38

Lennox stand zusammen mit Kasi vor dem Krankenhauseingang. Warf einen Blick auf den Kiosk, in dem Tourtell in der Schlange stand, um sich Zigaretten zu kaufen, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Parkplatz zu. In Tourtells Limousine ging ein Licht an. Die Entfernung betrug vermutlich hundert Meter. Etwa ebenso groß wie die Entfernung zum Dach des mehrstöckigen Parkhauses links von ihnen. Lennox fröstelte. Wenn es aufklarte, ging das oft mit einem seltenen Nordostwind einher und mit schneidender Kälte. Und wenn es jetzt noch etwas mehr auffrischte, würden bald gar keine Wolken mehr am Himmel sein. Bei hellem Mondschein hätte Olafson Tourtell vermutlich von überall erschießen können, aber solange es so dunkel war wie jetzt, sah der Plan vor, dass es auf dem Parkplatz passieren würde, unter einer der Laternen.

Er schaute noch einmal auf die Uhr. Die Kälte fraß sich in ihn hinein, und er musste husten. Er konnte die Sonne nicht ertragen, die Kälte aber auch nicht. Was hatte sich Gott nur dabei gedacht, jemanden wie ihn auf diese Erde zu schicken, ein einsames, leidendes Herz ohne Rüstung, eine Molluske ohne Panzer?

»Danke, dass Sie uns helfen.«

»Wie bitte?« Lennox wandte sich dem Jungen zu.

»Danke, dass Sie meinen Vater retten.«

Lennox starrte ihn an. Kasi trug dieselbe Art Jeansjacke, die auch sein eigener Sohn immer anhatte. Deshalb konnte Lennox sich auch nicht gegen den folgenden Gedanken wehren. Hier war ein Junge, nicht viel älter als sein eigener, der bald seine Mutter verlieren würde. Und seinen Vater. Er sagt, es ist in Ordnung, solange er noch einen von uns beiden hat.

»Dann fahren wir jetzt, ja?«, sagte Tourtell, als er heraustrat und an einer Zigarette paffte, die er soeben gekauft hatte.

»Ja«, erwiderte Lennox. Sie überquerten die Straße und betraten den Parkplatz. Lennox hielt sich an Tourtells linker Seite. Kasi ging wieder einige Schritte vor ihnen. Lennox musste lediglich stehen bleiben, wenn sie durch den Lichtkegel der ersten Laterne traten, sodass er außerhalb der Schusslinie war, der Rest lag dann in Olafsons Hand.

Lennox spürte eine merkwürdige Taubheit in seiner Zunge, in den Fingern und Zehen.


»Sie kommen«, sagte Seyton und senkte das Fernglas.

»Ich sehe sie«, lispelte Olafson. Er hatte ein Knie auf das Betondach des Parkhauses gestützt. Ein Auge war geschlossen, das andere weit offen hinter dem ausziehbaren Visier des Gewehrs, das auf der Brüstung vor ihnen ruhte. Seyton ließ seinen Blick über das Dach hinter ihnen wandern, um sicherzugehen, dass sie immer noch allein waren. Ihr Wagen war der einzige hier oben. Die Leute schienen samstagabends ihre Kranken nicht zu besuchen. Er konnte die Musik von den Straßen unter ihnen hören, das Parfum und das Testosteron riechen.

Unten auf dem Parkplatz ging der Junge vor Tourtell und Lennox her und war aus der Schusslinie heraus. Gut. Er hörte, wie Olafson tief einatmete. Die zwei Männer traten unter einer Laterne ins Licht.

Seyton spürte, wie sein Herz vor lauter Freude einen Satz machte.

Jetzt.

Aber es gab keinen Schuss.

Zwei Männer traten aus dem Lichtkegel und wurden wieder zu undeutlichen Umrissen in der Dunkelheit.

»Was ist passiert?«, fragte Seyton.

»Lennox war in der Schusslinie.«

»Ich nehme an, er wird aus dem Weg gehen, wenn sie zur nächsten Laterne kommen.«

Seyton hob wieder sein Fernglas.


»Haben Sie irgendeine Ahnung, wer es auf mich abgesehen haben könnte, Lennox?«

»Ja«, sagte Lennox. Es waren noch zwei Laternen übrig, bevor sie die Limousine erreichen würden.

»Wirklich?«, sagte Tourtell überrascht und wurde langsamer. Lennox achtete darauf, es ebenso zu tun.

