42

Die Sonne lag noch versteckt hinter den Bergen, hatte aber bereits rötliche Vorboten ihrer Ankunft geschickt. Inspector Lennox glaubte, noch nie einen schöneren Tagesanbruch in dieser Stadt gesehen zu haben. Oder vielleicht doch, und es war ihm nur nie aufgefallen. Es konnte auch sein, dass es das Morphium war und nicht die Sonne, das allem seine Farbe gab. Die Straßen waren nach einer belebten Samstagnacht gesäumt von zerschlagenen Bierflaschen und stinkenden Lachen aus Kotze und Zigarettenkippen. Aber niemand war unterwegs, nur ein kleiner Mann in schwarzer Marineuniform und weißer Mütze, der rasch an ihnen vorbeieilte. Alle anderen lagen, da sich das Schicksal der Stadt entscheiden sollte, zu Hause in ihren Betten und hatten sich die Decke über den Kopf gezogen. Trotz alledem hatte er die Stadt nie schöner gesehen.

Lennox schaute auf die Schottenmusterdecke hinab, die Priscilla über seine Knie gebreitet hatte. Sie näherten sich dem modernen Osteingang des Hauptbahnhofs. Ihm fiel auf, dass der Rollstuhl sich langsamer voranbewegte. Sie zögerte; er vermutete, dass sie in ihrem Leben bisher so gut wie nie am Bahnhof gewesen war.

»Sie müssen keine Angst haben, Priscilla. Die Leute wollen nur ihren Stoff verkaufen. Oder welchen besorgen.« An dem Schatten, den sie unter einer Straßenlaterne warf, erkannte er, dass sie sich aufgerichtet hatte. Jetzt wurden sie wieder schneller.

Wie vereinbart, hatte sie ihn abgeholt, solange draußen noch Dunkelheit herrschte, bevor die Flure voller Schwestern und Ärzte waren, die sie hätten aufhalten können. Und sie hatte verschiedene Dinge aus dem Büro mitgebracht, um die er sie gebeten hatte. Er hatte sie nicht mal überreden oder ihr irgendetwas erklären müssen; sie hatte sofort getan, was er wollte, auch wenn er offiziell nicht mehr ihr Chef war.

»Das ist in Ordnung«, hatte sie gesagt, »Sie werden für mich immer der Chef sein. Und Macbeth wird ja sowieso nicht weitermachen als Chief Commissioner.«

»Wieso?«

»Er ist nicht ganz richtig im Kopf, oder?«

Sie kamen an zigarettenrauchenden Dealern und auf Decken dösenden Junkies vorbei, die aufwachten und automatisch eine bittende Hand ausstreckten.

Aber Priscilla blieb erst stehen, als sie vor der Treppe zu den Toiletten angekommen waren.

Hier holten sie ihn für gewöhnlich ab. Er musste bloß herumstehen, bis sie auftauchten. Lennox hatte nie herausgefunden, wo genau sie ihn anschließend hinbrachten, denn nicht nur setzten sie ihm die blickdichte Brille auf, sie steckten ihm auch Stöpsel in die Ohren, sodass er keine Rückschlüsse aus den Hintergrundgeräuschen ziehen konnte.

Es war Teil der Abmachung. Wenn er einen echten Trip brauchte, einen, den er nicht zu Hause haben konnte oder abends im Büro, ohne das Risiko einzugehen, dass er erwischt wurde, brachten sie ihn in die Küche, wo sie ihr Brew kochten. Dort gab man ihm die reinste Droge, die sich herstellen ließ, injiziert von Spezialisten. Er wurde in einen Sessel gesetzt, fast wie man es in den alten Tagen der Opiumhöhlen getan hatte, und nachdem er seinen Rausch in sicherer Umgebung ausgeschlafen hatte, konnte er in die Stadt gehen und eine Weile wie ein neuer und besserer Mensch in ihr herumlaufen.

Auf eine Weise, wie er es nun nie wieder tun konnte.

Er hatte gespürt, wie hilflos er tatsächlich war, als Priscilla ihn von all den Schläuchen und Kabeln befreit und in den Rollstuhl verfrachtet hatte. Wie nutzlos er geworden war. Wie wenig man von ihm noch erwarten konnte.

»Gehen Sie«, sagte er jetzt.

»Was? Wir gehen wieder?«

»Sie gehen.«

»Ich soll Sie hier einfach zurücklassen?«

»Es wird kein Problem sein. Ich rufe Sie an. Gehen Sie jetzt.«

Sie rührte sich nicht.

»Das ist ein Befehl, Priscilla …« Er lächelte. »Von dem Mann, der immer Ihr Chef sein wird.«

Sie seufzte. Legte sanft eine Hand auf seine Schulter. Dann ging sie fort.

Es dauerte weniger als zehn Minuten, bis Strega mit verschränkten Armen vor ihm stand. »Wow!« Mehr sagte sie nicht.

»Ich weiß«, sagte Lennox. »Das ist eine gottlose Stunde.«

Sie lachte kurz. »Sie sind ja gut drauf, trotz des Rollstuhls. Was brauchen Sie?«

»Etwas, damit der Schmerz aufhört. Und eine Stunde in Ihrem Sessel.«

Sie reichte ihm die Ohrstöpsel und die Brille.

»Meine Beine sind nicht mehr, was sie mal waren. Sie werden mir also helfen müssen, dort hinzukommen.«

»Ein Fliegengewicht wie Sie?«, sagte sie.

»Ich brauche den Rollstuhl.«

»Den Ausflug mit dem Wagen werden wir heute ausfallen lassen müssen.«

Sie schob ihn. Die Schmerzen waren die ganze Zeit über gekommen und gegangen, aber als sie ihn einige Minuten später aus dem Rollstuhl hob und ihn auf etwas absetzte, dass sich wie grober Kies anfühlte, tat es so weh, dass er aufschrie. Er spürte Stregas muskulöse Arme um sich, roch ihren beinahe überwältigenden Duft. Nachdem sie es geschafft hatte, ihn wieder in den Stuhl zu setzen, schob sie ihn weiter. Bei jedem Meter prallte der Stuhl gegen einen Widerstand auf dem Kies. Eine Schwelle. Ein Geruch von Teer und verbranntem Metall lag in der Luft. Er wurde an Bahnschienen entlanggeschoben.

Verrückt, dass er es nie gemerkt hatte. Sonst waren sie immer im Auto gefahren, keine lange Strecke, aber eindeutig im Kreis, zurück zum Ausgangspunkt am Bahnhof. Natürlich hatte er gewusst, dass sie nicht im Freien gewesen waren, da er den Regen nie gespürt hatte, aber ihm war nicht klar gewesen, dass die Drogenküche in einem der ungenutzten Tunnel direkt vor ihrer Nase untergebracht war! Er stöhnte vor Hilflosigkeit, als Strega ihn hochhob und ihn auf einem kalten und feuchten Untergrund absetzte. Beton. Dann hievte sie ihn zurück in den Rollstuhl. Schob ihn. Die Luft wurde wärmer, trockener. Sie näherten sich jetzt der Küche. Die leicht wiederzuerkennenden Gerüche riefen etwas in seinem Gehirn wach, das sein Herz schneller schlagen ließ und ihm einen Vorgeschmack auf den Trip gab. Jemand nahm ihm die Brille und die Ohrstöpsel ab, und er bekam noch das Ende von Stregas Satz mit.

»… wischt die Blutspur hinter ihm weg.«

»Na gut«, sagte eine der Schwestern, die im Kessel rührte.

Strega wollte ihn gerade in den Sessel heben, aber Lennox winkte ab und krempelte seinen Ärmel hoch. Brew direkt aus dem Kessel. Besser ging es nicht. Der Himmel für jeden Junkie. Und genau dorthin wollte er. Wenn er dort hinkam. Abwarten.

»Ist das nicht Inspector Lennox von der Antikorruptionseinheit?«, fragte Jack. Er stand hinter dem nur von einer Seite durchsichtigen Fenster, schaute in die Küche hinein und auf den Mann im Rollstuhl.

