11

Banquo saß im schwachen Licht des Kellers und hörte, wie Fleance über ihm auf und ab stampfte. Der Junge wollte hinaus. Freunde treffen. Vielleicht ein Mädchen. Es wäre gut für ihn.

Banquo ließ die Kette zwischen seinen Fingern hindurchgleiten.

Er hatte Macbeth die Zusage gegeben. Warum? Warum war es ihm so leichtgefallen, diese Grenze zu überschreiten? Lag es an Macbeths Versprechen, dass er ein Kämpfer aus dem Volk, mit dem Volk und für das Volk sein würde – auf eine Art, wie es ein Vertreter der Oberschicht wie Malcolm niemals sein könnte? Nein. Es lag daran, dass man einfach nicht Nein sagen konnte, wenn es um den eigenen Sohn ging. Und noch weniger, wenn es um zwei ging.

Macbeth behauptete, sie folgten dem Ruf des Schicksals, wenn sie den Weg zum Büro des Chief Commissioners freiräumten. Er hatte nicht erwähnt, dass eigentlich Lady der Kopf war, der dahintersteckte. Das war auch nicht nötig. Macbeth bevorzugte einfache Pläne. Pläne, die nicht zu viel Nachdenken in kritischen Situationen erforderten. Banquo schloss die Augen. Versuchte, es sich vorzustellen. Wie Macbeth als Chief Commissioner das Ruder übernahm und mit uneingeschränkter Macht die Stadt beherrschte, genauso wie Kenneth, aber mit der ehrlichen Absicht, sie zu einem besseren Ort für all ihre Bürger zu machen. Wenn man die weitreichenden Reformen durchsetzen wollte, die dafür nötig waren, konnte man keine Rücksicht auf demokratische Prozesse nehmen: Sie dauerten zu lange und ließen die Einfältigkeit ins Kraut schießen. Eine starke, gerechte Hand. Und im Alter würde Macbeth das Ruder an Fleance abgeben. Bis dahin würde Banquo glücklich an Altersschwäche gestorben sein. Vielleicht konnte er es sich deshalb nicht vorstellen.

Banquo hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde.

Aber es musste so kommen, auch wenn Zukunftsaussichten dieser Art Zeit brauchten, um vollkommen klar zu werden.

Er zog seine Handschuhe an.


Es war halb sechs. Der Regen hämmerte auf die Pflastersteine und die Windschutzscheibe von Malcolms Chevelle 454 SS hinunter, als er sich seinen Weg durch die Straßen bahnte. Er war sich bewusst, wie dumm es gewesen war, mitten in einer Ölkrise einen derartigen Spritschlucker zu kaufen. Immerhin hatte er ihn gebraucht erstanden und, wie er fand, zu einem vernünftigen Preis, aber es blieb immer noch das Argument der ökologischen Verantwortung, bei dem er klein beigeben musste. Zuallererst bei seiner umweltbewussten Tochter, dann bei Duncan, der ihm noch einmal vorgehalten hatte, dass Führungskräfte eine gewisse Bescheidenheit an den Tag legen sollten. Am Ende hatte Malcolm schlicht zu seinen Gefühlen gestanden: Seit seiner Kindheit hatte er diesen völlig übertriebenen amerikanischen Wagen geliebt. Duncan hatte erwidert, es zeige zumindest, dass auch Ökonomen menschliche Wesen seien.

Er war nur schnell bei sich zu Hause vorbeigefahren, um zu duschen und sich umzuziehen, was zum Glück nicht viel Zeit gekostet hatte, schließlich war Sonntag, und auf den Straßen herrschte nur wenig Verkehr. Am Eingang zum Hauptquartier erwartete ihn bereits ein großer Presseauflauf, vermutlich in der Hoffnung auf einen Kommentar oder ein Foto, und zwar ein besseres, als sie es bei der Pressekonferenz um halb sieben würden aufnehmen können. Bürgermeister Tourtell hatte im Fernsehen bereits ein Statement abgegeben: »Unbegreiflich«, »eine Tragödie«, »unsere Gedanken sind bei der Familie« und »die Stadt muss sich vereint gegen das Verbrechen stellen«. Diese und viele andere große Worte hatte er verloren. Malcolms im Vergleich dazu minimaler Kommentar bestand bloß darin, die Presse um Verständnis zu bitten. Sein Fokus liege in diesem Augenblick auf den Ermittlungen, daher verwies er sie auf die Pressekonferenz.

