37

Der Samstag brachte noch mehr Regen. Die Titelseiten der beiden großen Zeitungen der Stadt machten mit Tourtells Bekanntgabe und der Explosion im obersten Stock des Obelisken auf. Die Times wies in ihrem Leitartikel darauf hin, dass Macbeth in seinem Radiointerview keineswegs kategorisch abgelehnt habe, für das Amt des Bürgermeisters zu kandidieren. Und berichtete, dass Tourtell für keine weiteren Kommentare zur Verfügung stehe, dass er die Mutter seines Sohnes an ihrem Krankenbett im St. Jordi’s Hospital besuchen müsse. Erst spät am Vormittag hörte es zu regnen auf.

»Du bist früh zu Hause«, sagte Sheila, wischte sich im Flur die Hände an ihrer Schürze ab und schaute ihren Ehemann besorgt an.

»Ich hatte nichts zu tun. Ich glaube, ich war der Einzige bei der Arbeit.« Lennox stellte seine Tasche neben der Kommode ab, nahm einen Kleiderbügel von der Garderobe und hängte seinen Mantel auf. Zwei Jahre waren vergangen, seit der Stadtrat für den öffentlichen Dienst die Fünftagewoche eingeführt hatte, im Polizeihauptquartier galt jedoch das unausgesprochene Gesetz, dass man sein Gesicht auch samstags zeigen musste, wenn man es zu etwas bringen wollte.

Lennox gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange und bemerkte ein neues, ungewohntes Parfum. Ein bisher undenkbarer Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Was, wenn er sie in flagranti mit einem anderen erwischt hatte? Er wehrte das sofort ab. Erstens war sie nicht der Typ dafür. Zweitens nicht attraktiv genug – es gab schließlich einen guten Grund dafür, warum sie bei einem kleinen Albino gelandet war. Der dritte und stärkste Grund dafür, den Gedanken von sich zu weisen, war jedoch ganz einfach: Es wäre zu schwer zu ertragen.

»Stimmt irgendwas nicht?« Sie folgte ihm ins Wohnzimmer.

»Alles gut«, sagte er. »Ich bin bloß müde. Wo sind die Kinder?«

»Im Garten«, sagte sie. »Endlich ist mal anständiges Wetter.«

Er stand am großen Fenster. Sah seinen Kindern dabei zu, wie sie schreiend und lachend herumtobten, irgendein Spiel spielten, das er nicht verstand. Fangen vielleicht. Man konnte nicht früh genug lernen, zu entkommen. Er schaute zum Himmel auf. Anständig? Eine kleine Pause, bevor es wieder zu pissen anfing. Er ließ sich in einen Armsessel fallen. Wie lange konnte er noch so weitermachen?

»Mittagessen ist erst in einer Stunde fertig«, sagte sie.

»Ist gut, mein Schatz.« Er schaute sie an. Er mochte sie wirklich, aber hatte er sie je geliebt? Er konnte sich nicht erinnern, und vielleicht war das auch nicht so wichtig. Sie hatte nie etwas dergleichen gesagt, auch nicht das Gegenteil, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn auch nicht geliebt hatte. Insgesamt sagte Sheila nicht viel. Vielleicht hatte sie sich auch deshalb von ihm überreden lassen, seine Freundin zu sein und schließlich seine Frau. Sie hatte jemanden gefunden, der für sie beide sprach.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Ganz sicher, meine Süße. Riecht gut. Was ist das?«

»Ähm, Kabeljau.« Ihre gerunzelte Stirn formte eine Frage.

Er wollte ihr erklären, dass er ihr Parfum gemeint hatte, nicht das Mittagessen, mit dem sie kaum angefangen hatte. Aber sie ging bereits in die Küche, also drehte er den Sessel herum Richtung Garten. Seine ältere Tochter sah ihn, strahlte und rief den anderen beiden etwas zu. Er winkte. Wie konnten zwei derart unattraktive Menschen so hübsche Kinder bekommen? Und in diesem Moment traf ihn der Gedanke erneut: wenn es wirklich seine waren.

