33

Hecate schwang das Teleskop auf seinem Stativ herum. Zwischen den Wolken brachen morgendliche Lichtstrahlen hervor, die sich wie Säulen auf die Stadt herabsenkten. »Macbeth meinte also, er würde mich während unseres Treffens töten?«

»Ja«, sagte Bonus.

Hecate blickte durch das Teleskop. »Schauen Sie sich das an. Schon jetzt eine Schlange vor dem Inverness.«

Bonus blickte sich im Raum um. »Sind heute die Kellner gar nicht da?«

»Die Jungs, meinen Sie? Ich buche sie nur, wenn ich sie brauche, ebenso wie diese Penthousesuite. Dinge zu besitzen bedeutet, an sie gefesselt zu sein. Für Menschen gilt dasselbe, Bonus. Aber wenn Sie feststellen, dass in Ihrem Wagen so viel Müll liegt, dass Sie langsamer werden, dann werfen Sie den Müll weg und nicht den Wagen. Das hat Macbeth nicht begriffen. Dass ich der Wagen bin und nicht der Müll. Hast du Macbeth angerufen, Strega?«

Das große Mannweib, das gerade in den Raum gekommen war, trat aus dem Schatten.

»Ja.«

»Und was hast du mit ihm ausgemacht?«

»Er kommt morgen um sechs allein hierher, um Sie zu treffen.«

»Vielen Dank.«

Wieder verschwand sie im Schatten.

»Ich frage mich, wieso er sich das traut«, sagte Bonus.

»Traut?«, wiederholte Hecate. »Er kann gar nicht anders. Macbeth ist inzwischen wie eine Motte, die hilflos zum Licht gezogen wird, zur Macht.«

»Und wie eine Motte wird er brennen.«

»Vielleicht. Was Macbeth am meisten zu fürchten hat, ist – wie bei der Motte – er selbst.«


Caithness schaute auf ihre Uhr. Zwölf Minuten vor zwölf. Dann richtete sie ihren Blick auf die Tür des Hotelzimmers vor sich. Sie würde die Messingziffern niemals vergessen, ganz gleich, wie lange sie lebte, ganz gleich, wie viele Männer sie treffen und lieben, wie viele Tage und Nächte sie mit ihnen verbringen würde.

323.

Sie konnte immer noch umkehren. Aber sie war hierhergekommen. Warum? Weil sie glaubte, sie würde Duff wiedertreffen und irgendetwas hätte sich geändert? Das Einzige, was sich geändert hatte, war, dass sie inzwischen wusste, dass sie ohne ihn sehr gut zurechtkam. Oder hegte sie womöglich den Verdacht, dass hinter dieser Tür eine neue Chance auf sie wartete, die Chance, das Richtige zu tun? Was sie nicht geschafft hatte, als sie Angus in der Estex-Fabrik hatte stehen lassen. Seine private Telefonnummer hatte sie inzwischen ermittelt, aber es war niemand an den Apparat gegangen.

Jetzt hob sie die Hand.

Die Tür würde explodieren, wenn sie klopfte.

Sie klopfte.

Wartete. Wollte gerade erneut klopfen, als die Tür sich öffnete. Ein junger Mann stand vor ihr.

»Wer sind Sie?«, fragte sie.

»Fleance, Banquos Sohn.« Es war dieselbe Stimme wie am Telefon. Er trat beiseite. »Bitte kommen Sie herein, Mrs Mittbaum.«

Das Hotelzimmer sah aus wie immer.

Malcolm sah aus wie immer.

Aber Duff nicht. Er war gealtert. Nicht bloß seit damals, als sie ihn vor Jahren das erste Mal so gesehen hatte wie jetzt, auf der Überdecke des Hotelbettes sitzend und auf sie wartend, sondern seit jenem Tag, als sie sich in ihrer Wohnung zum letzten Mal begegnet waren.

»Du bist gekommen«, sagte Duff.

Sie nickte.