Malcolm fuhr die Rampe in die Tiefgarage hinab, nickte dem Parkwächter zu, der die Schranke öffnete, und schlug das Lenkrad ein. Wie weit der eigene Parkplatz vom Fahrstuhl entfernt war, entsprach der Position, die man in der Hierarchie einnahm. Als Malcolm seinen Wagen abstellte, wurde ihm schlagartig klar, dass er rein formell berechtigt gewesen wäre, auf dem vordersten Platz zu parken.

Er wollte gerade den Zündschlüssel abziehen, als sich die Tür auf der Beifahrerseite öffnete, jemand auf den Rücksitz huschte und bis hinter den Fahrersitz durchrutschte. Zum ersten Mal seit dem Mord an Duncan ließ Malcolm einen Gedanken zu: Der Job des Chief Commissioners brachte einem nicht nur einen Parkplatz, der näher am Fahrstuhl lag, sondern auch eine Todesdrohung, die immer und überall galt. Sicherheit war ein Privileg derer, die weiter weg parkten.

»Starten Sie den Wagen«, sagte die Person auf dem Rücksitz.

Malcolm schaute in den Rückspiegel. Die Gestalt hatte sich so rasch und so lautlos bewegt, dass er nur eins schlussfolgern konnte: Das SWAT-Training zahlte sich aus. »Gibt es irgendwelche Probleme, Banquo?«

»Ja, Sir. Wir haben Pläne aufgedeckt, dass ein Anschlag auf Ihr Leben geplant ist.«

»Hier im Polizeihauptquartier?«

»Ja. Fahren Sie bitte langsam. Wir müssen hier weg. Wir wissen noch nicht, wer von der Mannschaft involviert ist, aber wir gehen davon aus, dass es dieselben Leute sind, die Duncan umgebracht haben.«

Malcolm wusste, dass er Angst haben sollte. Und die hatte er auch. Aber sie war nicht so stark, wie er angenommen hätte. Oft lösten triviale Situationen – zum Beispiel wenn er auf einer Leiter stand und mit wütenden Wespen zu kämpfen hatte – geradezu erbärmliche, panikartige Reaktionen bei ihm aus. Aber jetzt, genau wie heute Morgen, schien es, als würde die Situation solch eine Form von Angst nicht erlauben; ganz im Gegenteil schärfte sie seine Fähigkeit, schnell und rational zu denken, und stärkte seine Entschlossenheit. Paradoxerweise beruhigte sie ihn sogar.

»Wenn das so ist, woher weiß ich dann, dass Sie nicht einer von ihnen sind, Banquo?«

»Wenn ich Sie umbringen wollte, wären Sie längst tot, Sir.«

Malcolm nickte. Etwas an Banquos Ton sagte ihm, dass der körperlich kleinere und weitaus ältere Mann es vermutlich mit bloßen Händen geschafft hätte, wenn er darauf aus gewesen wäre.

»Wo fahren wir hin?«

»Zum Containerhafen, Sir.«

»Warum nicht nach Hause zu …«

»Sie wollen nicht, dass Ihre Familie in diesen Schlamassel mit hineingezogen wird, Sir. Ich erkläre es Ihnen, wenn wir da sind. Fahren Sie. Ich mache mich klein hier hinten. Am besten, keiner sieht mich, dann bekommt auch niemand mit, dass Sie Bescheid wissen.«

Malcolm fuhr hinaus, empfing ein Nicken des Wächters, die Schranke hob sich, und schon war er zurück im Regen.

»Ich habe ein Meeting in …«

»Darum kümmert sich jemand.«

»Und die Pressekonferenz?«

»Darum auch. Sie sollten jetzt an sich denken. Und an Ihre Tochter.«

»Julia?« Jetzt konnte Malcolm sie doch noch spüren. Die Panik.