Untreue und Verrat.

Jetzt rief ihm sein Sohn etwas zu – er konnte nicht verstehen, was, aber als der Junge bemerkte, dass er die Aufmerksamkeit seines Vaters auf sich gezogen hatte, schlug er ein Rad auf dem Rasen. Lennox applaudierte mit hochgereckten Armen, und nun schlugen alle drei Räder. Um Daddy zu beeindrucken, den sie immer noch bewunderten, dem sie immer noch nacheifern wollten. Schreie, Gelächter und Herumgetolle. Lennox dachte an die Stille draußen in Fife, an den Sonnenschein, die Vorhänge, die in einem Fenster geweht hatten, das in tausend Teile zerschossen worden war, an die sanfte Brise, die einen kaum hörbaren traurigen Ton durch eines der Löcher in der Wand geblasen hatte. All die unerträglichen Gedanken. Es gab so viele Wege, diejenigen zu verlieren, die man liebte. Was, wenn sie eines Tages herausfanden, was für eine Art Mensch ihr Ehemann und Vater wirklich war? Würde der Wind dann denselben Trauergesang anstimmen?

Er schloss die Augen. Ein wenig ausruhen. Etwas anständigeres Wetter.

Er spürte, dass jemand da war, vor ihm stand und auf ihn hinabatmete. Es war Sheila.

»Hast du mich nicht rufen gehört?«, fragte sie.

»Was?«

»Da ist jemand am Telefon für dich. Ein Inspector Seyton.«

Lennox ging in den Flur, nahm den Hörer vom Telefontischchen. »Hallo?«

»So früh schon zu Hause, Lennox? Ich brauche heute Abend Hilfe.«

»Mir geht es nicht gut. Fragen Sie lieber wen anders.«

»Der Chief Commissioner sagte, ich soll Sie mitnehmen.«

Lennox schluckte. Sein Mund schmeckte nach Blei. »Mitnehmen? Wohin?«

»In ein Krankenhaus. Halten Sie sich in einer Stunde bereit. Ich hole Sie ab.« Er hörte ein Klicken. Seyton hatte aufgelegt. Blei.

»Was war denn?«, rief Sheila aus der Küche.

Ein blasses Metall, das von seiner Umgebung geformt wird, das vergiftet und tötet, ein schweres, aber nachgiebiges Material, das bei dreihundertfünfzig Grad zu schmelzen beginnt.

»Nichts, Schatz. Nichts.«


Macbeth erwachte aus einem Traum über den Tod. Es klopfte an der Tür. An der drängenden Art erkannte er, dass es schon lange geklopft haben musste.

»Sir!« Es war Jacks Stimme.

»Ja«, grunzte Macbeth und schaute sich um. Der Raum war von Tageslicht durchflutet. Wie spät war es? Er hatte geträumt, mit gezücktem Dolch vor einem Bett gestanden zu haben. Aber bei jedem Blinzeln hatte ein anderes Gesicht auf dem Kissen gelegen.

»Inspector Caithness ist am Telefon, Sir. Sie sagt, es sei dringend.«

»Stellen Sie sie durch«, sagte Macbeth und rollte zur Nachttischseite hinüber. »Caithness?«

»Tut mir leid, dass ich Sie an einem Samstag anrufe, aber wir haben eine Leiche gefunden. Ich fürchte, wir brauchen Ihre Hilfe.« Sie klang außer Atem.

»Wieso das?«

»Weil wir glauben, es könnte sich um Fleance handeln, Banquos Sohn. Der Leichnam ist in keinem guten Zustand, und da er keine nahen Verwandten in der Stadt hat, sind Sie wohl am ehesten geeignet, ihn zu identifizieren.«

»Oh.« Macbeth spürte, wie sich ihm die Kehle zusammenzog.