»Schauen Sie nicht zu dem Parkhaus hinter uns, Tourtell, aber auf dem Dach befindet sich ein professioneller Scharfschütze, und in diesem Augenblick hat er uns im Visier. Genauer gesagt: mich. Deshalb gehen Sie bitte in genau derselben Geschwindigkeit wie ich. Wenn nicht, wird man Ihnen in den Kopf schießen.«

An Tourtells Blick konnte er erkennen, dass der Bürgermeister ihm glaubte. »Der Junge …«

»Er ist nicht in Gefahr. Gehen Sie weiter. Nicht langsamer werden.«

Lennox sah, dass Tourtell seinen Mund öffnete, als könne sein massiger Körper nur so genug Sauerstoff bekommen, während sich sein Herzschlag beschleunigte. Dann nickte der Bürgermeister und machte kurze, aber schnellere Schritte.

»Was spielen Sie für eine Rolle in alledem, Lennox?«

»Den Schurken«, sagte Lennox. Er sah, dass der Fahrer, der sie im Auge behalten haben musste, aus dem Wagen stieg, um die hintere Tür zu öffnen. »Ist er kugelsicher?«

»Ich bin Bürgermeister, nicht der Präsident. Warum tun Sie das, wenn Sie der Schurke sind?«

»Weil jemand diese Stadt vor Macbeth retten muss. Ich kann es nicht, also werden Sie es tun müssen, Tourtell.«


»Was hat Lennox vor, verdammte Scheiße?« Seyton riss sich das Fernglas von den Augen, um zu überprüfen, ob die Realität tatsächlich mit dem übereinstimmte, was er eben gesehen hatte. »Steht er absichtlich direkt vor Tourtell?«

»Keine Ahnung, Chef, aber das wird langsam heikel. Sie sind gleich beim Wagen.«

»Ihre Kugeln, würden die durch Lennox hindurchgehen?«

»Chef?«

»Würden sie durch Lennox hindurchgehen und Tourtell töten?«

»Ich benutze FMJ-Geschosse, Chef.«

»Ja oder nein?«

»Ja!«

»Dann erschießen Sie den Verräter.«

»Aber …«

»Schh«, zischte Seyton.

»Was?« Auf der Stirn des jungen Beamten war Schweiß ausgebrochen.

»Reden Sie nicht und denken Sie nicht, Olafson. Was Sie gerade gehört haben, war ein Befehl.«


Der Fahrer war um den Wagen herumgegangen, hatte die hintere Tür geöffnet und gelächelt. Ein Lächeln, das verschwand, als er Tourtells Gesichtsausdruck sah. Der Junge ging zur hinteren Tür auf der linken Seite.

»Steig ein und duck dich«, zischte Lennox. »Fahrer, verschwinden Sie hier! Sofort!«

»Sir, was …«

»Tun Sie, was er sagt«, entgegnete Tourtell. »Es …«

Lennox spürte den Schuss in seinem Rücken, bevor er das Zwusch hörte. Die Beine knickten unter ihm ein, er brach zusammen, schlang jedoch automatisch seine Hände um Tourtell und riss ihn mit sich zu Boden.

Lennox merkte, dass der Asphalt ihnen entgegenkam. Er spürte es nicht, als sie auf ihm auftrafen, aber er roch alles: Staub, Benzin, Gummi, Urin. Er konnte sich nicht bewegen und keinen Laut von sich geben, aber hören konnte er. Hörte Tourtells Keuchen unter sich auf dem Boden. Das schockierte »Sir, Sir?« des Fahrers.

Und wie Tourtell rief: »Lauf, Kasi, lauf!«

Sie hätten es beinahe geschafft. Noch einen Meter, und sie wären durch den Wagen geschützt gewesen. Lennox versuchte, etwas zu sagen, den Namen eines Tieres, aber immer noch kam nichts aus seinem Mund. Er versuchte vergeblich, seine Hand zu bewegen. Er war tot. Bald würde er aufsteigen und auf seinen eigenen Leichnam hinabblicken. Ein Meter. Er hörte das Geräusch von Laufschritten, die sich rasch entfernten, bemerkte, dass der Fahrer sich über sie beugte und versuchte, ihn von Tourtell herunterzuzerren. »Ich bringe Sie in den Wagen, Sir!« Noch ein Zwusch, und Lennox wurde von etwas Feuchtem in seinen Augen geblendet. Er blinzelte, zumindest seine Augenlider konnte er also noch bewegen. Der Fahrer lag neben ihnen und starrte leer vor sich hin. Seine Stirn war weg.