»Man wird sich um sie kümmern, Sir. Fahren Sie jetzt einfach. Wir sind bald da.«

»Was werden wir tun?«

»Was getan werden muss.«

Fünf Minuten später fuhren sie durch die Tore des Containerhafens. Seit einigen Jahren standen sie immer offen, da alle Versuche, die Obdachlosen und die Diebe fernzuhalten, nur eingetretene Fenster und aufgebrochene Schlösser zur Folge gehabt hatten. Es war Sonntag, also lag der Kai verlassen da.

»Parken Sie hinter dem Schuppen da«, sagte Banquo.

Malcolm folgte der Anweisung und stellte den Wagen neben einer Volvo-Limousine ab.

»Unterschreiben Sie das«, sagte Banquo und reichte ihm ein Blatt Papier samt Stift zwischen den Vordersitzen hindurch.

»Was ist das?«, fragte Malcolm.

»Ein paar Zeilen, die auf Ihrer Schreibmaschine geschrieben wurden«, sagte Banquo. »Lesen Sie vor.«

»Die Norse Riders haben gedroht, meine Tochter Julia zu töten …« Malcolm hielt inne.

»Weiter«, sagte Banquo.

Malcolm räusperte sich. »… wenn ich ihnen nicht helfen würde, den Chief Commissioner umzubringen. Aber jetzt haben sie mich in der Hand und wollen, dass ich auch noch weitere Dienste für sie übernehme. Ich weiß, solange ich lebe, wird meine Tochter in Gefahr sein. Deshalb – und weil ich mich für meine Tat schäme – habe ich mich dazu entschlossen, mich zu ertränken.«

»So ist es«, sagte Banquo. »Nur Ihre Unterschrift auf diesem Brief kann Ihre Tochter retten.«

Malcolm drehte sich zu Banquo auf dem Rücksitz um. Starrte in den Lauf der Waffe, die er in seiner behandschuhten Hand hielt.

»Es gibt gar keine Anschlagspläne auf mein Leben. Sie haben gelogen.«

»Ja und nein«, sagte Banquo.

»Sie haben mich hierhergelockt, damit Sie mich umbringen und in den Kanal werfen können.«

»Sie werden sich selbst ertränken, genau wie es in dem Brief steht.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Die Alternative wäre, dass ich Ihnen jetzt in den Kopf schieße und zu Ihnen nach Hause fahre. Dann sieht der Selbstmordbrief so aus.« Banquo reichte ihm einen weiteren Zettel. »Nur das Ende ist anders.«

»Solange meine Tochter und ich am Leben sind, wird die Gefahr niemals aufhören. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, unserem Leben ein Ende zu setzen und ihr die Schande meiner Tat und ein Dasein in endloser Angst zu ersparen.« Malcolm blinzelte. Er verstand die Worte, sie ergaben einen Sinn, trotzdem musste er den Brief ein weiteres Mal lesen.

»Unterschreiben Sie jetzt, Malcolm.« Banquos Stimme klang beinahe tröstlich.

Malcolm schloss die Augen. Es war so still im Wagen, dass er das Knacken der Abzugsfedern in Banquos Waffe hören konnte. Dann öffnete er die Augen, nahm den Stift und setzte seine Unterschrift unter den ersten Brief. Metall klapperte auf dem Rücksitz. »Hier«, sagte Banquo. »Legen Sie sich die unter Ihrem Mantel um die Hüfte.«

Malcolm musterte die Reifenkette, die Banquo ihm reichte. Ein Gewicht.

Er nahm sie und band sie sich um die Hüfte, während sein Gehirn nach einem Ausweg suchte.

»Zeigen Sie mal«, sagte Banquo und zurrte die Ketten fester. Dann brachte er ein Vorhängeschloss daran an und ließ es einschnappen. Legte den unterschriebenen Brief auf den Beifahrersitz neben einen Schlüssel, von dem Malcolm annahm, dass er zum Vorhängeschloss gehörte.