»Wie bitte?«

»Ja, ich denke, das bin ich wohl«, sagte Macbeth und zog die Bettdecke enger um sich. »Wenn eine Leiche so lange im Meerwasser gelegen hat …«

»Das ist es ja gerade.«

»Was ist es gerade?«

»Wir haben die Leiche nicht im Meer gefunden, sondern in einer Gasse zwischen der Vierzehnten und der Fünfzehnten Straße.«

»Was?«

»Deshalb wollen wir ja auch absolut sichergehen, dass es Fleance ist, bevor wir mit den Ermittlungen fortfahren.«

»Zwischen der Vierzehnten und Fünfzehnten sagen Sie?«

»Kommen Sie zur Ecke Vierzehnte und Doheney Street. Ich warte vor Joey’s Hamburger Bar auf Sie.«

»Okay, Caithness. Ich bin in zwanzig Minuten da.«

»Vielen Dank, Sir.«

Macbeth legte auf. Lilien. Die Blumen auf dem Teppich waren Lilien. Lily. Das war der Name von Ladys Kind gewesen. Warum war ihm dieser Zusammenhang noch nie aufgefallen? Tod. Weil er noch nie in seinem Leben so viel Tod um sich gehabt hatte, vor seinen Augen, beim Essen, im Schlaf. Er schloss die Augen. Erinnerte sich an die wechselnden Gesichter aus seinem Traum. Das ahnungslose Gesicht von Waisenhausdirektor Lorreal, der mit offenem Mund schnarchte, wurde zum Gesicht von Chief Commissioner Duncan, dessen Augen sich öffneten und ihn wissend anstarrten. Dann Banquos ungerührte, schonungslose Verachtung. Keine Körper, immer nur ein Kopf auf dem Kissen. Schließlich der panische Ausdruck des namenlosen jungen Norse Riders, als er auf der Fahrbahn kniete und seinen bereits toten Kameraden betrachtete, während Macbeth auf ihn zutrat. Er blickte zur Decke und erinnerte sich, wie oft er in seinem Leben schon aus Albträumen aufgewacht war und erleichtert aufgeseufzt hatte. Erleichtert, weil er feststellte, dass er in Wirklichkeit gar nicht im Treibsand versank oder von Hunden aufgefressen wurde. Manchmal jedoch glaubte er, aus einem Albtraum erwacht zu sein, träumte aber immer noch, versank noch immer und musste erst verschiedene Schichten durchbrechen, bevor er wieder ganz bei Bewusstsein war. Er kniff die Augen fest zusammen. Schlug sie auf. Dann stand er auf.


Die dralle schwarze Frau am Empfang des St. Jordi’s Hospital schaute von dem Ausweis auf, den Lennox ihr gezeigt hatte.

»Uns ist gesagt worden, dass niemand vorgelassen werden darf …« Sie schaute sich noch einmal den Ausweis an. »Inspector.«

»Polizeiangelegenheit«, entgegnete er. »Hat höchste Priorität. Der Bürgermeister muss unverzüglich informiert werden.«

»Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen, kann ich …«

»Es ist vertraulich. Und dringend.«

Sie seufzte.

»Zimmer 204, erster Stock.«

Bürgermeister Tourtell und der Junge saßen nebeneinander auf Holzstühlen an einem der Betten in dem großen Krankensaal. Der ältere Mann hatte dem Jungen den Arm um die Schulter gelegt, und sie schauten beide auf, als Lennox sich hinter ihnen räusperte. In dem Bett lag eine bleiche, dünnhaarige Frau mittleren Alters, und Lennox erkannte sofort ihre Ähnlichkeit mit dem Jungen.

