dass der neue Smutje nie in einem Restaurant gearbeitet hatte. Er bat lediglich um ein Ja und eine falsche Unterschrift. Wenn die wahre Identität dieses Johnson jemals zur Diskussion stehen würde, wäre er längst über alle Berge.

»Ich verstehe. Ich sage Ihnen die Wahrheit«, entgegnete Duff und sah, wie der Kapitän sich über den Tisch beugte. »Wir haben bloß rumgealbert, Kapitän.«

Der Kapitän lehnte sich zurück. Hob die Kaffeetasse an den Mund. Sein Blick über der Tasse war fest auf Duff gerichtet. Nicht auf Duffs Augen, sondern höher, auf seine Stirn. Der Adamsapfel des Kapitäns bewegte sich auf und ab, als er schluckte. Dann stellte er die leere Tasse mit Schwung zurück auf den Tisch.

»Johnson.«

»Ja, Kapitän?«

»Sie gefallen mir.«

»Kapitän?«

»Ich habe keinerlei Grund zu glauben, dass Sie Hutch auch nur einen Deut mehr mögen als wir anderen. Aber Sie verpfeifen niemanden. Das sind keine guten Neuigkeiten für mich als Kapitän, aber es zeigt Integrität. Und das respektiere ich. Daher werde ich die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Sie sind seekrank und ein Lügner, aber ich könnte mehr Leute wie Sie in meiner Crew gebrauchen. Danke für den Kaffee.«

Der Kapitän stand auf und ging hinaus.

Duff blieb noch einige Sekunden sitzen. Dann nahm er die leere Tasse mit in die Kombüse und ließ sie in die Spüle gleiten. Schloss die Augen, legte die Hände auf das kalte, glänzende Metall und schluckte seine Übelkeit hinunter. Was sollte das? Warum hatte er ihm nicht die Wahrheit gesagt, dass Hutch alle tyrannisierte?

Er öffnete die Augen. Sah sein Spiegelbild in einem Topf, der von dem Regal vor ihm herabhing. Sein Herz setzte kurz aus. Die Mütze war ihm bis zum Haaransatz hochgerutscht, ohne dass er es mitbekommen hatte. Hutchinson musste bei seinem versuchten Schlag dagegengekommen sein. Die Narbe hob sich von seiner Haut ab wie der weiße Kondensstreifen eines Flugzeugs am blauen Himmel. Die Narbe. Sie hatte der Kapitän angestarrt, bevor er die Tasse abgestellt hatte.

Duff schloss die Augen, schärfte sich ein, ruhig zu bleiben und nachzudenken.

Sie hatten so früh abgelegt, dass die Zeitungen am Tag ihrer Abreise noch nicht im Umlauf gewesen waren, der Kapitän konnte also unmöglich irgendwelche Fahndungsfotos von ihm gesehen haben. Es sei denn, er hatte Duffs Gesicht bei der Pressekonferenz am Abend zuvor im Fernsehen gesehen. Aber hatte er in den Augen des Kapitäns einen Schock erkannt, als ihm die Narbe aufgefallen war – wenn er sie überhaupt gesehen hatte? Nein. Weil der Kapitän ein guter Schauspieler war und nicht zeigen wollte, dass er ihn erkannt hatte, bevor sie ihn später festnahmen? Da es wenig gab, was er dagegen tun konnte, entschied er, dass der Kapitän es nicht bemerkt hatte. Aber was war mit den anderen? Nein, er hatte mit dem Rücken zu ihnen gestanden, bis der Kapitän sie hinausgeschickt hatte. Abgesehen von Hutchinson, der vor ihm auf dem Boden gelegen hatte. Aber selbst wenn er die Narbe gesehen hatte, war er wohl kaum der Typ, der sich groß mit den Nachrichten beschäftigte.

Duff schlug die Augen wieder auf.

In zwei Tagen, am Mittwoch, würden sie anlegen.

Achtundvierzig Stunden. Sich zwei Tage bedeckt halten. Das würde er ja wohl hinbekommen.


Die Orgelmusik setzte ein, und er stand zwischen zwei Bankreihen in der Kathedrale und spürte, wie sich alle Haare seines Körpers aufstellten. Es lag weder an der Musik noch an den Trauerreden des Priesters oder des Bürgermeisters, auch nicht daran, dass Duncans Sarg von sechs Männern den Mittelgang hinuntergetragen wurde. Nicht mal an der Tatsache, dass er keinerlei Power genommen hatte. Es lag an der grauenhaften neuen Uniform, die er trug. Sobald er sich bewegte, kratzte die raue Wolle an seiner Haut und ließ ihn erschaudern. Seine alte hatte aus billigerem Stoff bestanden, war aber ausgetragener und bequemer gewesen. Er hätte natürlich auch den neuen schwarzen Anzug wählen können, der ihm ins Hauptquartier geschickt worden war und der nur von Hecate kommen konnte. Die Qualität der Wolle war sehr viel hochwertiger, merkwürdigerweise juckte sie jedoch noch mehr als die Uniform. Abgesehen davon wäre es ein Bruch mit der Tradition gewesen, bei der Beerdigung eines Polizisten nicht in Uniform zu erscheinen.