»Ja«, entgegnete Hecate. Er trug einen weißen Leinenanzug samt Hut. »Es genügt nicht, nur Augen und Ohren im Inverness zu haben.«

»Haben Sie gehört, dass Lennox Macbeth öffentlich als Mörder bezeichnet hat? Weiß er nicht, dass Macbeth Ihr Instrument ist?«

»Niemand darf mehr wissen, als er wissen muss, nicht einmal Sie, Bonus. Aber zurück zu den derzeit wichtigen Dingen. Lady hat sich das Leben genommen, aber Macbeth kommt Ihnen eher paralysiert als aufgebracht vor?«

»So interpretiere ich es.«

»Hm. Und glauben Sie, dass Macbeth in seinem aktuellen Zustand dazu in der Lage ist, die Macht zu ergreifen, wenn Tourtell den Notstand ausruft? Dass er tun kann, was getan werden muss, um sich als Führer der Stadt durchzusetzen?«

»Ich weiß es nicht. Es scheint … ihm egal zu sein. Als wäre nichts mehr besonders wichtig für ihn. Entweder das, oder er hält sich schlicht für unverwundbar. Er glaubt, Sie würden ihn retten, ganz gleich, was passiert.«

»Hm.« Hecate klopfte zweimal mit seinem Stock auf den Boden. »Ohne Lady ist Macbeths Wert als Chief Commissioner erheblich gesunken.«

»Er wird nach wie vor gehorchen.«

»Vielleicht schafft er es, die Macht an sich zu reißen, aber ohne Lady wird er nicht in der Lage sein, sie zu halten. Sie war diejenige, die das Spiel verstanden hat, die immer noch den Wald vor lauter Bäumen sehen konnte, die wusste, welche Manöver nötig waren. Macbeth kann Messer werfen, aber jemand muss ihm sagen, warum und auf wen.«

»Ich könnte sein neuer Berater werden«, sagte Jack. »Ich gewinne bereits sein Vertrauen.«

Hecate lachte. »Ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob Sie nun eine schlammfressende Flunder sind oder doch ein gerissener Raubfisch, Bonus.«

»Aber ein Fisch bin ich wohl, nehme ich an.«

»Selbst wenn es Ihnen gelänge, seine beeinträchtigte Führungsstärke wieder anzukurbeln, bezweifle ich doch, dass Sie seinen Willen beeinflussen könnten. Ihm fehlt Ladys Verlangen nach Macht. Er scheint sich nach Dingen zu sehnen, von denen Sie und ich nie abhängig gewesen sind, lieber Bonus.«

»Brew?«

»Lady. Frauen. Vielleicht Freunde. Sie wissen schon, diese Liebe zwischen Menschen. Und nun, da Lady tot ist, wird er auch nicht mehr davon angetrieben, ihr Verlangen nach Macht zu befriedigen.«

»Lady brauchte auch Liebe«, sagte Jack leise.

»Die Sehnsucht danach, geliebt zu werden, und die Fähigkeit, zu lieben, machen den Menschen stark, doch sie sind auch ihre Achillesferse. Gibt man ihnen die Aussicht auf Liebe, können sie Berge versetzen, nimmt man sie ihnen, wirft sie der leiseste Windhauch um.«

»Vielleicht, vielleicht.«

»Wenn der Wind Macbeth umwirft, was halten Sie dann von dem da als Chief Commissioner?« Hecate nickte der Scheibe zu. Eine der Schwestern wischte Lennox’ linken Arm mit einem Alkoholtupfer ab und suchte nach einer Vene, während sie schon die Spritze bereithielt.

»Lennox?«, fragte Jack. »Ist das Ihr Ernst?«

Hecate schnalzte mit den Lippen. »Er ist der Mann, der Macbeth zu Fall gebracht hat. Der Held, der seine Beweglichkeit geopfert hat, um den Bürgermeister der Stadt zu retten. Und niemand hat eine Ahnung davon, dass Lennox für mich arbeitet.«

»Aber Malcolm ist zurück. Und jeder weiß, dass Lennox Macbeths Gehilfe gewesen ist.«

»Lennox hat Befehle befolgt, wie es jeder brave Polizist tun sollte. Außerdem könnten Malcolm und Duff ja wieder verschwinden. Roosevelt hat aus einem Rollstuhl heraus einen Weltkrieg gewonnen. Ja, ich könnte Lennox auf den Posten des Chief Commissioners hieven. Was meinen Sie?«

Jack betrachtete Lennox. Ohne zu antworten.

Hecate lachte und legte eine große, weiche Hand auf Jacks schmale Schulter. »Ich weiß, was Sie denken, Flunder. Was wird dann aus Ihnen? Wer soll Sie noch anstellen, wenn Macbeth nicht mehr da ist? Hoffen wir also, dass Macbeth im Sturm die Zügel in der Hand behält, was? Kommen Sie, ich führe Sie hinaus.«

Jack warf einen letzten Blick auf Lennox, dann drehte er sich um und ging mit Hecate zurück zur Toilettentür, die in den Bahnhof führte.


»Moment«, sagte Lennox, als die Schwester die Nadel an seinem Arm ansetzte. Er schob seine freie Hand in die Seitentasche des Rollstuhls. Zog die Schnur aus dem Griff.

»Jetzt«, sagte er.

Sie drückte die Nadel hinein und presste den Kolben hinunter, als er die Hand aus der Tasche nahm, seinen Arm neben dem Stuhl hin- und herschwang und losließ. Was Priscilla aus seinem Büro mitgebracht hatte, rumpelte über den Betonboden und verschwand unter dem Tisch neben dem Kessel, auf dem Flaschen, Röhren und Pipetten standen.

»Hey, was war das?«, fragte Strega.

»Laut meinem Großvater eine Granate, die ihm mal jemand an den Kopf geworfen hat«, sagte Lennox. Er spürte, wie er high wurde. Es würde nie wieder sein wie beim ersten Mal, aber noch immer erschauderte er vor Glück. Und dies war, nach all den Jahren der Suche, immer noch das, was dem Sinn des Lebens für ihn am nächsten kam. Es sei denn, dass es das war, was als Nächstes kam. Der Punkt hinter dem letzten Satz.

»Es könnte eine M24 Stielhandgranate sein. Oder ein Aschenbe…«

Weiter kam er nicht.


Jack war auf halbem Weg die Treppe hinauf, als die Explosion ihn von den Füßen fegte. Er rappelte sich auf und drehte sich zu den Toiletten um. Die Tür war aus den Angeln geflogen, und dicker Rauch drang heraus. Er wartete. Als keine weiteren Explosionen folgten, ging er langsam die Treppe hinunter und in die Toilette. Die Kabine mit der Tür zur Küche war weg. Im Inneren sah er wild ein Feuer lodern, und im Schein der Flammen erkannte er, dass alles zerstört war. Die Küche und die Menschen darin gab es nicht mehr. Fünf Sekunden zuvor hatte auch er noch …

»Bonus.«

Die Stimme war direkt vor ihm. Unter der stählernen Tür auf dem Boden kroch eine zertretene Küchenschabe in weißem Leinenanzug hervor. Das weiche Gesicht war mit Scheiße bedeckt, die Augen schwarz vor Schock.

»Helfen Sie mir …«

Bonus griff nach den Händen des alten Mannes und zog ihn über den Boden auf die Toilettentür zu. Dann drehte er Hecate auf den Rücken. Er war ein Wrack. Sein Bauch war aufgeschlitzt, und Blut strömte heraus. Der unsterbliche Hecate. Die Unsichtbare Hand. Höchstens Minuten oder Sekunden blieben ihm noch. So viel Blut … Jack wandte sich ab.

»Schnell, Jack. Holen Sie etwas …«

»Ich hole einen Arzt«, sagte Jack.

»Nein! Holen Sie etwas, um die Wunde zu verschließen, bevor ich kein Blut mehr habe.«

»Sie brauchen medizinische Hilfe. Ich beeile mich.«

»Lassen Sie mich nicht allein, Jack. Nicht …« Der Körper vor ihm krümmte sich zusammen und stieß ein Heulen aus.

»Was?«

»Magensäure! Sie läuft aus. Herrgott, ich verbrenne. Hilfe, Jack! Hil…« Der Schrei ging in ein weiteres heiseres Heulen über. Jack sah ihn an, unfähig, sich zu rühren. Er sah aus wie eine Küchenschabe, die auf dem Rücken liegt und deren Beine hilflos in der Luft strampeln.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte Jack.

»Nein, nein!«, schrie Hecate und versuchte, ihn am Bein zu packen.

Doch Jack wich aus, drehte sich um und rannte davon.

Oben auf dem Treppenabsatz blieb er stehen, schaute nach links, nach Westen, zum Inverness. Zu Macbeth. Zum St. Jordi’s. In dieser Richtung stand eine Telefonzelle im Wartesaal. Er wandte sich nach Osten. Dem Berg zu. Der anderen Seite. Neuen Gewässern, gefährlichen, offenen Gewässern. Aber solche Entscheidungen musste ein Mann – und ein saugender kleiner Schiffshalterfisch – eben manchmal treffen, um zu überleben.

Jack atmete ein. Nicht, weil er zögerte, sondern weil er Luft brauchte.

Dann ging er nach Osten.


Das Kristall über Macbeths Kopf begann zu murmeln und zu singen. Er schaute auf. Der Kronleuchter schwankte hin und her, riss an den Seilen, an denen er hing.

»Was war das?«, brüllte Seyton hinter dem Gatling-Gewehr in der südöstlichen Ecke des Inverness, oben auf der Empore.

»Das Ende der Welt«, sagte Macbeth. Und fügte leiser hinzu: »Hoffe ich.«

»Das kam vom Bahnhof«, schrie Olafson hinter dem Maschinengewehr in der südwestlichen Ecke. »War das eine Explosion?«

»Jawohl, Sir!«, stieß Seyton triumphierend aus. »Sie bringen die Artillerie in Stellung.«

»Meinen Sie?«, fragte Olafson schockiert.

Seytons Gelächter hallte von den Wänden wider. Als sie besprochen hatten, wie das Inverness verteidigt werden sollte, war ihnen klar gewesen, dass jedweder Angriff vom Worker’s Square aus erfolgen musste, da die zugemauerte, fensterlose Front zur Thrift Street nichts anderes als eine Festungsmauer darstellte.