»Guten Abend, Sir. Sie werden sich nicht an mich erinnern, aber wir haben uns bei dem Abendessen im Inverness kennengelernt.«

»Inspector Lennox, nicht wahr? Antikorruptionseinheit.«

»Beeindruckend. Ich muss mich entschuldigen, hier so hereinzuplatzen.«

»Wie kann ich Ihnen helfen, Lennox?«

»Wir haben einen glaubwürdigen Hinweis bekommen, dass in Kürze ein Anschlagsversuch auf Sie unternommen werden soll.«

Der Junge fuhr zusammen, aber Tourtell zuckte nicht mal mit der Wimper. »Mehr Details, Inspector.«

»Derzeitig haben wir keine, aber wir nehmen die Sache sehr ernst. Man hat mich geschickt, um Sie an einen sicheren Ort zu begleiten.«

Tourtell hob eine Augenbraue. »Welcher Ort könnte denn sicherer sein als ein Krankenhaus?«

»In allen Zeitungen steht, dass Sie sich hier aufhalten, Bürgermeister. Hier hat jeder Zugang. Ich würde Sie gerne zu Ihrem Wagen begleiten, und dann folge ich Ihnen, bis Sie sicher in Ihren eigenen vier Wänden sind. Ich hoffe, dann haben wir Zeit, der Sache etwas genauer auf den Grund zu gehen. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, kommen Sie bitte mit …«

»Jetzt sofort? Wie Sie sehen …«

»Ich sehe, und es tut mir leid, aber es ist meine Pflicht, das Leben des Bürgermeisters zu schützen.«

»Bleiben Sie einfach an der Tür und halten Sie Wache, Lennox, dann …«

»Meine Anweisungen lauten anders, Sir.«

»Jetzt lauten sie so, Lennox.«

»Geh.« Das geflüsterte, kaum hörbare Wort kam von der Frau im Bett. »Geh und nimm Kasi mit.«

Tourtell legte seine Hand auf ihre. »Aber Edith, du …«

»Ich bin müde, mein Lieber. Ich möchte jetzt allein sein. Kasi ist sicherer bei dir. Hör auf den Mann.«

»Bist du …«

»Ja, ich bin sicher.«

Die Frau schloss die Augen. Tourtell tätschelte ihre Hand und wandte sich Lennox zu. »Okay, gehen wir.«

Sie verließen den Raum. Der Junge ging ihnen einige Schritte voraus.

»Weiß er es?«, fragte Lennox.

»Dass sie stirbt? Ja.«

»Und wie nimmt er es auf?«

»Manche Tage sind schwerer als andere. Er weiß es schon eine ganze Weile.« Sie gingen die Treppe hinunter auf den Kiosk und den Ausgang zu. »Aber er sagt, es ist in Ordnung. Solange er noch einen von uns beiden hat. Ich hole mir nur schnell Zigaretten. Warten Sie hier auf mich?«


»Da steht sie«, sagte Macbeth mit ausgestrecktem Finger.

Jack parkte den Wagen gegenüber vom Grand Hotel, vor einer Wäscherei und einer Hamburger-Bar. Sie stiegen beide aus, und Macbeth ließ seinen Blick über die leere Straße wandern.

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte Caithness.

»Kein Problem«, entgegnete Macbeth. Sie roch nach einem starken Parfum. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm das schon einmal aufgefallen wäre.

»Zeigen Sie ihn mir«, sagte Macbeth.

Zusammen mit Jack folgte er ihr die Straße hinunter. Der Samstagabend kam gerade erst in Gang. Unter einem blinkenden Neonschild, auf dem NACKTE FRAUEN stand, glotzte ein Türsteher im Anzug Caithness an, schleuderte seine Zigarettenkippe auf den Boden und drückte sie mit dem Hacken aus.

»Ich dachte, Sie würden Seyton mitbringen«, sagte Caithness.

»Er musste heute Abend ins St. Jordi’s. Ist es hier?«

Caithness blieb vor dem Eingang zu einer engen Gasse zwischen zwei Häusern stehen, die mit dem orangefarbenen Band der Mordkommission abgesperrt war. Macbeth spähte in die Dunkelheit. Die Gasse war so eng, dass sich die Mülleimer vor den Hintertüren auf beiden Seiten beinahe berührten. Es war jedoch zu finster, um irgendetwas Genaueres zu erkennen.