Der Sarg wurde an Macbeths Bank vorbeigetragen. Duncans Frau und seine beiden Kinder folgten ihm mit gesenkten Köpfen, aber als einer der Söhne zufällig aufsah und sich ihre Blicke trafen, schaute Macbeth unwillkürlich zu Boden.

Dann traten sie alle aus den Reihen in den Mittelgang und folgten dem Zug. Macbeth hielt sich so, dass er neben Tourtell gehen konnte.

»Schöne Rede«, sagte er.

»Vielen Dank. Ich bedaure es sehr, dass das Rathaus nicht bereit war, die Beerdigung von der Stadt bezahlen zu lassen. Bei geschlossenen Fabriken und zurückgehenden Steuereinnahmen stehen solche Ehrenbekundungen weit unten auf der Liste, fürchte ich. Trotzdem ziemlich unzivilisiert, wenn Sie mich fragen.«

»Ich kann das Rathaus gut verstehen.«

»Ich bezweifle, dass Duncans Familie das genauso sieht. Seine Frau hat mich angerufen. Sie meinte, wir hätten seinen Sarg durch die Stadt fahren sollen. Dann hätten die Bürger zeigen können, wie sehr er ihnen am Herzen gelegen hat. Und dass sie dasselbe wollen, was Duncan gewollt hat.«

»Glauben Sie, die Leute hätten das getan?«

Tourtell zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Macbeth. Meiner Erfahrung nach haben die Bürger dieser Stadt wenig Interesse an sogenannten Reformen, es sei denn, dass sie dadurch was zu essen auf den Tisch bekommen oder sich ein Extrabier leisten können. Ich hatte gedacht, langsam würde sich bei uns etwas ändern, dass der Mord an Duncan die Leute endlich in Rage gebracht hätte. Stattdessen sieht es so aus, als hätten sie endgültig akzeptiert, dass das Gute in dieser Stadt immer unterliegt. Der Einzige, der seinen Mund aufgemacht hat, ist Kite. Gehen Sie morgen zur Beerdigung von Banquo und seinem Sohn?«

»Natürlich. Unten in der Worker’s Church. Banquo war nicht besonders religiös, aber seine Frau, Vera, liegt da auf dem Friedhof.«

»Der Trauergottesdienst für Duffs Frau und Kinder soll wiederum hier in der Kathedrale stattfinden, habe ich gehört.«

»Ja, aber daran werde ich nicht persönlich teilnehmen.«

»Persönlich?«

»Wir werden hier einige Beamte positionieren, für den Fall, dass sich Duff entscheidet aufzutauchen.«

»Ach ja. Seine eigenen Kinder sollte man doch zum Grab begleiten. Vor allem wenn man weiß, dass man für ihren Tod mitverantwortlich ist.«

»Ja, es ist schon komisch, wie einen die Schuldgefühle fürs Leben brandmarken, während der Glanz von Ruhm und Ehre schon nach einer Nacht abblättert.«

»Man könnte glauben, Macbeth, dass Sie selbst einiges über Schuldgefühle wissen.«

»Dann lassen Sie mich Ihnen hier und jetzt gestehen, dass ich den Menschen umgebracht habe, der mir am nächsten stand.«

Der Bürgermeister blieb stehen und schaute Macbeth an. »Was sagen Sie?«

»Meine Mutter. Sie starb im Kindbett. Gehen wir weiter.«

»Und Ihr Vater?«

»Er rannte davon und fuhr zur See, als er hörte, dass meine Mutter schwanger war. Danach wurde er nie wieder gesehen. Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen. Mit Duff zusammen. Wir haben uns ein Zimmer geteilt. Aber Sie haben so ein Waisenhauszimmer vermutlich nie zu Gesicht bekommen, was, Tourtell?«

»Oh, ich habe schon ein, zwei Waisenhäuser eingeweiht.«

Sie waren auf den Portalstufen der Kathedrale angekommen, wo ihnen der feuchte Nordwestwind entgegenschlug. Macbeth sah, wie der Sarg auf dem Kiesweg gefährlich ins Schwanken geriet.