»Ich kann Ihre Angst von hier aus riechen, Olafson. Können Sie sie da unten auch riechen, Chef?«

Macbeth gähnte. »Ich kann mich an den Geruch von Angst kaum noch erinnern, Seyton.« Er rieb sich fest das Gesicht. Er war eingenickt und hatte geträumt, neben Lady auf dem Bett zu liegen, als die Tür zur Suite leise geöffnet wurde. Die Gestalt im Türrahmen trug einen Umhang und einen Hut, der so tief heruntergezogen war, dass er erst, als sie eintrat und Licht auf sie fiel, erkennen konnte, dass es Banquo war. Ihm fehlte ein Auge, und Würmer wanden sich aus seiner Wange und seiner Stirn. Macbeth hatte in seine Jacke gegriffen, einen Dolch aus seinem Doppelholster gezogen und geworfen. Er bohrte sich mit einem dumpfen Schmatzen in Banquos Stirn, als wäre der Knochen dahinter bereits von den Würmern aufgezehrt worden. Aber das hielt den Geist nicht davon ab, weiter auf das Bett zuzukommen. Macbeth schrie und schüttelte Lady.

»Sie ist tot«, sagte der Geist. »Und du musst einen silbernen Dolch werfen, keinen aus Stahl.« Es war nicht Banquos Stimme. Es war …

Banquos Kopf fiel zu Boden und rollte unters Bett, aber unter dem Hut lachte ihm nun Seytons Gesicht entgegen.

»Was wollen Sie?«, flüsterte Macbeth.

»Was Sie wollen, Sir. Ihnen beiden ein Kind machen. Schauen Sie, sie wartet doch schon auf mich.«

»Sie sind verrückt.«

»Vertrauen Sie mir. Ich will nicht viel als Gegenleistung.«

»Sie ist tot. Gehen Sie weg.«

»Wir sind alle tot. Tun Sie’s jetzt, säen Sie Ihren Samen. Wenn nicht, säe ich meinen.«

»Verschwinden Sie!«

»Rücken Sie rüber, Macbeth. Ich nehme sie wie Duff Meredi…«

Der zweite Dolch traf Seyton in seinen offenen Mund. Er biss die Zähne zusammen, nahm den Griff, brach ihn ab und reichte ihn zurück an Macbeth. Zeigte ihm seine blutige, aufgeschlitzte Zunge und lachte.


»Irgendwas im Radio?«

Macbeth zuckte zusammen. Es war Seyton, der da brüllte.

»Nichts«, sagte Macbeth, rieb sich wieder das Gesicht und stellte das Radio lauter. »Immer noch zwanzig Minuten bis Sonnenaufgang.« Er betrachtete die weiße Linie fein gehackten Pulvers auf dem Spiegel, den er vor sich auf die Tischbespannung gelegt hatte. Sah die Spiegelung seines Gesichts. Die Droge verlief wie eine Narbe über die glänzende Oberfläche.

»Und töten wir den Jungen dann wirklich?«, rief Olafson.

»Ja, Olafson!«, brüllte Seyton zurück. »Weil wir Männer sind und keine Schwuchteln!«

»Aber … was dann? Dann haben wir nichts mehr zu verhandeln.«

»Kommt Ihnen das bekannt vor, Olafson?« Mehr Gelächter aus der südöstlichen Ecke.

»Wir haben nichts zu befürchten«, sagte Macbeth.

»Wie bitte, Sir?«

»Der Mensch, der mir etwas anhaben kann, ist noch nicht geboren worden. Hecate hat mir versprochen, dass ich Chief Commissioner bleibe, bis die alte Bertha kommt, um mich zu holen. Man kann viel sagen über Hecate, aber sein Wort hält er immer. Entspannen Sie sich. Tourtell wird nachgeben.« Macbeth schaute Kasi an, der ruhig mit dem Rücken zur Säule dasaß und in die Ferne starrte. »Was sehen Sie, Seyton?«

»Vor der alten Bertha haben sich Leute versammelt. Kollegen und Zivilisten, wie’s aussieht. Ein paar automatische Waffen, ein paar Gewehre und Handfeuerwaffen. Sollte kein großes Problem werden, wenn sie uns mit den Dingern angreifen wollen.«

»Sehen Sie irgendwelche grauen Mäntel?«

»Graue Mäntel? Nein.«

»Und von Ihrem Platz aus, Olafson?«

»Nein, hier auch nicht, Sir.«

Doch Macbeth wusste, dass sie da waren. Über ihn wachten.

»Haben Sie schon mal von Tithonos gehört, Seyton?«

»Nein. Wer soll das sein?«

»Ein Grieche. Lady hat mir von ihm erzählt. Ich hab es nachgeschlagen. Eos war die Göttin der Morgendämmerung, und sie raubte sich einen jungen Liebhaber, einen hübschen, ganz gewöhnlichen Burschen namens Tithonos. Dann sorgte sie dafür, dass Zeus, der große Boss persönlich, ihm ewiges Leben schenkte, genauso wie ihr. Der Junge hatte nicht darum gebeten, es wurde ihm einfach aufgezwungen. Aber die Göttin hatte vergessen, auch um ewige Jugend für ihn zu bitten. Verstehen Sie?«

»Vielleicht, aber ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Sir.«

»Alles vergeht, alle anderen sterben, aber Tithonos muss in seinem hohen Alter und seiner Einsamkeit vor sich hin vegetieren. Er hat nichts gewonnen, ganz im Gegenteil – er sitzt im Gefängnis, sein ewiges Leben ist ein verdammter Fluch.«

Macbeth stand derartig rasch auf, dass ihm schwindlig wurde. Trübsinn und der Kater nach dem Stoff, das war es, was aus ihm sprach. Ihm lag eine Stadt zu Füßen. Bald würde sie unwiderruflich ihm gehören, ihm allein, und er würde sich noch seinen geringsten Wunsch erfüllen können. Dann würde er nur noch über seine Begierden und Freuden nachdenken müssen. Begierden und Freuden.


Duff fuhr mit einem Finger über den Riss im Sockel vor Berthas Nase. Hörte Malcolms Stimme: »Entschuldigung, lassen Sie mich durch!«

Er schaute auf und sah, wie sich Malcolm den Weg durch die Menge bis zur obersten Stufe hinaufbahnte.

»Haben Sie das auch gehört?«, fragte er atemlos.

»Ja«, sagte Caithness. »Ich dachte, das Dach stürzt ein. Fühlte sich an wie eine unterirdische Testexplosion.«

»Oder ein Erdbeben«, sagte Duff und zeigte auf den Riss.

»Sieht so aus, als wären mehr Leute gekommen, als ich erwartet hatte«, sagte Malcolm und ließ seinen Blick über die Menschenmenge gleiten, die sich am Fuß der Treppe hinter einer Barrikade aus Polizeiwagen und einem großen roten Feuerwehrwagen versammelt hatte. »Sind die alle von der Polizei und der Feuerwehr?«

»Nein«, sagte ein Mann, der gerade die Stufen heraufkam. Malcolm betrachtete seine schwarze Uniform.

»Schiffskapitän?«

»Lotse«, sagte der kleine Mann. »Fred Ziegler.«

»Was will denn ein Lotse hier?«

»Ich habe Kite im Radio gehört, herumtelefoniert und Gerüchte aufgeschnappt, was hier heute stattfinden soll. Sagen Sie mir, was ich tun kann.«

»Haben Sie eine Waffe?«

»Nein.«

»Können Sie schießen?«

»War zehn Jahre bei den Marines.«

»Gut. Gehen Sie zu dem Mann in der Polizeiuniform da unten, der gibt Ihnen ein Gewehr.«

»Vielen Dank.« Der Lotse legte drei Finger an seine Mütze und machte sich davon.

»Was sagt Tourtell?«, fragte Duff.

»Capitol ist über die Geiselnahme informiert«, sagte Malcolm. »Aber sie können uns erst helfen, wenn heute Nachmittag der Haftbefehl ausgestellt ist.«

»Herrgott, hier stehen doch Menschenleben auf dem Spiel.«

»Ein Menschenleben. Das genügt nicht für ein Eingreifen auf Bundesebene, es sei denn, dass unser Chief Commissioner es einfordert.«

»Verdammte Politik! Und wo steckt Tourtell jetzt?« Duff starrte Richtung Osten. Am Rand des Berges wurde der blassblaue Himmel immer röter.

»Er ist in den Sender gefahren«, sagte Caithness.

»Er wird den Notstand ausrufen«, sagte Malcolm. »Wir müssen Macbeth jetzt angreifen, solange wir noch unter dem Befehl des Bürgermeisters handeln dürfen. Sobald der Notstand erklärt wurde, werden wir gesetzlose Revolutionäre sein, und keiner dieser Leute wird mehr auf unserer Seite stehen.« Er nickte der Menge zu.

