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Ein Regentropfen fiel schimmernd vom Himmel, durch die Dunkelheit und hinab auf die flackernden Lichter des Hafens. Nordwestböen trieben ihn in östlicher Richtung über den langsam dahinfließenden Fluss, der die Stadt der Länge nach teilte, dann in südlicher Richtung über die viel befahrene Bahnstrecke, die die Stadt diagonal durchschnitt. Der Wind trug den Regentropfen über Distrikt 4 zum Obelisken und einem neuen Gebäude, dem Spring-Komplex, zwei Hotels, in denen vor allem Geschäftsleute aus Capitol abstiegen. Dann und wann kam auch mal ein Landei in den Obelisken spaziert und erkundigte sich, ob es hier nicht mal ein Casino gegeben habe. Die meisten hatten es vergessen, aber sie alle erinnerten sich an das andere Casino, das früher im Bahngebäude untergebracht gewesen war, in dem man erst vor Kurzem die Stadtbibliothek eröffnet hatte. Der Regentropfen trieb weiter über das Polizeihauptquartier, wo in Chief Commissioner Malcolms Büro noch Licht brannte, weil er ein Meeting über die Kosten der Umstrukturierung abhielt. Anfangs hatte es bei den Beschäftigten einige Frustration darüber gegeben, dass Bürgermeister Tourtell und der Stadtrat eine Verschlankung des Apparats eingefordert hatten – eine Folge der Tatsache, dass die Statistiken einen deutlichen Kriminalitätsrückgang verzeichneten. Belohnte man so die Polizei dafür, dass sie in den letzten drei Jahren gute Arbeit geleistet hatte? Aber sie begriffen, dass Malcolm recht hatte: Der Job der Polizei bestand darin, sich selbst so weit wie möglich überflüssig zu machen. Natürlich betraf dies vor allem das Rauschgiftdezernat und jene Abteilungen, die indirekt mit dem Zusammenbruch des Drogenmarktes verbunden waren, zum Beispiel die Mordkommission. In der Antikorruptionseinheit blieb die Zahl der Angestellten unverändert, während der neuen Einheit für Wirtschaftskriminalität als einziger eine Personalaufstockung gewährt wurde. Nötig geworden war dies durch den signifikanten Anstieg von Finanzmarktaktivitäten. Die Stadt zog immer mehr Geschäftszweige an, und es hatte sich die Überzeugung ausgebildet, dass Schreibtischtäter aus dem Finanzsektor es bisher zu leicht gehabt und die Polizei vor allem den reichen Bürgern gedient hatte. Duff hatte die Größe des Dezernats für Organisierte Kriminalität damit verteidigt, dass die Folgekosten weit teurer ausfallen würden, wenn Berufsverbrecher später umso leichter in der Stadt Fuß fassen konnten. Aber letztlich sah er ein, dass er, wie alle anderen auch, mit Einsparungen leben musste. Die Leiterin der Mordkommission, Caithness – die überzeugend argumentiert hatte, dass sie den Bürgern mit der derzeitigen Zahl an Beamten endlich eine befriedigende Aufklärungsrate bieten konnten –, war sogar zum Rücktritt gezwungen worden. Deshalb war Duff auch froh, dass endlich das Wochenende angebrochen war. Er und Caithness hatten ein Picknick in Fife geplant. Er freute sich darauf und fürchtete es zugleich. Das Haus war abgerissen worden, und das Grundstück hatte er dem Wildwuchs überlassen. Aber die Hütte war immer noch da. Er wollte, dass sie dort in der glühenden Sonne lagen und den Teer in den Holzbohlen rochen. Und lauschten, ob das Echo von Emilys und Ewans Lachen, ob ihre fröhlichen Rufe dort noch immer in der Luft lagen. Und dann wollte er allein hinausschwimmen zu dem glatten Felsen. Es hieß, es gäbe keine Wege zurück zu den Orten der Vergangenheit – und dem Menschen, der man einmal war. Er musste einfach herausfinden, ob das stimmte. Nicht, um zu vergessen. Sondern, um endlich nach vorn schauen zu können.

Der Regentropfen trieb weiter nach Osten, über die teuer aussehenden Einkaufsstraßen im Distrikt 2 West, bevor er weiter hinabfiel auf einen waldbewachsenen Berghang neben der Ringstraße, die an diesem Abend wie eine Goldkette am Hals der Stadt glitzerte. Dort, an der Spitze von Gallows Hill, fiel der Regentropfen zwischen den Bäumen hindurch, bis er platschend auf einem großen grünen Eichenblatt auftraf. Er rann bis zur Spitze des Blattes, blieb dort hängen, sammelte Erdanziehungskraft, bereit, die letzten Meter auf die beiden Männer hinabzufallen, die im Dunkeln unter dem Baum standen.