Malcolm räusperte sich und putzte seine Brille. »Sie scheinen nicht besonders überrascht, uns hier zu sehen, Caithness.«

»Ich bin vor allem überrascht, dass ich hier bin«, sagte sie. »Was soll das hier werden?«

»Was hoffen Sie denn, was das hier werden soll?«

»Dass wir Macbeth stürzen werden.«


Seyton drückte den Hebel an der Eisentür hinunter und öffnete sie. Macbeth trat ein und betätigte den Schalter. Die Neonröhren blinzelten zweimal, bevor sie ein kaltes bläuliches Licht auf die mit Munitionskartons und Waffen gefüllten Regale warfen. Auf dem Boden des rechteckigen Raumes befanden sich ein Safe und zwei halb auseinandergebaute Gatling-Gewehre. Macbeth ging zum Safe hinüber, drehte das Rad und öffnete ihn. Holte einen mit Zebrastreifen gemusterten Koffer heraus. »Nur im Munitionsraum sind die Mauern dick genug, um das Risiko einzugehen, das Ding aufzubewahren«, sagte er. »Und auch dann nur in einem Safe.«

»Es ist also eine Bombe?«

»Ja«, sagte Macbeth, der sich hingehockt und den Koffer geöffnet hatte. »Getarnt als Kiste voller Gold.« Er hob einen der Barren hoch, die den Boden bedeckten. »Die Barren sind eigentlich aus Eisen und nur mit Gold überzogen. Die Bombe in dem Hohlraum darunter …«, er öffnete den Deckel des falschen Bodens, »… ist dafür aber umso echter.«

»Sieh mal einer an«, sagte Seyton und stieß einen leisen Pfiff aus. »Eine klassische, gut verpackte Zeitbombe.«

»Genial, oder? Wegen des Goldes wird niemand das Gewicht verdächtig finden. Das Ding wurde seinerzeit eigens konstruiert, um das Inverness hochzujagen.«

»Aha, das war dieser Fall. Und warum wurde die Bombe nicht vernichtet?«

»Meine Idee«, sagte Macbeth und studierte den Uhrwerksmechanismus. »Es ist ein fantastisches Stück Arbeit, und wir hatten es völlig entschärft. Ich dachte damals, das SWAT-Team würde bestimmt mal eine Verwendung dafür finden. Und so ist es ja jetzt auch ….« Er berührte einen Metallstift von der Größe eines Streichholzes. »Sie müssen nur hier ziehen, dann beginnt der Countdown. Sieht einfach aus, aber wir haben damals beinahe vierzig Minuten gebraucht, um das Ding zu entschärfen. Auf der Uhr sind nur noch fünfundzwanzig Minuten und fünfundfünfzig Sekunden übrig. Wenn ich den Stift rausziehe, gibt es also kein Zurück mehr.«

»Dann wird Ihr Gespräch mit Hecate nicht lange dauern dürfen.«

»Oh, das wird kein langes Treffen. Ich sage bloß, dass ich mich mit dem Gold für das bedanken will, was er bereits getan hat, und es mehr für ihn geben wird, wenn er mir hilft, zum Bürgermeister gewählt zu werden.«

»Wird er das denn tun?«

»Ich weiß nicht. Zehn Minuten später ist er eh tot. Der springende Punkt ist, dass er keinen Verdacht schöpfen darf. Aber er weiß ja, dass man in dieser Stadt nichts ohne Gegenleistung bekommt. Ich werde ihn bitten, darüber nachzudenken, auf meine Uhr schauen, sagen, dass ich noch eine Etatplanungssitzung habe – was auch stimmt –, und wieder gehen.«

»Entschuldigung …« Sie wandten sich der Tür zu. Ricardo stand dort. »Telefon.«

»Sagen Sie, ich rufe zurück«, entgegnete Seyton.

»Nicht für Sie, für den Chief Commissioner.«

Macbeth entging die unterschwellige Kälte in seiner Stimme nicht. Ihm war das schon die letzten Male aufgefallen, wenn er zum SWAT-Team gekommen war. Wie die Männer pflichtschuldig eine Begrüßung murmelten, aber rasch wegschauten, als wären sie gerade mit anderen Dingen beschäftigt.

»Für mich?«

»Ihre Vorzimmerdame hat ihn durchgestellt. Sie sagt, es ist der Bürgermeister.«

»Zeigen Sie mir den Apparat.«

Er folgte dem altgedienten SWAT-Mann. Etwas an Ricardos schmalem, aristokratischem Gesicht, der glänzenden Schwärze seiner Haut und der Geschmeidigkeit seiner majestätischen Schritte hatte Macbeth stets glauben lassen, dass der Officer von einem Löwen jagenden Stamm abstammen musste. Ein treuer Ehrenmann von Kopf bis Fuß. Macbeth wusste, Ricardo würde für seine Brüder in den Tod gehen, wenn nötig. Ein Mann, der sein Eigengewicht in Gold wert war. In echtem Gold.