»Macbeth hat sich verbarrikadiert«, sagte Caithness. »Das wird Menschenleben kosten.«

»Ja.« Malcolm legte das Megafon an seinen Mund. »Meine guten Männer und Frauen! Nehmen Sie Ihre Positionen ein!«

Die Menge eilte auf die Barrikade am Fuß der Treppe zu. Sie legten ihre Waffen auf Autodächern ab, gingen hinter dem gepanzerten SWAT-Fahrzeug und dem Feuerwehrwagen in Deckung und zielten auf das Inverness.

Malcolm hielt das Megafon in dieselbe Richtung. »Macbeth! Hier spricht Deputy Chief Commissioner Malcolm. Sie wissen und wir wissen, dass Ihre Lage hoffnungslos ist. Sie können das Unvermeidliche höchstens hinauszögern. Also lassen Sie die Geisel frei und ergeben Sie sich. Ich gebe Ihnen eine, ich wiederhole, eine Minute.«


»Was hat er gesagt?«, brüllte Seyton.

»Er gibt mir eine Minute«, sagte Macbeth. »Können Sie ihn sehen?«

»Ja, er steht auf der obersten Stufe.«

»Olafson, nehmen Sie Ihr Gewehr und bringen Sie Malcolm zum Schweigen.«

»Sie meinen …«

»Ja, genau das meine ich.«

»Heil dir, Macbeth!« Seyton lachte.


Duff schaute abwechselnd zum Berg, auf seine Uhr und zu den Männern um ihn herum. Seine Ellbogen und Schultern zuckten vor Nervosität. Auch seine Knie und Waden hatten zu zittern begonnen. Abgesehen von den sechs SWAT-Freiwilligen und einigen anderen Polizisten bestand die Menge aus Leuten mit ganz gewöhnlichen Jobs in Buchhalterbüros und Feuerwehrstationen, die noch nie, nicht mal im Affekt, einen Schuss abgefeuert hatten. Und auf die auch noch nie geschossen worden war. Dennoch waren sie hierhergekommen. Sie waren trotz ihrer Unerfahrenheit bereit, alles zu opfern. Er zählte die letzten drei Sekunden herunter.

Nichts passierte.

Duff tauschte einen Blick mit Malcolm und zuckte mit den Schultern.

Malcolm seufzte und hob das Megafon an die Lippen.

Duff hörte den Knall kaum.

Malcolm taumelte zurück, und das Megafon fiel klappernd zu Boden.

Duff und Fleance reagierten unverzüglich, warfen sich über Malcolm und deckten ihn, als er zu Boden ging. Duff tastete nach Blut, fühlte seinen Puls.

»Alles okay«, stöhnte Malcolm. »Mir geht’s gut. Steht auf. Er hat das Megafon getroffen, weiter nichts.«


»Als Sie sagten, zum Schweigen bringen, dachte ich, Sie meinten, für immer«, brüllte Seyton. »Jetzt halten sie uns für schwach, Sir.«

»Falsch«, sagte Macbeth. »Jetzt wissen sie, dass wir es ernst meinen, aber noch bei Verstand sind. Hätten wir Malcolm getötet, hätten wir ihnen einen Grund geliefert, uns in rechtschaffener Wut anzugreifen. Jetzt werden sie weiter zögern.«

»Ich glaube, sie werden sowieso angreifen«, sagte Olafson. »Schauen Sie nur, da ist unser Panzerwagen. Er kommt auf uns zu.«

»Nun, das ist was anderes. Ein Chief Commissioner hat das Recht, sich zu verteidigen. Seyton?«

»Ja?«

»Lassen Sie die Gatling-Schönheiten sprechen.«


Duff spähte hinter der alten Bertha hervor und folgte mit seinem Blick dem klobigen Panzerwagen – bekannt als Sonderwagen –, der über den Platz hinweg aufs Inverness zufuhr. Dicker, schwerer Dieselrauch drang aus dem Auspuff des Fahrzeugs. Deutsche Ingenieurskunst, Stahlplatten und kugelsichere Scheiben. Ricardos Plan folgte einer ungewöhnlichen Taktik. Die sechs SWAT-Freiwilligen würden im Sonderwagen zum Eingang des Inverness fahren, aussteigen, Tränengasgeschosse durch die Fenster feuern, die Türen aufbrechen und mit Gasmasken vor dem Gesicht das Gebäude stürmen. Kritisch war der Augenblick, in dem sie den Panzerwagen verlassen mussten, um das Tränengas abzufeuern. Es würde nur Sekunden dauern, aber in diesen Sekunden brauchten sie Feuerschutz von den anderen.

Malcolms Funkgerät knackte, und sie hörten Ricardos Stimme.

»Feuerschutz in drei … zwei … eins …«

»Feuer!«, brüllte Malcolm.

Es klang wie ein Trommelwirbel, als die Waffen von der Barrikade aus zu schießen begannen. Allerdings von einer viel zu kleinen Trommel, dachte Duff. Und es wurde sofort übertönt von einem Heulen, das von der gegnerischen Seite herüberdrang.

»Scheiße«, flüsterte Caithness.

Zuerst ähnelte es einem Regenschauer, der den Staub vor dem Sonderwagen aufzuwirbeln schien. Dann traf es keckernd den Kühlergrill des Wagens, seine Panzerung, die Windschutzscheibe und das Dach. Das Fahrzeug schien in die Knie zu gehen und abzusinken.

»Die Reifen«, sagte Fleance.

Der Wagen bewegte sich weiter vorwärts, aber jetzt langsamer, als würde er in einen Hurrikan hineinfahren.

»Es ist in Ordnung. Der Wagen ist gepanzert«, sagte Malcolm.

Immer langsamer kam das Fahrzeug voran. Und blieb schließlich stehen. Die Seitenspiegel und die Stoßstange fielen ab.

»Es war ein gepanzerter Wagen«, sagte Duff.

»Ricardo?«, rief Malcolm in sein Funkgerät. »Ricardo? Rückzug!«

Keine Antwort.

Nun schien der Wagen zu tanzen.

Dann hörte das Sperrfeuer auf. Stille fiel über den Platz, unterbrochen nur von den traurigen Schreien einer Möwe, die über sie hinwegflog. Rauch stieg wie roter Dunst von dem Panzerwagen auf.

»Ricardo! Ziehen Sie sich zurück, Ricardo!«

Immer noch keine Antwort. Duff starrte das Fahrzeug an, das nur noch ein Wrack war. Es gab keinerlei Lebenszeichen. Und jetzt wusste er, wie es damals abgelaufen sein musste. An jenem Nachmittag in Fife.

»Ricardo!«

»Sie sind tot«, sagte Duff. »Sie sind alle tot.«

Malcolm warf ihm einen langen Blick zu.

Duff fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Wie geht es weiter laut Plan?«

»Ich weiß es nicht, Duff. Das war unser Plan.«

»Der Feuerwehrwagen«, sagte Fleance.

Die anderen schauten den jungen Mann an.

Er schien unter all ihren Blicken zu schrumpfen und einen Augenblick lang ins Wanken zu geraten. Aber er straffte sich und sagte mit einem leichten Zittern in der Stimme: »Wir müssen den Feuerwehrwagen nehmen.«

»Der ist nicht stabil genug«, wandte Malcolm ein.

»Nein, aber wir können mit ihm hintenherum zur Thrift Street fahren.« Fleance musste schlucken, bevor er fortfuhr. »Sie haben doch gesehen, dass sie den Panzerwagen mit beiden Maschinengewehren beschossen haben, und das bedeutet, dass sie die Gebäuderückseite nicht abdecken.«

»Weil sie wissen, dass wir von da aus nicht reinkommen«, sagte Duff. »Da gibt es keine Türen und Fenster, nur die Ziegelmauer. Man bräuchte schon einen Pressluftbohrer oder schwere Artillerie, um da hindurchzukommen.«

»Nicht hindurch«, sagte Fleance. Seine Stimme klang jetzt fester.

»Herum?«, fragte Duff.

Fleance zeigte zum Himmel.

»Natürlich!«, sagte Caithness. »Der Feuerwehrwagen.«

»Spucken Sie’s aus. Was hab ich hier nicht mitbekommen?«, knurrte Malcolm und warf einen kurzen Blick zum Berg hinüber.

»Die Leiter«, sagte Duff. »Das Dach.«


»Sie fahren den Feuerwehrwagen weg«, brüllte Seyton.

»Warum?« Macbeth gähnte. Der Junge saß im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Still und ruhig, als hätte er sich mit seinem Schicksal abgefunden und wartete nur noch auf das Ende. Wie Macbeth.

»Ich weiß nicht.«

»Was ist mit Ihnen, Olafson?«

»Ich weiß auch nicht, Sir.«

»Na schön«, rief Macbeth. Er hatte mit seinem Silberdolch ein Streichholz spitz zugeschnitzt. Er steckte es sich zwischen seine Vorderzähne. Ließ den Dolch auf dem Roulettetisch liegen. Nahm zwei Jetons, in jede Hand einen, und ließ sie zwischen den Fingern hin und her wandern. Das hatte er damals im Zirkus gelernt. Nicht leicht, die linke und die rechte Hand unabhängig voneinander zu bewegen. Er sog an dem Streichholz, ließ die Jetons wandern und versuchte, sich darüber klar zu werden, was er empfand. Nichts. Woran er dachte. Er dachte nicht an Banquo und auch nicht an Lady. Nur daran, dass er nichts empfand. Und ein einzelnes Wort ging in seinem Kopf herum: Warum? Warum …?