»Es hat sich verändert hier«, sagte eine tiefe Stimme.

»Sie waren lange weg, Sir«, erwiderte eine höhere.

»Weg. Ganz genau. So habe ich es auch empfunden. Und Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie Sie mich gefunden haben, Mr Bonus.«

»Oh, ich halte die Augen und Ohren offen. Ich höre zu und schaue mich um. Dafür habe ich wohl ein Talent. Mein einziges, fürchte ich.«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das wirklich glauben kann. Hören Sie – ich werde nicht darum herumreden –, ich mag Sie nicht, Mr Bonus. Sie erinnern mich ein bisschen zu sehr an die Geschöpfe, die sich im Wasser an größere Tiere hängen und sie aussaugen.«

»Die Schiffshalterfische, meinen Sie, Sir?«

»Ich dachte eher an Egel. Schauderhafte kleine Biester. Wenn auch ziemlich harmlos. Wenn Sie glauben, dass Sie mir helfen können, meine Stadt zurückzubekommen, dürfen Sie mich durchaus ein bisschen aussaugen. Aber passen Sie auf. Wenn Sie es übertreiben, schneide ich Sie ab. Jetzt schießen Sie los.«

»Es gibt keine Mitbewerber auf dem Markt. Viele Junkies sind nach Capitol gezogen, als der Stoff hier zur Neige ging. Der Stadtrat und der Chief Commissioner sind nicht mehr besonders wachsam. Verkleinern den Apparat. Das Timing ist perfekt. Das Reservoir an neuen, jungen Konsumenten ist unbegrenzt, und ich habe auch die Schwester gefunden, die überlebt hat, als Hecates Drogenfabrik in die Luft geflogen ist. Sie hat immer noch das Rezept. Die Kunden werden keine adäquaten Alternativen zu unserem Angebot finden.«

»Und wozu brauchen Sie mich?«

»Mir fehlen das Kapital und Ihre dynamischen Führungsqualitäten, Sir. Aber ich habe …«

»Augen und Ohren. Und einen Mund zum Blutsaugen« Der alte Mann warf eine halb aufgerauchte Davidoff Long Panatella zu Boden, während sich der Regentropfen über ihm in die Länge zog. »Ich werde darüber nachdenken. Nicht wegen dem, was Sie mir gesagt haben, Mr Bonus. Alle Städte sind potenziell gute Märkte, wenn man ein gutes Produkt hat.«

»Ich verstehe. Warum dann hier?«

»Weil diese Stadt mir meinen Bruder geraubt hat, mein Clubhaus – alles. Deshalb schulde ich ihr was.«

Der Regentropfen löste sich. Landete auf dem Horn eines Tieres. Rann an dessen glänzender Oberfläche hinab auf den Helm eines Bikers.

»Ich schulde ihr die Hölle auf Erden.«

Natur! Natur! Nichts so Natur als Shakespeares Menschen.

Johann Wolfgang von Goethe, »Zum Schäkespears Tag«



Von Herder und Goethe bis Dietrich Schwanitz und Matthias Lilienthal – Deutschland war und ist Shakespeareland. Seit Jahrhunderten werden bei uns und auf der ganzen Welt Shakespeares Werke aufgeführt, gelesen und geliebt. Jede Generation interpretiert und adaptiert sie neu, sei es auf der Bühne, als Film, Oper, Musical, Graphic Novel oder Roman. Sie sprechen unsere tiefsten und universellsten Emotionen an und sind heute noch genauso wirkungsmächtig wie zur Zeit ihrer Entstehung.


The Hogarth Press wurde 1917 von Virginia und Leonard Woolf gegründet, um hier die besten zeitgenössischen Werke zu versammeln. In dieser Tradition bietet das Hogarth Shakespeare Projekt international bekannten und erfolgreichen Autoren die Möglichkeit, ihre ganz persönliche Neuerzählung eines Werkes von William Shakespeare zu präsentieren. Die Romane werden in über zwanzig Ländern erscheinen. In Deutschland ist der Knaus Verlag Partner des Projekts, das hier zum 400. Todestag des Barden im April 2016 startete.


Margaret Atwood, Der Sturm

Tracy Chevalier, Othello

Gillian Flynn, Hamlet

Howard Jacobson, Der Kaufmann von Venedig

Jo Nesbø, Macbeth

Edward St Aubyn, König Lear

Anne Tyler, Der Widerspenstigen Zähmung

Jeanette Winterson, Das Wintermärchen

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