»Kommen Sie.« Sie stiegen aus in den Regen. Mit seiner Waffe trieb Banquo Malcolm vor sich her am Rand des Kais entlang. Auf beiden Seiten des engen Kanals standen Wände aus Containern. Selbst wenn Leute auf dem Hauptkai unterwegs gewesen wären, hätten sie sie hier nicht sehen können.

»Halt«, sagte Banquo.

Malcolm starrte über die schwarze, glatte See, auf die der Regen einpeitschte wie ein Dompteur. Senkte den Blick und schaute auf das ölbedeckte, grünlich-schwarze Wasser hinunter, drehte sich dann um und richtete seinen Blick fest auf Banquo.

Banquo hob die Waffe. »Springen Sie, Sir.«

»Sie sehen nicht aus wie jemand, der einen Mord begehen will, Banquo.«

»Bei allem Respekt, Sir, ich glaube nicht, dass Sie wissen, wie solche Leute aussehen.«

»Stimmt wohl. Aber ich habe eine ziemlich gute Menschenkenntnis.«

»Die hat Sie jetzt im Stich gelassen.«

Malcom streckte seine Arme aus. »Dann stoßen Sie mich.«

Banquo befeuchtete die Lippen. Verstärkte den Griff um die Waffe.

»Na, Banquo? Zeigen Sie mir den Killer, den Sie in sich haben.«

»Für einen Anzugträger sind Sie ziemlich abgebrüht, Sir.«

Malcolm senkte die Arme. »Das liegt daran, dass ich mich mit Verlust auskenne, Banquo. Genau wie Sie. Ich weiß, dass wir die meisten Verluste verkraften. Aber es gibt welche, bei denen es unmöglich ist, die unsere Existenz stärker bedrohen als unser eigener Tod. Ich weiß, dass Ihre Frau der Krankheit zum Opfer gefallen ist, die diese Stadt ihren Einwohnern gegeben hat.«

»Ach ja? Woher wollen Sie das wissen?«

»Duncan hat es mir erzählt. Und zwar weil ich meine erste Frau an dieselbe Krankheit verloren habe. Und wir haben darüber gesprochen, wie wir dafür sorgen können, dass so etwas in dieser Stadt nicht mehr passiert, dass selbst die mächtigsten Industriebosse sich vor Gericht verantworten müssen, wenn sie das Gesetz brechen, dass Mord Mord bleibt, ob er mit einer Waffe verübt wird oder durch das langsame Vergasen der Stadtbevölkerung, bei dem die Augen der Leute gelb werden und sie schon lebendig riechen wie eine Leiche.«

»Dann haben Sie also bereits das verloren, was man nicht verlieren darf.«

»Nein. Man kann seine Frau verlieren, und trotzdem hat das eigene Leben noch einen Sinn. Weil man ein Kind hat. Eine Tochter. Einen Sohn. Es sind unsere Kinder, die wir nicht verlieren dürfen, Banquo. Wenn ich Julia jetzt damit rette, dass ich sterbe, dann muss es eben so sein, dann ist es das wert. Außerdem werden andere nach mir und Duncan kommen. Sie glauben es mir vielleicht nicht, aber die Welt ist voller Menschen, die Gutes wollen, Banquo.«

»Und wer entscheidet, was gut ist? Sie und die anderen Bosse?«

»Fragen Sie Ihr Herz, Banquo. Ihr Verstand wird Sie täuschen. Fragen Sie Ihr Herz.«

Malcolm sah, wie Banquo sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Malcolms Mund und seine Kehle waren trocken, er war bereits heiser. »Sie können uns mit so vielen Ketten behängen, wie Sie wollen, Banquo, es wird nichts nützen, weil wir sowieso wieder an die Oberfläche treiben werden. Was gut ist, steigt auf. Ich schwöre, ich werde irgendwo wieder auftauchen und Ihre Verbrechen ans Licht bringen.«

»Es sind nicht meine, Malcolm.«

»Hecates. Ihre. Sie sitzen im selben Boot. Und wir wissen, über welchen Fluss dieses Boot fahren wird und wo Sie bald enden werden.«

Banquo nickte langsam. »Hecate«, sagte er. »Genau.«

»Was?«

Banquo schien einen Punkt auf Malcolms Stirn anzustarren. »Sie haben recht, Sir. Ich arbeite für Hecate.« Malcolm versuchte, aus Banquos schwachem Lächeln schlau zu werden. Regen rann ihm übers Gesicht, und für Malcolm sah es fast aus, als würde er weinen. Zögerte er? Malcolm wusste, dass er weitersprechen, Banquo zum Reden bringen musste, denn jedes Wort, jede Sekunde verlängerte sein Leben. Vergrößerte die verschwindend geringe Chance, dass Banquo es sich doch noch anders überlegte oder jemand auftauchte.