»Schildkröte«, flüsterte Lennox.

»Was?«, keuchte Tourtell unter ihm.

»Kriechen Sie. Ich bin Ihr Panzer.«


»Das hat den Fahrer erwischt«, sagte Olafson und schob eine weitere Patrone in die Kammer.

»Beeilen Sie sich, Tourtell kriecht hinter den Wagen«, sagte Seyton. »Und der Junge rennt weg.«

Olafson lud nach. Er drückte den Kolben gegen seine Schulter und schloss ein Auge.

»Ich hab den Jungen im Visier.«

»Der Junge ist mir scheißegal!«, fauchte Seyton. »Erschießen Sie Tourtell!«

Seyton sah zu, wie Olafsons Gewehrlauf hin und her schwang, sah, wie er eine Schweißperle von seinen Wimpern wegblinzelte.

»Ich kann ihn nicht erkennen, Boss.«

»Zu spät!« Seyton schlug mit der Hand auf die Brüstung. »Sie sind hinter dem Wagen. Wir müssen da runter und die Sache beenden.«


Lennox hörte Tourtell aufstöhnen, als er sich unter ihm befreite. Lennox rollte auf den feuchten Asphalt. Er lag auf dem Bauch, hilflos, und seine Beine ragten hinter dem Heck des Wagens hervor. Bis Tourtell seine Arme packte und ihn in Deckung zog.

Gummi kreischte auf der Fahrbahn. Ein Wagen fuhr auf sie zu. Lennox spähte unter der Limousine hindurch, konnte aber nur die Leiche des Fahrers auf der anderen Seite erkennen. Tourtell hatte sich mit dem Rücken zum Wagen hingehockt. Lennox versuchte, den Mund zu öffnen, um Tourtell zu sagen, dass er einsteigen und fliehen sollte, um sich zu retten, aber es hatte keinen Zweck. Es war die alte Geschichte. Als ließe sich sein ganzes Leben in einem Satz zusammenfassen: Er war unfähig zu tun, was sein Kopf und sein Herz wollten.

Ein Wagen hielt an, und Türen öffneten sich.

Schritte auf dem Asphalt.

Lennox versuchte, den Kopf zu bewegen, konnte es aber nicht. Aus dem Augenwinkel sah er den Lauf einer Waffe parallel zu einem Paar Hosenbeine.

Sie waren erledigt. Auf merkwürdige Weise fühlte es sich wie eine Erleichterung an.

Die Hosenbeine kamen einen Schritt näher. Eine Hand packte ihn am Hals. Er würde leise getötet werden, Strangulation. Lennox hielt seinen Blick auf die Schuhe gerichtet. Sie liefen sehr spitz zu. Waren schon eine ganze Weile außer Mode.

»Der hier ist tot«, sagte eine vertraute Stimme auf der anderen Seite des Wagens.

»Tourtell ist unverletzt«, sagte der Mann, der ihn im Würgegriff hielt. »Lennox bewegt sich nicht, aber er hat noch einen Puls. Von wo haben sie geschossen?«

»Vom Dach des Parkhauses«, schluchzte Tourtell. »Lennox hat mir das Leben gerettet.«

Gerettet?

»Kommen Sie hier rüber, Malcolm!«

Die Hand löste sich, und ein Gesicht tauchte vor Lennox auf.

Duff starrte ihm in die Augen.

»Ist er bei Bewusstsein?«, fragte eine Frau hinter ihm. Caithness.

»Gelähmt oder unter Schock«, sagte Duff. »Seine Augen bewegen sich, aber ansonsten kann er sich nicht rühren und auch nicht sprechen. Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.«

»Ein Wagen«, sagte eine Stimme. Ein junger Mann. »Kommt aus dem Parkhaus gefahren.«

»Sieht aus wie ein SWAT-Fahrzeug«, sagte Duff, erhob sich und legte die Schrotflinte an seine Schulter.

Einige Sekunden lang herrschte Stille. Das Geräusch des Motors wurde leiser.

»Lasst sie fahren«, sagte Malcolm.

»Kasi.« Tourtells Stimme.