»Ich war als Erste hier. Der Rest des Spurensicherungsteams kommt später. So ist das meistens am Wochenende. Die Kollegen sind in alle Winde verstreut.« Caithness hielt das Band hoch, und Macbeth duckte sich darunter durch. »Wenn Sie sich die Leiche erst einmal allein anschauen würden, Sir. Ich habe Sie mit einer Plane abgedeckt, aber bitte berühren Sie weiter nichts. Wir wollen so wenige Abdrücke wie möglich haben. Ihr Fahrer kann hier warten, während ich zum Joey’s zurückgehe und den Pathologen in Empfang nehme. Der ist angeblich jede Minute hier.«

Macbeth schaute sie an. Er sah nichts in ihrem Gesicht. Noch nicht. Sie hatte geglaubt, Seyton würde kommen. Starkes Parfum. Das jeden anderen Geruch übertünchte, den sie womöglich verstecken wollte.

»Okay«, sagte er und ging die Gasse hinunter.

Er hatte nicht mehr als zehn Meter zurückgelegt, als alle Geräusche der Hauptstraße verschwanden und er nur noch das Surren von Ventilatoren hörte, ein Husten hinter einem offenen Fenster und das Dröhnen eines Radios. Todd Rundgren: Hello It’s Me. Er schlängelte sich vorsichtig an den Mülltonnen vorbei, schlich sogar, ohne wirklich zu wissen, warum. Reine Gewohnheit, wie er vermutete.

Die Leiche lag mitten auf der Straße, halb im Lichtkegel einer an der Hauswand angebrachten Lampe. Am anderen Ende konnte er die fünfzehnte Straße erkennen, aber sie war zu weit weg, um zu sehen, ob die Gasse dort ebenfalls abgesperrt worden war.

Zwei Füße ragten unter der weißen Plane hervor. Er erkannte die spitz zulaufenden Schuhe sofort.

Er ging zur Plane. Atmete tief ein. Die Luft war vom süßen Geruch der Reinigungschemikalien erfüllt, der aus einem lauten Abzugsventilator über der Tür hinter ihm drang. Er griff die Plane in der Mitte und zog sie weg.

»Hi, Macbeth.«

Er starrte in die Mündung einer Schrotflinte. Vor ihm in der Dunkelheit lag ein Mann auf dem Rücken und hielt die Waffe hoch. Die Narbe leuchtete in seinem Gesicht. Macbeth entließ die Luft aus seiner Lunge.

»Hi, Duff.«


Duff musterte Macbeths Hände, während er sprach. »Macbeth, hiermit bist du verhaftet. Wenn du auch nur einen Finger krümmst, erschieße ich dich sofort. Du hast die Wahl.«

Macbeth schaute zur fünfzehnten Straße hinüber. »Ich bin der Chief Commissioner in dieser Stadt, Duff. Du kannst mich nicht verhaften.«

»Es gibt andere Autoritäten.«

»Der Bürgermeister?« Macbeth lachte. »Ich glaube, du solltest dich lieber nicht darauf verlassen, dass er lange genug lebt.«

»Ich spreche von niemandem in dieser Stadt.« Duff stand auf, ohne die Schrotflinte auch nur einen Zentimeter von Macbeth abzuwenden.

»Ich verhafte dich wegen Mittäterschaft an den Morden, die in Fife passiert sind, und du wirst den dortigen Behörden überbracht, um dich vor Gericht zu verantworten. Wir haben mit den Kollegen gesprochen. Man wird dich wegen des Mordes an Banquo anklagen, der in Fife stattgefunden hat. Nimm die Hände hoch, und das Gesicht zur Wand.«

Macbeth befolgte die Anweisung. »Du hast nichts gegen mich in der Hand, und das weißt du auch.«

