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Kirchenglocken läuteten in der Ferne. Der einäugige Junge stand im Wartesaal des Hauptbahnhofs und spähte hinaus ins Tageslicht. Ihm bot sich ein seltsamer Anblick. Vom Wartesaal aus hatte Bertha immer den Blick auf das Inverness versperrt, aber jetzt hatte sich die alte Dampflok in die Außenfassade des Casinos gebohrt. Selbst im gleißenden Sonnenlicht konnte er die rotierenden Blaulichter der Polizeiwagen und die blitzenden Fotoapparate der Reporter erkennen. Die Leute waren in Scharen zum Worker’s Square gekommen, und hin und wieder leuchtete auch hinter den Fenstern des Inverness ein Licht auf. Es musste das Team der Spurensicherung sein, das Fotos von den Toten machte.

Der Junge drehte sich um und marschierte den Gang hinunter. Als er sich der Treppe näherte, die zu den Toiletten hinunterführte, hörte er etwas. Ein leises, unaufhörliches Heulen, wie von einem Hund. Er hatte etwas Ähnliches schon einmal gehört, bei einem abgebrannten Junkie, der seinen Schuss nicht bekommen hatte. Er spähte über das Geländer und sah unten in der stinkenden Dunkelheit helle Kleidung schimmern. Er wollte gerade weitergehen, als er eine Art Schrei hörte: »Warte! Geh nicht! Ich habe Geld!«

»Tut mir leid, Opa. Ich habe keinen Stoff, und du hast auch kein Geld. Dir noch einen schönen Tag.«

»Aber ich habe dein Auge!« Der Junge blieb mitten in der Bewegung stehen. Kehrte zum Geländer zurück. Starrte nach unten. Diese Stimme. Konnte das wirklich sein …? Er schaute sich um. Hier war niemand sonst. Dann stieg er die Treppe hinab in die kalte feuchte Finsternis. Der Gestank wurde mit jedem Schritt schlimmer.

Der Mann lag auf der Schwelle zum Herrenklo. Trug, was einmal ein weißer Leinenanzug gewesen sein musste. Nun waren es nur noch blutgetränkte Fetzen. Wie der Mann selbst auch. Zerfetzte, blutbesudelte Überreste. Eine dreieckige Glasscherbe ragte unter dunklen Fransen aus seiner Stirn. Und da war der Stock mit dem Goldgriff. Scheiße, er war es tatsächlich! Der Mann, den er all die Jahre gesucht hatte. Hecate.

Das Auge des Jungen gewöhnte sich langsam an die Dunkelheit, und er sah die weit offene Wunde, den Riss, der über Brust und Bauch ging. Blut quoll heraus, aber nicht allzu viel, als würde er bereits austrocknen. Nach jedem neuen Blutschwall konnte er die schleimigen, blassrosa Eingeweide sehen.

»Beende mein Leiden«, keuchte der alte Mann heiser. »Dann nimm das Geld, das ich in meiner Tasche habe.«

Der Junge betrachtete ihn. Den Mann aus all seinen Träumen, seinen Fantasien. Vor Schmerz rannen dem Alten Tränen über die weichen Wangen. Wenn der Junge wollte, konnte er das kleine Klappmesser zücken, mit dem er sonst das Pulver klein hackte, das Messer mit der schmalen Klinge, die einst ein Auge herausgeschnitten hatte. Er konnte es in den alten Mann hineinstechen. Es wäre ausgleichende Gerechtigkeit.

»Hat Ihr Magen was abbekommen?«, fragte der Junge und griff dem Mann in die Tasche. »Ist da Magensäure in der Wunde?« Er untersuchte den Inhalt der Brieftasche.

»Beeil dich«, schluchzte der Mann.

»Macbeth ist tot«, sagte der Junge und zählte rasch die Scheine. »Glauben Sie, dass die Welt dadurch zu einem besseren Ort wird?«

»Was?«

»Glauben Sie, dass Macbeths Nachfolger besser, gerechter oder mitfühlender sein werden? Gäbe es dafür irgendeinen Grund?«

»Halt die Klappe, Junge, und bring es hinter dich. Nimm den Stock, wenn du willst.«

»Wenn der Tod das Kostbarste für Sie ist, Hecate, werde ich Ihnen den Tod nicht nehmen, so wie Sie mir mein Auge genommen haben. Wissen Sie, warum?«

Der alte Mann starrte ihn an, und nun sah der Junge, dass in den tränengefüllten Augen eine Erkenntnis dämmerte.

»Weil ich glaube, dass wir die Fähigkeit besitzen, uns zu ändern und bessere Menschen zu werden.« Der Junge steckte die Brieftasche in seine zerlumpte Hose. »Deshalb glaube ich auch, dass Macbeths Nachfolger ein wenig besser sein werden. Ganz kleine Schritte, aber ein bisschen besser. Ein bisschen menschlicher. Ist es nicht seltsam, dass wir das Wort menschlich benutzen, wenn wir etwas Gutes und Mitfühlendes meinen?« Der Junge zückte sein Messer, und die Klinge sprang hervor. »Wenn man bedenkt, was wir einander in der Weltgeschichte alles angetan haben, meine ich?«

»Hier«, stöhnte der alte Mann und deutete auf seine Kehle. »Schnell.«

»Wissen Sie noch, dass ich mir mein Auge selbst herausschneiden musste?«

»Was?«

Der Junge drückte dem Mann den Griff des Messers in die Hand. »Machen Sie’s selbst.«

»Aber du sagtest … menschlicher … ich kann es nicht … bitte!«

»Kleine Schritte, kleine Schritte«, sagte der Junge, erhob sich und klopfte sachte auf seine Hosentasche. »Wir werden besser, aber wir werden keine Heiligen über Nacht, wissen Sie.«

Das Heulen folgte dem Jungen durch den Bahnhof, den ganzen Weg, bis er in den strahlenden Sonnenschein hinaustrat.

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