Er ließ es eine Weile nachhallen.

Dann schloss er die Augen und begann, von zehn herunterzuzählen.


»Das ist nicht wie bei einer Leiter, die man an ein Haus anlegt. Sie wird immer stärker hin und her schwanken, je höher wir kommen«, sagte der Mann in der Lotsenuniform zu Fleance und den zwei anderen Freiwilligen. »Macht also immer eine Bewegung nach der anderen, erst die Hand, dann den Fuß. Kein Grund, Angst zu haben.«

Der Lotse gähnte laut und lächelte kurz, bevor er die Leiter umklammerte und sie hochzuklettern begann.

Fleance sah dem kleinen Mann nach und wünschte, er wäre ebenso furchtlos. Die Thrift Street war leer, abgesehen von dem Feuerwehrwagen mit seiner Fünfzehn-Meter-Leiter, die vor der fensterlosen Hauswand aufragte.

Fleance folgte dem Lotsen, und seltsamerweise wurde seine Angst mit jedem Schritt kleiner. Das Schlimmste war schließlich schon vorbei. Er hatte gesprochen. Und sie hatten ihm zugehört, genickt und behauptet, sie hätten verstanden. Dann waren sie in den Feuerwehrwagen gestiegen, vom Bahnhof in östlicher Richtung losgefahren, in einem weiten Bogen durch die sonntagsstillen Straßen, und unbemerkt auf der Rückseite des Inverness angekommen.

Fleance schaut hinauf und sah, dass ihnen der Hafenlotse vom Dach aus signalisierte, dass der Weg frei war.

Sie waren den Grundriss des Inverness in der Nacht so sorgfältig durchgegangen, dass Fleance sich sofort zurechtfand. Auf dem Flachdach gab es eine Tür, und dahinter führte eine schmale Stiege in einen Heizungsraum, durch dessen Tür man wiederum in den obersten Stock des Hotels gelangte. Dort würden sie sich aufteilen. Zwei Männer sollten die Treppe auf der nördlichen Gebäudeseite nehmen, zwei die auf der südlichen. Beide führten hinunter auf die Empore. In einigen Minuten würden die anderen vom Bahnhof aus das Feuer eröffnen, damit die Aufmerksamkeit der Schützen an den Maschinengewehren auf den Worker’s Square gerichtet halten und alle Geräusche übertönen, die Fleance und die drei anderen womöglich verursachten. Von hinten würden sie sich anschleichen und die Schützen ausschalten. Die drei Freiwilligen hatten ihre Uhren mit der von Fleance synchronisiert, ohne auch nur ein Wort des Protestes darüber zu äußern, dass ein Polizeikadett sie anführte. Dieser Kadett schien ziemlich gut Bescheid zu wissen über derartige Operationen. Was hatte sein Dad damals gesagt? Und wenn du Dinge besser einschätzen kannst als andere, dann solltest du auch vorangehen, das ist deine verdammte Pflicht der Gesellschaft gegenüber.

Fleance hörte, wie sie am Bahnhof das Feuer eröffneten.

»Folgt mir.«

Sie näherten sich der Tür auf dem Dach, zogen daran. Abgeschlossen. Wie erwartet. Er nickte einem der Männer zu, einem Kollegen von der Verkehrspolizei, der eine Brechstange in den Spalt zwischen Tür und Rahmen rammte und fest drückte. Schon beim ersten Versuch brach das Schloss heraus.

Im Inneren war es dunkel, aber Fleance spürte, wie die Hitze aus dem Heizungsraum zu ihm hinaufdrang. Der dritte Polizist, ein weißhaariger Typ vom Betrugsdezernat, wollte als Erster hinunter, doch Fleance hielt ihn zurück. »Folgt mir«, flüsterte er und trat über die hohe Metallschwelle. Vergeblich versuchte er, im Dunkeln Umrisse zu erkennen, und musste seine Maschinenpistole senken, um nach dem Geländer zu greifen. Die Metallstiege knarrte laut, als er den ersten zögerlichen Schritt machte und dann die nächste Stufe fand. Er erstarrte, geblendet von einem plötzlich aufflammenden Licht. Eine Taschenlampe war unter ihm angeschaltet worden und leuchtete ihm direkt ins Gesicht.

»Peng«, sagte eine Stimme hinter der Lampe. »Du bist tot.«

Fleance wusste, dass er in der Schusslinie der drei Männer hinter ihm stand. Und ihm war klar, dass ihm keine Zeit bleiben würde, seine Maschinenpistole abzufeuern. Denn er wusste, wem die Stimme gehörte.

»Woher hast du gewusst …?«

»Ich habe mich gefragt: Warum solltet ihr mit einem Feuerwehrwagen wegfahren, wenn nirgends ein Feueralarm zu hören ist?« Die Stimme im Dunkeln ließ ein leises Kichern hören. »Wie ich sehe, trägst du immer noch meine Schuhe.« Onkel Mac klang betrunken. »Hör zu, Fleance, du kannst heute Leben retten. Dein eigenes und das deiner drei Mitmeuterer. Macht wieder kehrt und zieht euch hinter eure Barrikaden zurück. Von da aus habt ihr eine bessere Chance, mich zu kriegen.«

Fleance fuhr mit seiner Zunge im Mund herum, aber der war völlig trocken. »Du hast Dad umgebracht.«

»Vielleicht«, lallte die Stimme. »Vielleicht waren es aber auch nur die Umstände. Oder Banquos Ambitionen für seine Familie. Aber wahrscheinlich …« In der Pause war ein tiefes Seufzen zu hören. »… war ich es. Geh jetzt, Fleance.«

Durch Fleances Kopf rauschten all die spielerischen Ringkämpfe, die er sich zu Hause auf dem Wohnzimmerfußboden mit Onkel Mac geliefert hatte. Er hatte Fleance immer wieder die Oberhand gewinnen lassen, nur um ihn in letzter Minute doch noch auf den Rücken zu werfen und ihn auf den Boden zu drücken. Nicht, weil er stärker gewesen wäre, aber seine Geschwindigkeit und Präzision waren eindeutig überlegen. Aber wie betrunken war Onkel Mac jetzt? Und wie viel besser war Fleances Koordinationsfähigkeit? Vielleicht hatte er ja doch eine Chance? Wenn er schnell war, konnte er vielleicht doch noch einen Schuss abfeuern. Kasi retten. Die Stadt retten. Rache üben an …

»Tu’s nicht, Fleance.«

Aber es war zu spät. Fleance hatte bereits seine Maschinenpistole gehoben. Eine kurze Salve hallte durch den engen Heizungsraum und dröhnte den fünf Männern in den Ohren.

Fleance schrie auf.

Dann fiel er von der Stiege.

Er spürte nicht, wie er auf dem Boden auftraf, spürte gar nichts, bis er die Augen wieder aufschlug. Und dann sah er nichts, auch wenn eine Hand ihn an der Wange berührte und eine Stimme dicht an seinem Ohr etwas sagte.

»Ich hab dir gesagt, du sollst es nicht tun.«

»W… wo sind sie?«

»Sie sind gegangen, wie ich es befohlen habe.«

»Aber …« Er wusste, dass er getroffen worden war. Er hustete, und sein Mund füllte sich.

»Schlaf. Grüß deinen Dad, wenn du bei ihm ankommst, und sag ihm, ich bin schon auf dem Weg zu euch.«

Fleance öffnete den Mund, aber nur Blut kam heraus. Er spürte Macbeths Finger auf seinen Lidern, spürte, wie er sie zärtlich schloss. Fleance holte Luft, als wollte er tauchen. Wie er es getan hatte, als er von der Brücke in den Fluss gestürzt war, in das schwarze Wasser, in sein Grab.


»Nein«, sagte Duff, als er sah, wie der Feuerwehrwagen auf sie zukam. »Nein!«

Er und Malcolm rannten dem Fahrzeug entgegen, und als es stehen blieb, rissen sie auf beiden Seiten die Türen auf. Der Fahrer, zwei Polizisten und der Hafenlotse taumelten heraus.

»Macbeth hat schon auf uns gewartet«, stöhnte der Lotse noch immer außer Atem. »Er hat Fleance erschossen.«

»Nein, nein, nein.« Duff lehnte sich zurück und kniff die Augen zusammen.

Jemand legte ihm eine Hand in den Nacken. Ein vertrautes Gefühl. Caithness’ Hand.