»Mit der Aussage von Inspector Caithness über das, was Angus ihr erzählt hat, haben wir genug, um dich in Fife für eine Woche in Gewahrsam zu halten. Und eine Woche ohne dich an der Spitze gibt uns genug Zeit, um auch hier eine Anklage gegen dich zustande zu bringen. Für den Mord an Duncan. Wir haben eindeutige Beweise.« Duff holte seine Handschellen hervor. »Dreh dich um, leg die Hände hinter … na, du weißt ja, wie’s geht.«

»Willst du mich wirklich nicht erschießen, Duff? Na, komm schon, du bist doch ein Mann, der für die Rache lebt.«

Duff wartete, bis Macbeth ihm den Rücken zugekehrt und seine Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte, dann näherte er sich ihm.

»Herauszufinden, dass es nicht Sweno war, den du getötet hast, das hat dich mitgenommen. Aber diesmal bist du dir doch sicher, dass du den Richtigen vor dir hast. Willst du Meredith und die Kinder gar nicht rächen? Oder hat dir deine Mutter mehr bedeutet als sie?«

»Steh still und halt die Klappe.«

»Ich habe jahrelang meine Klappe gehalten, Duff. Ich weiß, dass die Polizeibeamtin, die Sweno in Stoke umgebracht hat, deine Mutter war. In welchem Jahr war diese Sache in Stoke? Du kannst noch nicht sehr alt gewesen sein.«

»Ich war jung.« Duff ließ die Handschellen um Macbeths Handgelenke einrasten.

»Und warum hast du den Namen deines Großvaters mütterlicherseits angenommen, statt weiter den Namen deiner Eltern zu tragen?«

Duff drehte Macbeth um, sodass sie sich Aug in Aug gegenüberstanden.

»Du brauchst mir das nicht zu beantworten«, sagte Macbeth. »Du hast es getan, damit bei der Polizei oder den Norse Riders niemand deinen Namen mit dem Stoke-Massaker in Verbindung bringt. Und keiner drauf kommt, dass du nicht zur Polizei gegangen bist, um der Stadt zu dienen oder wegen all dem anderen Scheiß, den wir schwören müssen. Es ging von Anfang an nur darum, Sweno zu fassen, darum, dass du deine Rache bekommst. Hass hat dich angetrieben, Duff. Als du Lorreal im Waisenhaus umgebracht hast, war das ganz leicht, oder? Du hast Sweno vor dir gesehen. Lorreal war bloß ein weiterer Mann, der eine Kindheit zerstört hat.«

»Vielleicht.« Duff stand ihm so nahe, dass er sein Spiegelbild in Macbeths braunen Augen sehen konnte.

»Was ist also passiert, Duff? Warum willst du mich jetzt nicht töten? Ich bin der Mann, der dir deine Familie genommen hat, und dies ist deine Chance.«

»Du wirst die Verantwortung übernehmen für das, was du getan hast.«

»Und was habe ich getan?«

Duff warf einen kurzen Seitenblick in Richtung fünfzehnter Straße, wo der Wagen mit Malcolm und Fleance wartete. Auch Caithness war auf dem Weg dorthin. »Du hast unschuldige Menschen umgebracht.«

»Es ist unsere verdammte Pflicht, unschuldige Menschen umzubringen, Duff. Solange es einem höheren Gut dient, müssen wir unsere sentimentale, gefallsüchtige Natur überwinden. Als ich dem Jungen auf der Landstraße die Kehle durchgeschnitten habe, habe ich das nicht für dich getan, ich wollte dir nicht zurückzahlen, dass du Lorreal für mich umgebracht hattest. Ich habe mich zum Mörder gemacht, um zu verhindern, dass jemand die Polizei in den Dreck zieht. Ich habe es für die Stadt getan, gegen die Anarchie.«

»Los jetzt. Wir gehen.«

Duff fasste Macbeths Arm, aber dieser zog ihn zurück. »Ist deine Gier nach Macht größer geworden als deine Gier nach Rache? Glaubst du, dass du das Dezernat für Organisierte Kriminalität bekommst, wenn du den Chief Commissioner verhaftest?«

Duff drückte den Lauf der Schrotflinte unter Macbeths Kinn. »Ich könnte ihnen natürlich auch sagen, du hättest dich der Verhaftung widersetzt.«

»Schwere Entscheidung?«, flüsterte Macbeth.