»Was?«

»Sie müssen Kasi finden.«


Kasi rannte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und seine Füße wetzten schneller und schneller über den feuchten Asphalt. Bis sie so schnell rannten wie der Song, den er früher immer im Geiste gehört hatte, wenn er Angst gehabt hatte. Help. Er war gerade in den Wagen eingestiegen, als er den dumpfen Knall gehört und gesehen hatte, wie der bleichgesichtige Polizist von dem Schuss im Rücken getroffen worden war. Er war auf Dad gefallen, und Dad hatte ihm gesagt, er solle weglaufen.

Er schlug automatisch den Weg in die Gegend ein, in der er aufgewachsen war, in der Nähe des Flusses. Es gab da ein ausgebranntes Haus, in dem sie früher immer gespielt hatten. Das Rattenhaus hatten sie es genannt.

Das ausgebrannte Haus war weiß, doch um die Tür und die Fenster herum breiteten sich dicke Rußflecken aus, sodass es aussah wie eine abgewrackte, übertrieben geschminkte Nutte. Unten am Fluss schmiegten sich die kleinen Häuser eng aneinander, als versuchten sie sich gegenseitig zu schützen. Außer einem, das für sich allein stand, als würden die anderen es bewusst meiden. Es war ein Fachwerkgebäude, um das hoch das Gras gewachsen war. Kasi rannte die Stufen hinauf, durch die türlose Eingangshalle in die ehemalige Küche, die nur noch eine leere, nach Urin stinkende Hülle darstellte, mit jeder Menge an die Wand gekritzelten Namen und unanständigen Worten. Er ging weiter, die enge Treppe hinauf zu den Schlafzimmern. In einem lag eine schimmlige Matratze auf dem Boden. Auf ihr war er zum ersten Mal geküsst worden, zwischen leeren Schnapsflaschen und den steifen Kadavern der Flussratten, die auf dem Boden verstreut lagen. Eines Nachmittags – zehn oder elf war er gewesen – hatte er mit zwei Freunden darauf gesessen und seine ersten Zigaretten probiert. Sie hatten im Sonnenuntergang gehockt und, wenn sie gerade nicht krampfhaft husten mussten, zugeschaut, wie die Ratten über den aufgesprungenen, müllbedeckten Lehm des trockenen Flussbettes aufs Haus zugelaufen waren. Vielleicht kamen sie zum Sterben hierher.

Sollte er zurückgehen? Nein, Dad hatte gesagt, er sollte weglaufen. Und der andere Mann, Lennox, war von der Polizei. Da mussten auch noch weitere Polizisten gewesen sein, wenn sie von dem Anschlag auf den Bürgermeister gewusst hatten.

Er würde sich verstecken, bis alles vorbei war, und dann nach Hause gehen.

Kasi öffnete den großen Kleiderschrank in der Ecke. Er war leer, völlig ausgeschlachtet. Er kauerte sich hinein und schloss die Tür. Lehnte seinen Kopf zurück gegen die Holzwand. Summte leise den Song vor sich hin. Help! Dachte an den Film, in dem die Beatles wie die Wilden in der Gegend herumrannten und Spaß hatten, in komischer erhöhter Geschwindigkeit, in einer Welt, in der nichts wirklich Schreckliches passieren konnte. Hier konnte ihn niemand finden. Außer sie wussten, wo er war. Schließlich war er ja nicht der Bürgermeister, bloß ein Junge, der in seinem Leben noch nie etwas Schlimmes angestellt hatte, außer dass er heimlich ein paar Zigaretten geraucht, sich mit anderen eine halbe Flasche verdünnten Whiskey geteilt und ein paar Mädchen geküsst hatte, die mit anderen Jungs gingen.

Nach und nach wurde sein Herzschlag langsamer.