»Stimmt etwas nicht, Ricardo?«

»Sir?«

»Sie wirken so still heute. Gibt es etwas, das ich wissen müsste?«

»Wir machen uns ein wenig Sorgen um Angus, das ist alles.«

»Ich habe schon gehört, dass er nicht ganz gesund sein soll. Es ist eben nicht jeder für diesen Job gemacht.«

»Das Problem ist, dass er nicht zum Dienst erschienen ist, und keiner weiß, wo er steckt.«

»Er wird schon wieder auftauchen. Wahrscheinlich brauchte er einfach mal ein bisschen Zeit, um rauszukommen und nachzudenken. Aber ich verstehe natürlich, dass Sie sich Sorgen machen, er könnte womöglich etwas Drastisches getan haben.«

»Etwas Drastisches ist auch mit …« Ricardo blieb vor der offenen Bürotür stehen. Drinnen lag ein Telefonhörer auf dem Schreibtisch. »Ich glaube nicht, dass das irgendwas mit Angus selbst zu tun hat.«

Macbeth blieb stehen und schaute ihn an. »Was glauben Sie denn dann?«

Ihre Blicke kreuzten sich. Und Macbeth sah nichts mehr von der Bewunderung und der Freude, mit der ihm seine Männer beim SWAT-Team früher begegnet waren.

Ricardo senkte den Blick. »Ich weiß nicht, Sir.«

Macbeth schloss die Bürotür hinter sich und griff nach dem Hörer.

»Ja, Tourtell?«

»Ich habe nur gesagt, ich wäre der Bürgermeister, damit ich durchgestellt werde. Ich habe gelogen, so wie Sie gelogen haben. Sie haben mir versprochen, dass niemand sterben würde.«

Macbeth fand es bemerkenswert, wie die Angst die Arroganz übertrumpfte. Von Letzterer war keine Spur mehr in Walt Kites Stimme.

»Sie müssen mich missverstanden haben«, sagte Macbeth. »Ich meinte, niemand in Ihrer Familie wird sterben.«

»Sie …«

»Und dabei bleibt es auch. Wenn Sie weiterhin tun, was ich sage. Ich bin sehr beschäftigt, wenn es also weiter nichts gibt, Kite …«

Am anderen Ende hörte er nur noch ein elektrisches Knistern.

»Gut, dass wir das geklärt haben«, sagte Macbeth und legte auf. Schaute sich die Fotos an, die über dem Schreibtisch an die Wand geheftet worden waren. Sie zeigten die ganze SWAT-Truppe im Bricklayers Arms. Breites Grinsen auf den Gesichtern und erhobene Bierkrüge zur Feier einer weiteren erfolgreichen Mission. Da war Banquo. Ricardo. Angus und die anderen. Und Macbeth selbst. So jung. Solch ein dümmliches Lächeln. So unwissend. So wunderbar machtlos.


»Das wäre also der Plan«, sagte Malcolm. »Und abgesehen von Ihnen sind wir drei die Einzigen, die davon wissen. Was sagen Sie, Caithness? Sind Sie dabei?«

Sie saßen dicht beieinander in dem engen Hotelzimmer, und Caithness schaute von einem Gesicht zum anderen. »Und wenn ich sage, der Plan ist verrückt und ich will nichts damit zu tun haben? Lassen Sie mich dann fortspazieren, damit ich Macbeth davon erzählen kann?«

»Ja«, sagte Malcolm.

»Ist das nicht naiv?«

»Tja. Ich gehe davon aus, wenn Sie darüber nachgedacht hätten, zu Macbeth zu laufen, hätten Sie uns erst einmal gesagt, was wir für einen brillanten Plan entwickelt hätten und dass Sie auf jeden Fall dabei wären. Erst dann hätten Sie ausgepackt. Sie zu fragen, ist ein Risiko, das wir einkalkuliert haben. Aber wir weigern uns zu glauben, dass es da draußen keine guten Menschen gibt, Menschen, denen nicht alles egal ist, die das Wohl der Stadt vor ihr eigenes setzen.«

»Und Sie glauben, ich wäre einer davon?«

»Duff glaubt es«, sagte Malcolm. »Er drückt es in der Tat noch deutlicher aus. Er weiß, dass es so ist. Er sagt, Sie wären besser als er.«

Caithness schaute Duff an.

»Der Plan ist brillant, und ich bin dabei«, sagte sie.

Malcolm und Fleance lachten, und ja, selbst in Duffs traurigen, leblosen Augen sah sie kurz ein Lachen aufblitzen.

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