Zwei Männer in schwarzen SWAT-Uniformen kamen herübergerannt und blieben vor Malcolm stehen. »Hansen und Edmunton, Sir. Wir haben von der Sache hier gehört und sind, so schnell wir konnten, hergekommen. Es sind noch mehr Kollegen unterwegs.«

»Danke, Leute, aber wir sind am Ende.« Malcolm deutete zum Himmel. Sie konnten die Sonne noch nicht sehen, aber die Silhouette des auf dem Kopf stehenden Kreuzes hatte bereits ihre ersten Strahlen eingefangen. »Jetzt liegt es in Tourtells Hand.«

»Lasst uns Geiseln austauschen«, sagte Duff. »Macbeth kann bekommen, wen er will, Malcolm. Uns zwei. Im Tausch gegen Kasi.«

»Glauben Sie, ich hätte nicht schon darüber nachgedacht?«, fragte Malcolm. »Macbeth wird niemals den Sohn des Bürgermeisters gegen so wertlose Leute wie Sie und mich austauschen. Wenn Tourtell den Notstand ausruft, wird Kasi mit dem Leben davonkommen. Sie und mich lässt er aber in jedem Fall umbringen. Und wer soll dann den Kampf gegen Macbeth anführen?«

»Caithness«, sagte Duff, »und all die anderen Menschen dieser Stadt, an die Sie doch angeblich so sehr glauben. Haben Sie Angst oder …?«

»Malcolm hat recht«, sagte Caithness. »Du bist für diese Stadt mehr wert, wenn du lebst.«

»Verdammt!« Duff riss sich los und ging auf den Feuerwehrwagen zu.

»Wo willst du hin?«, rief Caithness.

»Der Sockel.«

»Was?«

»Wir müssen den Sockel einschlagen. Hey, Chief!«

Der Mann, der den Feuerwehrwagen gefahren hatte, erhob sich. »Ähm, ich bin nicht …«

»Haben Sie zufällig Äxte und Vorschlaghämmer in Ihrem Wagen?«

»Selbstverständlich.«


»Schaut!«, brüllte Seyton. »Die Sonne kommt hinterm Obelisken hervor. Der Junge muss sterben!«

»Wir müssen alle sterben«, sagte Macbeth sanft und legte einen der Jetons unter das Herzsymbol auf Rot, den anderen auf Schwarz. Beugte sich nach links und nahm die Kugel aus dem Roulettekessel.

»Was ist da oben auf dem Dach eigentlich passiert?«, rief Seyton.

»Banquos Junge«, rief Macbeth zurück und drehte das Rad. Mit Schwung. »Ich habe mich darum gekümmert.«

»Ist er tot?«

»Ich habe mich darum gekümmert, habe ich gesagt.« Vor Macbeth drehte sich das Rouletterad, und die einzelnen Zahlen verschwammen zu einem einzigen durchgehenden Kreis. Undeutlich und doch ganz deutlich. Er hatte heruntergezählt, bis er im Tunnel gewesen war, und dort befand er sich noch immer. Das Rad drehte sich. Diesmal würde es niemals mehr aufhören, diesmal würde er den Tunnel nie wieder verlassen – er hatte die Tür hinter sich geschlossen und verriegelt. Das Rad. Weiter und weiter drehte es sich auf ein unbekanntes Schicksal zu, das doch so vertraut war. Am Ende gewinnt immer die Bank. »Was ist das für ein Hämmern da draußen, Seyton?«

»Warum kommen Sie nicht selbst mal hier rauf, Sir, und werfen einen Blick drauf?«

»Ich spiele lieber Roulette. Also?«

»Sie haben angefangen, auf die alte Bertha einzuhämmern, das arme Ding. Und jetzt ist die Sonne draußen, Sir. Ich sehe sie. Groß und schön. Die Zeit ist um. Sollen wir …«

»Zertrümmern sie Bertha?«

»Zumindest den Sockel, auf dem sie steht. Behalten Sie den Platz im Auge und feuern Sie auf alles, was sich nähert, Olafson.«

»Jawohl!«

Macbeth hörte Schritte auf der Treppe und schaute auf. Der Rotstich von Seytons Gesicht war deutlicher erkennbar als gewöhnlich, als habe er einen Sonnenbrand. Er ging am Roulettetisch vorbei und auf die Säule zu, an der Kasi mit tief gesenktem Kopf kauerte, sodass ihm die Haare vorm Gesicht hingen.

»Wer hat Ihnen erlaubt, Ihren Posten zu verlassen?«, fragte Macbeth.

»Wird nicht lange dauern«, sagte Seyton und zog einen schwarzen Revolver aus seinem Gürtel. Drückte ihn an Kasis Kopf.

»Aufhören!«, rief Macbeth.

»Wir haben gesagt, auf die Sekunde, Sir. Wir können nicht …«

»Aufhören, hab ich gesagt!« Macbeth drehte das Radio hinter sich lauter.

»… spricht Bürgermeister Tourtell. Gestern Abend ist mir ein Ultimatum von Chief Commissioner Macbeth gestellt worden, der für mehrere der Morde verantwortlich ist, die in der letzten Zeit bei uns begangen wurden, unter anderem für den Mord an Chief Commissioner Duncan. Gestern Abend hat er nach einem gescheiterten Anschlag auf mein Leben meinen Sohn Kasi entführt. Das Ultimatum besagt, dass mein Sohn getötet wird, wenn ich nicht den Notstand ausrufe, bevor die Sonne über unserer Stadt aufgeht. Damit würde ich Macbeth unbegrenzte Macht geben und ihn vor bundesweiter Strafverfolgung bewahren. Aber wir wollen nicht, ich will nicht, Sie wollen nicht, Kasi will nicht, diese Stadt will nicht, dass ein neuer Despot die Macht an sich reißt. Dafür haben anständige Bürger in den letzten Tagen ihr Leben geopfert. Und ihre Söhne. Haben ihre Söhne geopfert, wie wir es in dieser Stadt und in anderen Städten während der Weltkriege getan haben, als unsere Demokratie bedroht wurde. Nun geht die Sonne auf. Macbeth sitzt vor dem Radio und wartet darauf, dass ich bestätige, dass dieser Tag und diese Stadt ihm gehören. Hier ist meine Nachricht an Sie, Macbeth: Nehmen Sie ihn. Kasi gehört Ihnen. Ich opfere ihn im Wissen und in der Hoffnung, dass er ebenso mich geopfert hätte oder den Sohn, den er niemals haben wird. Und wenn du mich hören kannst, Kasi, so lebe wohl, mein Augapfel.« Tourtells Stimme klang belegt. »Du wirst nicht nur von mir geliebt, sondern von einer ganzen Stadt, und wir werden an deinem Grab Kerzen entzünden, solange die Demokratie überlebt.« Er musste sich räuspern. »Ich danke dir, Kasi. Und ich danke Ihnen, den Bürgern dieser Stadt. Und nun gehört der Tag uns.«

Nach einer kurzen Stille ertönte die knackende Aufnahme einer sonoren männlichen Stimme, die Ein feste Burg ist unser Gott sang.

Macbeth stellte das Radio ab.

Seyton lachte und legte den Finger an den Abzug. Der Hahn der Waffe spannte sich. »Na, Kasi, überrascht? Einem Hurenbock ist sein Hurensohn ziemlich egal, weißt du. Aber wenn du mir jetzt deine Seele opferst, verspreche ich dir einen schmerzlosen Schuss in den Kopf, statt einem in den Bauch. Sowie Rache an dem Hurenbock und seiner Bande. Was sagst du, Junge?«

»Nein.«

»Nein?« Seyton schaute ungläubig in die Richtung, aus der die Antwort gekommen war.

»Nein«, wiederholte Macbeth. »Er darf nicht getötet werden. Nehmen Sie den Revolver runter, Seyton.«

»Ich soll die da draußen ihren Willen bekommen lassen?«

»Sie haben mich verstanden. Wir erschießen keine wehrlosen Kinder.«

»Wehrlos?«, fauchte Seyton. »Was ist mit uns? Sind wir etwa nicht wehrlos? Sollen wir uns von Duff und Malcolm wieder verarschen lassen, wie sie es immer getan haben? Haben Sie vor, Ihre Mission jetzt aufzugeben, wo wir …«

»Sie zielen mit Ihrem Revolver auf mich, Seyton.«

»Kann schon sein. Weil ich nicht zulassen werde, dass Sie das zukünftige Reich aufhalten werden, Macbeth. Sie sind nicht der Einzige mit einer Berufung. Ich werde …«

»Ich weiß, was Sie tun werden, und wenn Sie den Revolver nicht weglegen, sind Sie ein toter Mann. Oder ein totes Etwas.«

Seyton lachte. »Es gibt Dinge, die Sie nicht über mich wissen, Macbeth. Zum Beispiel, dass Sie mich nicht töten können.«

Macbeth blickte in den Lauf des Revolvers. »Dann tun Sie’s, Seyton. Nur Sie können mich zu ihr schicken. Sie sind nicht von einer Frau geboren worden, Sie wurden gemacht. Aus schlimmen Träumen, aus dem Bösen und was auch immer das ist, was brechen und zerstören will.«

Seyton schüttelte den Kopf und richtete den Revolver auf Kasis Kopf, ohne den Blick von Macbeth abzuwenden. In diesem Augenblick fiel der erste Lichtstrahl durch die großen Fenster auf der Empore. Macbeth sah, wie Seyton eine Hand hob, um seine Augen zu beschirmen, als der Strahl sein Gesicht traf.