Er lauschte. Nichts. Aber er würde eine Weile warten müssen. Er war wieder zu Atem gekommen, konnte wieder durch die Nase atmen. Er wusste nicht, seit wie vielen Jahren hier schon keine Kleidungsstücke mehr hingen, konnte sie aber immer noch riechen. Die Geister unbekannter Leben. Gott allein wusste, wo sie jetzt waren. Mum hatte ihm erzählt, es sei ein unglückliches Haus, in dem früher Alkohol, Schläge und noch viel Schlimmeres an der Tagesordnung gewesen waren. Er sollte seinem Glücksstern danken, dass er einen Vater hatte, der ihn liebte und nie Hand an ihn gelegt hatte. Und Kasi hatte seinem Glücksstern gedankt. Niemand hatte gewusst, dass sein Vater der Bürgermeister war, und er hatte es auch niemandem verraten. Denen nicht, die ihn einen Bastard genannt hatten, und auch nicht den anderen Bastarden, die ihre Väter nie sahen oder nicht einmal wussten, wer sie waren. Sie taten ihm leid. Er hatte seinem Vater gesagt, dass er ihnen eines Tages helfen wollte. Ihnen und allen anderen, die Probleme hatten, seit die Estex-Fabrik dichtgemacht worden war. Dad hatte ihm darauf den Kopf getätschelt und gelacht, wie es auch andere Väter getan hätten. Er hatte ihm aufmerksam zugehört und gesagt, wenn Kasi wirklich etwas tun wollte, würde er ihm helfen, wenn die Zeit käme. Er hatte es versprochen. Und wer weiß – eines Tages würde Kasi womöglich selbst Bürgermeister werden. Es waren schon größere Wunder geschehen, hatte Dad gesagt und ihn Tourtell Junior genannt.

Help!

Aber so war die Welt nicht. Die Welt war nicht für gute Taten und lustige Popsänger in Filmen erschaffen worden. Man konnte niemandem helfen. Nicht seinem Vater, nicht seiner Mutter, nicht anderen Kindern. Nur sich selbst.


Olafson trat auf die Bremse, als der Bus vor ihnen hielt. Junge Leute, hauptsächlich Frauen, strömten auf den Gehsteig. Hatten sich herausgeputzt. Samstagabend. Das hätte auch er heute Abend gern getan: ein Bier getrunken und mit einem Mädchen getanzt. Getrunken und den Anblick des Fahrers weggetanzt. Neben ihm streckte Seyton eine Hand aus und stellte das Radio ab, sodass Lindisfarnes Meet Me on the Corner verstummte.

»Wo zur Hölle sind die hergekommen? Duff. Malcolm, Caithness. Und ich könnte schwören, dass der junge Typ Banquos Sohn war.«

»Zurück zum Hauptquartier?«, fragte Olafson. Es war immer noch nicht zu spät für einen anständigen Samstagabend.

»Noch nicht«, sagte Seyton. »Wir müssen den Jungen kriegen.«

»Tourtells Sohn?«

»Ich will nicht mit leeren Händen zu Macbeth zurückkommen, und der Junge kann nützlich sein. Biegen Sie hier links ab. Fahren Sie noch langsamer.«

Olafson steuerte den Wagen in die enge Straße hinein und warf einen kurzen Seitenblick auf Seyton, der das Fenster geöffnet hatte und tief einatmete. Seine Nasenlöcher öffneten und schlossen sich. Olafson wollte schon fragen, ob Seyton wittern konnte, wohin der Junge gerannt war, wagte es jedoch nicht. Wenn dieser Mann eine Schulter heilen konnte, indem er sie bloß berührte, war er vermutlich auch dazu in der Lage, sich von seiner Nase zum Versteck eines Flüchtigen führen zu lassen. Hatte er Angst vor seinem neuen Vorgesetzten? Vielleicht. Er hatte sich auf jeden Fall gefragt, ob ihm dessen Vorgänger nicht lieber gewesen war. Aber er hatte nicht gewusst, dass es so weit kommen würde. Er wusste bloß, dass der Chirurg im Krankenhaus auf ein Röntgenbild seiner Schulter gedeutet und ihm erklärt hatte, die Kugel habe das Gelenk zerstört. Er sei ein Invalide und müsse sich an den Gedanken gewöhnen, nie wieder als Scharfschütze beim SWAT-Team arbeiten zu können. In wenigen Augenblicken hatte der Arzt Olafson alles genommen, von dem er immer geträumt hatte. Danach war es einfach gewesen zuzustimmen, als Seyton gesagt hatte, er könne die Sache für Olafson regeln, wenn er bereit wäre für einen Deal. Er hatte sich nicht einmal wirklich etwas dabei gedacht, denn wer könnte so etwas schon an einem Tag in Ordnung bringen? Und was hatte er zu verlieren? Er hatte der SWAT-Bruderschaft ja längst bedingungslose Treue geschworen, was Seyton von ihm wollte, war also etwas, worüber er gewissermaßen längst verfügte.