»Tja«, sagte Tourtell. »Schon manch einer hat sich auf einem Schiff aus dem Staub gemacht.«

»Wollen Sie meinen Vater kritisieren, Tourtell?«

»Wir haben ihn beide nicht gekannt. Ich will nur sagen, die Seefahrt ist voll von ihnen – von Männern, die ihre naturgegebenen Verpflichtungen nicht auf sich nehmen wollen.«

»Deswegen sollten Männer wie Sie und ich umso mehr Verantwortung übernehmen, Tourtell.«

»Sehr richtig. Wie haben Sie sich denn nun entschieden?«

Macbeth räusperte sich. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es für die Stadt am besten ist, wenn der Chief Commissioner Chief Commissioner bleibt und seine gute, enge Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister fortsetzt.«

»Weise Worte, Macbeth.«

»Natürlich nur, solange diese Zusammenarbeit funktioniert.«

»Worauf spielen Sie an?«

»Auf die Gerüchte, dass der Obelisk unter dem Deckmantel des Casinos einen Prostituiertenring betreibt und einigen Spielern illegale Kredite einräumt.«

»Ersteres ist eine alte Beschuldigung, Letzteres ist mir neu. Aber wie Sie wissen, ist es schwierig, solchen Gerüchten auf den Grund zu gehen. Deswegen halten sie sich auch so hartnäckig.«

»Ich habe einen konkreten Verdacht, der sich mindestens auf zwei Spieler bezieht. Mit effektiven Verhörmethoden und dem Versprechen auf Straffreiheit können wir garantiert herausfinden, ob der Obelisk ihnen Kredite angeboten hat oder nicht. Anschließend wird die Spielbankenaufsicht den Laden vermutlich schließen müssen, solange die Gesamtausmaße der Unregelmäßigkeiten genauer untersucht werden.«

Der Bürgermeister strich sich über das unterste seiner Kinne. »Sie meinen, ich soll den Obelisken dichtmachen als Gegenleistung dafür, dass Sie nicht kandidieren?«

»Ich meine lediglich, dass die Verwaltung und die politische Leitung der Stadt konsequent Recht und Gesetz durchsetzen sollten. Wenn sie nicht in den Verdacht kommen wollen, von denjenigen gekauft und bestochen zu werden, die der Strafverfolgung zu entgehen versuchen.«

Der Bürgermeister schnalzte mit der Zunge. Wie ein Kind, das zum ersten Mal auf eine Olive beißt. Bei manchen Dingen dauerte es Jahre, bis sie einem schmeckten. »Wir reden von einer ganzen Reihe möglicher Unregelmäßigkeiten«, sagte Tourtell wie zu sich selbst. »Und, wie gesagt, es ist schwer, solchen Gerüchten auf den Grund zu gehen. Das kann dauern.«

»Sehr lange sogar«, sagte Macbeth.

»Ich werde der Spielbankenaufsicht mitteilen, dass wir möglicherweise Informationen erhalten werden, die es nötig machen könnten, das Casino zu schließen. Wo ist übrigens Lady? Ich hätte gedacht, da sie und Duncan …«

»Ihr geht es nicht so gut, fürchte ich. Vorübergehend.«

»Verstehe. Grüßen Sie sie und wünschen Sie ihr gute Besserung. Wir drücken der Familie jetzt wohl besser unser Beileid aus.«

»Gehen Sie zuerst. Ich folge Ihnen.«

Macbeth sah zu, wie Tourtell die Treppe hinunterwatschelte und Mrs Duncans Hand in seine Hände nahm, beobachtete, wie sich seine Lippen bewegten und er den Kopf in tiefer Anteilnahme senkte. Er sah wirklich aus wie eine Schildkröte. Aber etwas, das Tourtell gesagt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Die Seefahrt war voll von ihnen. Von Männern, die sich aus dem Staub gemacht hatten.

»Alles okay, Sir?« Es war Seyton. Er hatte draußen gewartet. Er könne Kirchen nicht ausstehen, hatte er gesagt. Es war ganz gut so, schließlich würden sich diejenigen, die es auf den Chief Commissioner abgesehen hatten, ebenfalls kaum in der Kirche aufhalten.

»Wir haben doch alle Passagierschiffe überprüft, die die Stadt verlassen haben«, sagte Macbeth. »Aber hat sich auch jemand um die anderen Schiffe gekümmert?«

»Wegen blinder Passagiere, meinen Sie?«

»Ja. Oder geschaut, wer auf ihnen angeheuert hat?«

»Nein.«

»Schicken Sie eine genaue Beschreibung von Duff an alle Schiffe, die hier seit gestern abgelegt haben. Sofort.«

»Gut, Sir.« Seyton war die Treppe in zwei Schritten hinunter und verschwand um die Ecke.

Meredith. Meredith hatte aufgehört zu existieren. Aber die Narbe auf seinem Herzen war immer noch da. Trotzdem würde Macbeth nicht zu der Beerdigung gehen. Weil sie schon seit so langer Zeit nicht mehr existierte, dass er ganz vergessen hatte, wer sie war. So lange, dass er vergessen hatte, wer er selbst einmal gewesen war.

Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, spürte den Stoff an seinem Oberschenkel, roch feuchte Wolle. Und schauderte.

Загрузка...