Macbeth warf. Dem Sonnenlicht auf jenem Baumstamm entgegen, der dort draußen auf der anderen Seite stand, auf das Herz zu, das ins Holz geschnitzt war. Er wusste, er würde treffen, denn von seinen Fingerspitzen führten Linien, seine Adern, direkt zu diesem Herz.

Ein dumpfes Geräusch war zu hören. Seyton zuckte zusammen und starrte auf den Griff des Dolches, der aus seiner Brust ragte. Dann ließ er den Revolver fallen und umklammerte den Dolch, während er auf die Knie sank. Schaute auf und sah Macbeth mit benebeltem Blick an.

»Silber«, sagte Macbeth und steckte sich das Streichholz zurück zwischen die Zähne. »Soll angeblich wirken.«

Seyton fiel nach vorn und landete mit dem Kopf vor den nackten Füßen des Jungen.

Macbeth legte die weiße Elfenbeinkugel auf den hölzernen Rand des sich drehenden Rouletterades und stieß es mit Schwung in die entgegengesetzte Richtung.


»Macht weiter!«, schrie Duff, während die Männer mit Vorschlaghämmern und Feueräxten auf den vorderen Teil des Sockels einschlugen, wo sich bereits große Betonbrocken gelöst hatten.

Dann fuhr ein Riss durch den Sockel, und der wie ein Pflug geformte Kuhfänger der Lokomotive sackte mit einem ohrenbetäubenden Knall zu Boden. Duff verlor in der Führerkabine das Gleichgewicht, griff aber nach einem Hebel und schaffte es, sich festzuhalten. Die Nase der Lokomotive vor ihm zeigte nach unten, bewegte sich jedoch nicht.

»Komm schon!«

Immer noch nichts.

»Na, komm schon, altes Mädchen!«

Und dann spürte Duff etwas unter seinen Füßen. Sie hatte sich bewegt. Oder nicht? Oder … Er hörte etwas, das wie ein tiefes Wehklagen klang. Ja, sie hatte sich bewegt. Zum ersten Mal seit achtzig Jahren hatte sich Bertha Birnam vom Fleck gerührt, und nun erhob sich das Jammern der Metallteile in einem Crescendo zu wildem Protestgeschrei. Jahre des Rostens und der nagenden Trägheit versuchten sich durchzusetzen, aber die Erdanziehung war übermächtig.

»Aus dem Weg!«, kreischte Duff, zog den Gurt seiner Maschinenpistole enger und hielt den Kolben der Reservewaffe fest, die er sich in den Gürtel gesteckt hatte.

Die Räder der Dampflok drehten sich, kämpften sich aus ihrer Erstarrung, rollten langsam über den acht Meter langen Schienenstrang und über die abgeschlagene Kante des Sockels. Die Vorderräder berührten den oberen Treppenabsatz, und dessen Steinplatten zerbrachen mit ohrenbetäubendem Krachen. Einen Augenblick sah es aus, als würde der Zug dort stehen bleiben, aber dann hörte Duff das nächste Knacken. Und das nächste. Er wusste, dass niemand dieses langsam schneller werdende Kraftpaket würde aufhalten können.

Duff starrte wie gebannt nach vorn, aber aus dem Augenwinkel registrierte er, dass jemand auf den Zug aufgesprungen war und jetzt neben ihm stand.

»Eine einfache Fahrt zum Inverness bitte.« Es war Caithness.


»Sir!« Olafsons Stimme.

»Ja?« Macbeths Blick folgte den klackenden Umdrehungen der Elfenbeinkugel.

»Ich glaube, sie … sie … kommt.«

»Wer kommt?«

»Der … Zug.«

Macbeth hob den Kopf. »Der Zug?«

»Bertha! Sie kommt … hierher! Sie …«

Der Rest wurde übertönt. Macbeth sprang auf. Von seiner Position im Spielsaal aus konnte er nicht bis zum Bahnhofsgebäude hinaufschauen, nur den ansteigenden Platz draußen vor den hohen Fenstern sehen. Aber er hörte es. Es klang, als würde ein brüllendes Ungeheuer alles in Schutt und Asche legen, was sich ihm in den Weg stellte. Und es kam näher.

Und dann, da es den Platz überquert hatte und vor dem Inverness anlangte, tauchte es auch in seinem Blickfeld auf.

Macbeth schluckte.

Bertha fuhr wieder.

»Feuer!«


Deputy Chief Commissioner Malcolm verfolgte ungläubig das Schauspiel. Was auch immer jetzt passierte, er wusste, so etwas würde er in seinem Leben niemals wieder zu Gesicht bekommen. Eine Dampflok, die Steine fraß und sich ihre eigene Strecke quer über den Worker’s Square bahnte. Ihrer aller Vorfahren hatten diese Lokomotive aus einem Eisen geschmiedet, das zu schwer und zu massiv war, als dass man es hätte aufhalten können, mit Kugellagern, die nach gerade einmal achtzig Jahren der Vernachlässigung längst nicht verrostet oder ausgetrocknet waren. Der Kugelhagel der Gatling-Gewehre konnte nichts ausrichten, außer dass ein paar Funken flogen; er prallte an ihr ab wie Wasser, während Bertha ihren Kurs aufs Inverness unbeirrt fortsetzte.

»Das ist ein ziemlich massives Gebäude«, sagte jemand neben ihm.

Malcolm schüttelte den Kopf. »Es ist bloß eine Spielhölle.«


»Gut festhalten!«, brüllte Duff.

Caithness hatte sich auf den eisernen Boden gehockt, mit dem Rücken zur seitlichen Kabinenwand, damit sie keine Querschläger der Kugeln abbekam, die über ihre Köpfe hinwegpfiffen. Sie schrie etwas, ihre Gesichtsmuskeln spannten sich an, und sie kniff die Augen zu.

»Was?«, brüllte Duff.

»Ich liebe …«

Dann trafen sie das Inverness.


Macbeth genoss den Anblick, wie die alte Bertha das Fenster ausfüllte, bevor sie es durchbrach. Er hatte das Gefühl, als würde das gesamte Gebäude – der Boden, auf dem er saß, die Luft im Saal –, als würde alles nach hinten gedrückt werden, als der Zug durch die Wand in den Raum einbrach. Der Lärm legte sich wie ein Überzug auf seine Trommelfelle. Der Schornstein der Dampflok durchschnitt den östlichen Teil der Empore, und der Kuhfänger grub sich in den Boden. Das Inverness hatte sie abgebremst, aber Bertha fraß sich noch immer voran. Einen halben Meter vor ihm kam sie zum Stehen, mit dem Schornstein an der westlichen Empore und dem Kuhfänger am Roulettetisch. Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille. Dann folgte das Klirren von Kristall. Macbeth wusste, woher es kam. Bertha hatte die Seile durchtrennt, die den Kronleuchter über ihm an seinem Platz hielten. Er machte keine Anstalten, sich zu rühren, er schaute nicht einmal auf. Nur eines bemerkte er noch, bevor alles schwarz wurde: dass er plötzlich bedeckt war von böhmischem Glas.

Duff kletterte mit der Maschinenpistole in den Händen auf den Zug hinauf. Die flachen Sonnenstrahlen fielen durch den Staub, der die Luft erfüllte.

»Das Gatling-Gewehr in der südöstlichen Ecke ist unbesetzt!«, schrie Caithness hinter ihm. »Was ist mit …«

»Das im Südwesten ist ebenfalls unbesetzt«, sagte Duff. »Seyton liegt neben dem Roulettetisch mit einem Dolch in der Brust. Sieht ziemlich tot aus.«

»Kasi ist hier. Scheint unverletzt zu sein.«

Duff ließ seinen Blick über das Schlachtfeld wandern, das einmal ein Spielsaal gewesen war. Hustete wegen des Staubs. Lauschte. Abgesehen von dem wilden Rollen einer Roulettekugel im Kessel herrschte Stille. Sonntagmorgen. In wenigen Stunden würden die Kirchenglocken läuten. Er kletterte hinunter. Trat über Seytons Leiche zum Kronleuchter. Nahm den Säbel und fegte damit die Glasscherben von Macbeths Gesicht.

Macbeths Augen waren vor Überraschung weit geöffnet, wie bei einem Kind. Die vergoldete Spitze des Kronleuchters war in seiner rechten Schulter verschwunden. Nicht viel Blut rann aus der Wunde, die rhythmisch zuckte, als würde sie aus dem Kristallleuchter Leben saugen.

»Guten Morgen, Duff.«

»Guten Morgen, Macbeth.«

»Haha. Weißt du noch, wie wir das jeden Morgen zueinander gesagt haben, wenn wir im Waisenhaus aufgestanden sind, Duff? Du lagst im oberen Bett.«

»Wo sind die anderen? Wo ist Olafson?«

»Cleverer Bursche, dieser Olafson. Er weiß, wann es Zeit ist, sich aus dem Staub zu machen. Wie du.«

»Deine SWAT-Männer machen sich nicht aus dem Staub«, sagte Duff.