Nein, es hatte keinen Sinn, jetzt etwas zu bereuen. Man musste sich ja nur anschauen, was mit seinem besten Kumpel passiert war, mit Angus. Er hatte die SWATs betrogen, der Idiot. Das Kostbarste, was sie hatten, alles, was sie hatten. Getauft in Feuer und vereint in Blut war nicht bloß eine leere Phrase. Genau so mussten sie sein, es gab keine Alternative. Er wollte das. Zu wissen, dass das, was er tat, eine Bedeutung hatte, dass er anderen etwas bedeutete. Seinen Kameraden. Selbst wenn er in dem, was sie taten, keine Bedeutung erkennen konnte. Das war der Job von anderen Leuten. Nicht für Angus, den verdammten Idioten. Er musste durchgedreht sein. Angus hatte versucht, ihn zu überreden, sich ihm anzuschließen, aber er hatte ihn zum Teufel gejagt. Er wollte nichts zu tun haben mit jemandem, der die SWATs verriet. Und Angus hatte ihn angestarrt und ihn gefragt, wodurch seine Schulter so schnell in Ordnung gekommen war – eine solche Schusswunde würde schließlich nicht in wenigen Tagen verheilen. Aber Olafson hatte nicht geantwortet. Er hatte ihm nur die Tür gewiesen.

Die Straße endete, sie erreichten das Flussbett.

»Es wird wärmer«, sagte Seyton. »Kommen Sie.«

Sie stiegen aus und gingen an den Bruchbuden zwischen Straße und Flussbett vorbei. Ließen ein Haus nach dem anderen hinter sich, während Seyton angestrengt schnupperte. Vor einem roten Gebäude blieb er stehen.

»Hier?«, fragte Olafson.

Seyton schnupperte in Richtung des Hauses. Dann sagte er laut: »Hure!« Und ging weiter. Sie kamen an einem ausgebrannten Haus vorbei, einer Garage mit schmiedeeisernem Tor und erreichten schließlich ein blaues Fachwerkhaus mit einer Katze auf den Eingangsstufen. Wieder blieb Seyton stehen.

»Hier«, sagte er.

»Hier?«


Kasi schaute auf seine Uhr. Sein Vater hatte sie ihm geschenkt, und der Zeiger leuchtete grün in der Dunkelheit. So stellte er sich die Augen von Wölfen im Schein eines nächtlichen Lagerfeuers vor. Mehr als zwanzig Minuten waren vergangen. Er war sich ziemlich sicher, dass ihm niemand gefolgt war, als er vom Parkplatz flüchtete; er hatte sich mehrere Male umgedreht und niemanden gesehen. Die Luft sollte nun rein sein. Er kannte diese Gegend in- und auswendig, deshalb war er auch auf direktem Weg hierhergelaufen. Er konnte zur Penny Bridge hinuntergehen und den 22er-Bus nehmen, nach Westen fahren. Zurück nach Hause. Dad würde dort sein. Er musste dort sein. Kasi erstarrte. Hatte er etwas gehört? Ein Knarren der Treppe? Das war das einzige Holz, das den Brand überstanden hatte, er wusste nicht warum, nur, dass die Treppe knarrte, wenn der Wind wehte oder das Wetter umschlug. Oder wenn jemand heraufkam. Er hielt den Atem an. Lauschte. Nein, wahrscheinlich änderte sich bloß das Wetter.

Kasi zählte langsam bis sechzig.

Dann stieß er mit dem Fuß die Tür auf.

Erstarrte.

»Du hast Angst«, sagte der Mann, der vor ihm stand und ihn anschaute. »Clevere Idee, sich in einem Kleiderschrank zu verstecken. Lässt den Geruch nicht durch. Beinahe jedenfalls.« Er streckte die Arme aus, mit den Handflächen nach oben. Atmete ein. »Aber die Luft hier ist wunderbar und erfüllt von deiner Angst, mein Junge.«

Kasi blinzelte. Der Mann war schlank, und seine Augen sahen aus wie die Zeiger auf Kasis Uhr. Wolfsaugen. Und er musste alt sein. Nicht, dass er besonders alt aussah, Kasi wusste einfach nur, dass dieser Mann sehr, sehr alt war.

»Hil…«, begann Kasi zu schreien, aber schon schoss die Hand des Mannes vor und packte ihn am Hals. Kasi konnte nicht atmen, und jetzt wusste er, warum es ihn hierher verschlagen hatte. Er war wie die Flussratten. Er war zum Sterben hergekommen.

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