»Nein«, sagte Duff und senkte die Waffe. »Diese Stadt braucht nicht noch mehr Leichen.«

»Du hast sie also nicht geliebt, was? Meredith, die Kinder. Ach nein, hatte ich vergessen, du kannst ja nicht lieben …«

Duff schlug zu. Der Lauf der Schrotflinte traf Macbeth am Mund. »Denk dran, ich hatte nie ein Problem damit, einen wehrlosen Mann umzubringen, Macbeth.«

Macbeth lachte und spuckte Blut aus. Ein Zahn hüpfte durch die Dunkelheit. »Dann beweis es. Erschieß den einzigen Freund, den du je gehabt hast. Na los. Tu’s für Meredith!«

»Nimm ihren Namen nicht in den Mund!«

»Meredith! Meredith!«

Duff hörte, wie das Blut in seinen Ohren pulsierte, fühlte sein Herz klopfen, schwer und schmerzhaft. Er durfte nicht … Macbeths Stirn traf Duffs Nase mit einem lauten Knacken. Aber sie standen zu dicht beieinander, sodass Macbeth nicht genug Schwung holen konnte, um ihn niederzustrecken. Duff trat zwei Schritte zurück und hob die Schrotflinte auf Schulterhöhe.

In diesem Augenblick wurde hinter Macbeth die Tür aufgerissen.

Eine Silhouette im Türeingang. Ein Arm in grauem Mantel schoss heraus, griff nach den Handschellen in Macbeths Rücken und zog. Mit solcher Gewalt, dass Macbeth den Boden unter den Füßen verlor, während er durch die Tür in der Dunkelheit dahinter verschwand.

Duff feuerte ab.

Die Explosion traf sein Trommelfell und hallte zwischen den Wänden der Gasse wider.

Halb taub trat Duff über die Türschwelle in die Dunkelheit.

Etwas wirbelte durch die Luft. Er atmete es ein und spuckte es wieder aus. Vor ihm schienen sich mehrere Leute aufgereiht zu haben. Der Geruch von Perchloräthylen war überwältigend. Seine freie Hand fand einen Lichtschalter an der Wand neben der Tür. Die Leute vor ihm waren Ständer mit Jacketts und Mänteln, die allesamt in Plastiküberzügen steckten, jeweils etikettiert mit Name und Datum. Vor ihm wies ein Pelzmantel samt Überzug ein Loch auf, und Duff merkte erst jetzt, dass er Tierhaare ausgespuckt hatte. Er stand da und lauschte, hörte aber nur das Brummen einer Trockenreinigunsgmaschine an der Wand. Dann ein Klingeln, wie von einer Glocke über einer Ladentür. Er warf sich gegen die Wand aus Kleidungsstücken, kämpfte sich an einem Kleiderständer nach dem anderen vorbei, durch eine Tür und fand sich hinter einem Tresen wieder, wo ihn ein chinesisches Paar völlig verängstigt anstarrte. Er rannte an ihnen vorbei auf die Straße. Schaute nach links und rechts. Das Gedränge des Samstagabends hatte begonnen. Ein Mann stieß gegen ihn, und für einen Augenblick verlor Duff das Gleichgewicht. Er fluchte, während der Mann sich entschuldigte und weiter den Gehsteig hinuntereilte.

Er hörte Gelächter hinter sich. Drehte sich um und sah einen dreckigen, verlumpten Typen mit einigen wenigen Zähnen im offenen Mund.

»Sind wohl beraubt worden, Mister, was?«

»Ja«, sagte Duff und senkte die Schrotflinte. »Ich bin beraubt worden.«

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