Macbeth seufzte. »Nein, du hast recht. Würdest du mir glauben, wenn ich sagte, er ist hinter dir und wird dich in … ähm, zwei Sekunden umbringen?«

Duff betrachtete Macbeth einen Augenblick. Dann wirbelte er herum. Oben, wo die Empore in zwei Hälften gerissen worden war, sah er zwei Gestalten im Gegenlicht der Morgensonne, die durch das Loch in der Ostmauer drang. Eine schien ein mittelalterlicher Ritter in Rüstung zu sein. Die zweite kniete daneben: Es war Olafson, der sein Gewehr auf der Balustrade abgestützt hatte. Fünfzehn Meter. Von dort konnte Olafson einen Penny treffen.

Ein Schuss löste sich.

Duff wusste, dass er tot war.

Warum stand er dann immer noch?

Das Echo des Schusses hallte durch den Raum.

Macbeth sah, wie Olafson gegen die Rüstung stürzte, die umfiel, durch das Loch in der Empore rutschte und scheppernd auf den Boden des Spielsaales knallte. Auf der Empore lag Olafson jetzt mit dem Gesicht an die Brüstung gepresst. Seine Wange war über das eine Auge hochgedrückt, das andere war geschlossen, als wäre er über seiner Remington 700 eingeschlafen.

»Fleance!«, schrie Caithness.

Duff fuhr herum, zum nördlichen Ende der Empore.

Und dort, wo die Treppe aus den oberen Stockwerken mündete, stand Fleance. Sein Hemd war blutdurchtränkt, er schwankte und umklammerte eine noch rauchende Waffe.

»Caithness, bring Kasi und Fleance hier raus«, sagte Duff. »Schnell.«

Duff ließ sich in den Stuhl neben dem Roulettetisch fallen. Die Kugel auf dem Rad wurde langsamer, ihr Klang hatte sich verändert.

»Was passiert jetzt?«, stöhnte Macbeth.

»Wir warten, bis die anderen kommen. Im Krankenhaus werden sie dich zusammenflicken. Haft. Fall fürs Bundesgericht. Man wird Jahre über dich sprechen, Macbeth.«

»Du glaubst immer noch, im oberen Bett zu liegen, was, Duff?«

Kristall klirrte. Duff schaute auf. Macbeth hatte seine linke Hand erhoben.

»Du weißt, ich bin schnell wie der Blitz. Bevor du diesen Säbel loslassen und nach deiner Waffe greifen kannst, hast du einen Dolch in deiner Brust. Das weißt du doch, oder?«

»Möglich«, sagte Duff. Statt Angst empfand er bloß, wie eine immense Erschöpfung von ihm Besitz ergriff. »Und du wirst doch verlieren, wie immer.«

Macbeth lachte. »Und wieso das?«

»Es ist eine dieser sich selbst erfüllenden Geschichten. Du hast es immer gewusst, dein ganzes Leben lang, dass du am Ende dazu verdammt bist zu verlieren. Diese Gewissheit hat dich immer ausgemacht und wird es auch immer tun, Macbeth.«

»Ach ja? Hast du’s noch nicht gehört? Kein Mensch, der von einer Frau geboren wurde, kann mich umbringen. Das ist Hecates Versprechen, und er hat mehrmals gezeigt, dass er seine Versprechen hält. Weißt du, was das heißt? Ich kann hier einfach aufstehen und gehen.« Er versuchte, sich in eine sitzende Position zu ziehen, aber das Gewicht des Kronleuchters hielt ihn unten.

»Hecate hat vergessen, an mich zu denken, als er dir dieses Versprechen gegeben hat«, sagte Duff und ließ Macbeths linke Hand nicht aus den Augen. »Ich kann dich töten, also bleib still liegen.«

»Hörst du schwer, Duff? Ich habe gesagt …«

»Aber ich bin nicht von einer Frau geboren worden«, schnaufte Duff.

»Nicht?«

»Nein. Ich wurde aus dem Bauch meiner Mutter geschnitten, nicht geboren.« Duff beugte sich vor und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Narbe auf seinem Gesicht.

Macbeth blinzelte mit Kinderaugen. »Du … du warst noch nicht geboren, als Sweno sie getötet hat?«

»Sie war schwanger mit mir. Man hat mir gesagt, sie habe versucht, die Blutung im Haus eines Officers zu stillen, als Sweno den hier geschwungen hat.« Duff hob den Säbel. »Er hat ihr damit den Bauch aufgeschlitzt.«

»Und dein Gesicht.«

Duff nickte langsam. »Du wirst mir nicht entkommen, Macbeth. Du hast verloren.«

»Verlust um Verlust. Am Anfang haben wir alles, und dann verlieren wir alles. Ich dachte, das wäre das Einzige, was sicher ist, die Gnade des Todes. Aber nicht einmal die ist garantiert. Nur du kannst mir den Tod geben und mich dorthin schicken, wo ich mit meiner Geliebten wiedervereint sein kann, Duff. Sei mein Retter.«

»Nein. Du bist verhaftet und wirst allein im Gefängnis verrotten.«

Macbeth lachte auf. »Ich kann nicht aus meiner Haut, und du kannst es auch nicht. Du konntest nicht aus deiner Haut, als du versucht hast, mich in der Gasse zu töten, und du kannst es jetzt auch nicht. Wir sind, wie wir sind, Duff. Der freie Wille ist bloß eine Illusion. Also tu, was du tun musst. Tu, was du bist. Oder soll ich dir helfen und ihre Namen sagen. Meredith, Emily und …«

»Ewan«, sagte Duff. »Du bist derjenige, der nicht loskommt von dem Menschen, der du immer sein wolltest, Macbeth. Deshalb wusste ich auch, dass es für Kasi immer noch Hoffnung gab, obwohl die Sonne bereits über dem Berg aufgegangen war. Du warst nie in der Lage, einen wehrlosen Menschen umzubringen. Und selbst wenn man sich später an dich erinnern wird als einen Mann, der noch brutaler war als Sweno und korrupter als Kenneth, sind es deine guten Eigenschaften, die dich zu Fall gebracht haben, dein Mangel an Brutalität.«

»Ich war immer das Gegenteil von dir, Duff. Und deshalb dein Spiegelbild. Also töte mich jetzt.«

»Wozu die Eile? Menschen wie dich erwartet doch sowieso die Hölle.«

»Dann lass mich gehen.«

»Wenn du darum bittest, dass dir deine Sünden vergeben werden, kommst du vielleicht davon.«

»Die Chance habe ich verspielt, Duff. Zum Glück. Denn ich freue mich darauf, meine Liebste wiederzusehen, auch wenn es bedeutet, dass wir für alle Zeiten miteinander brennen.«

»Nun, du wirst einen fairen Prozess bekommen, und deine Strafe wird weder zu hart ausfallen noch zu mild. Sie wird der erste Beweis sein, dass diese Stadt sich zivilisieren lässt. Sie kann geheilt werden.«

»Du lächerlicher Idiot!«, schrie Macbeth. »Du machst dir selber was vor. Das sind bloß Gedanken, die du gerne denken würdest. Dabei sucht dein Gehirn verzweifelt nach einem guten Grund, mich zu töten, solange ich hier wehrlos vor dir liege. Deshalb hält dich etwas in dir zurück. Aber dein Hass ist wie dieser Zug: Er lässt sich nicht mehr aufhalten, wenn er sich einmal in Bewegung gesetzt hat.«

»Du irrst dich, Macbeth. Wir können uns ändern.«

»Ach ja? Dann schluck diesen Dolch, freier Mann.« Macbeths Hand griff in seine Jacke.

Duff reagierte instinktiv, schloss die Hände um den Griff des Säbels und stieß zu.

Es überraschte ihn, wie leicht die Klinge Macbeths Brust durchdrang. Und als sie den Boden unter ihm traf, spürte er ein Zittern, das sich von Macbeths Körper über den Säbel auf ihn selbst übertrug. Ein langer Seufzer löste sich von Macbeths Lippen. Ein feiner Strahl hellroten Blutes spritzte aus seinem Mund und legte sich wie warmer Regen auf Duffs Hand. Er schaute hinab auf Macbeths Augen, wusste nicht, was er suchte, nur, dass er es nicht finden konnte. Er sah, wie ein Licht verlosch, als die Pupillen sich vergrößerten und langsam die Iris überdeckten, sonst nichts.

Duff ließ den Säbel los und trat zwei Schritte zurück.

Stand schweigend da.

Sonntagmorgen.

Hörte, wie sich Stimmen vom Worker’s Square näherten.

Er wollte nicht. Aber er wusste, dass er es tun musste. Also tat er es. Er knöpfte Macbeths Jacke auf.

Macbeths Hand lag flach auf seiner Brust. Nichts war da, kein Schulterholster, kein Dolch, nur ein weißes Hemd, das sich langsam rot färbte.

Ein klackerndes Geräusch. Duff drehte sich um. Es kam vom Roulettetisch. Er erhob sich. Auf dem Tisch lag ein Jeton auf Rot, unter dem Herz, ein anderer auf Schwarz. Aber das Geräusch kam vom Rad, das sich nach wie vor drehte, jedoch immer langsamer. Die weiße Kugel tanzte zwischen den Zahlen. Dann kam sie zur Ruhe, saß endlich in der Falle.

In dem einen grünen Feld, das bedeutete, dass alles ans Haus geht.

Keiner der Spieler gewinnt.

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