»Warum soll ich ertrinken, Banquo?«

»Was?«

»Mich im Wagen zu erschießen und es wie Selbstmord aussehen zu lassen, wäre doch viel leichter.«

Banquo zuckte mit den Schultern. »Es gibt viele Wege, einer Katze das Fell abzuziehen. Der Tatort ist unter Wasser. Keine Spuren, falls jemand Mord vermutet. Und Ertrinken ist viel angenehmer. Als würde man einschlafen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich weiß es. Ich wäre in meiner Jugend zweimal beinahe ertrunken.«

Der Lauf von Banquos Waffe hatte sich unmerklich gesenkt. Malcolm schätzte die Entfernung zwischen ihnen ein.

Er schluckte. »Warum wären Sie beinahe ertrunken?«

»Weil ich auf der Ostseite der Stadt aufgewachsen bin und nie schwimmen gelernt habe. Ist es nicht komisch, dass es hier, in einer Stadt am Meer, immer noch Leute gibt, die ertrinken, wenn sie ins Wasser fallen? Also habe ich versucht, es meinem Sohn beizubringen. Das Verrückte ist, er hat es auch nicht gelernt. Vielleicht weil sein Lehrer ein Nichtschwimmer war. Wenn wir untergehen, gehen unsere Kinder auch unter, so wird unser Schicksal an die nächste Generation weitergegeben. Aber Leute wie Sie können natürlich schwimmen, Malcolm.«

»Daher die Ketten, nehme ich an.«

»Ja.« Der Lauf der Waffe hob sich wieder. Das Zögern war verschwunden, die Entschlossenheit in Banquos Augen zurückgekehrt. Malcolm atmete tief ein. Die Chance war da gewesen, nun war sie fort.

»Ob sie gute Menschen sind oder nicht«, sagte Banquo, »Leute wie Sie haben die Fähigkeit, sich über Wasser zu halten, die uns fehlt. Also muss ich sichergehen, dass Sie unten bleiben und nie wieder an der Oberfläche auftauchen. Wenn doch, habe ich meine Aufgabe nicht erfüllt. Verstehen Sie?«

»Verstehen?«

»Geben Sie mir Ihr Polizeiabzeichen.«

Malcolm nahm das Messingabzeichen aus seiner Jackentasche und reichte es Banquo, der es augenblicklich von sich schleuderte. Es flog über die Kante, traf aufs Wasser und versank. »Messing. Es glänzt, wird aber sofort auf den Grund sinken. Erdanziehung nennt man das, Sir, sie zieht alles mit sich hinab in den Dreck. Sie müssen verschwinden, Malcolm. Verschwinden Sie für immer.«


Im Konferenzraum schaute Macbeth auf seine Uhr. Neunundzwanzig Minuten nach sechs. Wieder öffnete sich die Tür, und eine Frau steckte ihren Kopf herein. Macbeth erkannte sie, es war Lennox’ Assistentin. Es sei immer noch nicht möglich, Malcolm zu erreichen, sagte sie. Bisher wusste man nur, dass er im Hauptquartier angekommen war, dann aber in der Tiefgarage gewendet hatte und wieder weggefahren war. Und niemand, nicht einmal seine Tochter Julia, hatte eine Ahnung, wo er steckte.

»Danke, Priscilla«, sagte Lennox und wandte sich den anderen zu. »Dann, denke ich, sollten wir dieses Meeting damit beginnen, dass …«

Macbeth wusste, dass dies der Augenblick war, von dem Lady gesprochen hatte. Der Augenblick des Machtvakuums, in dem derjenige, der die Initiative ergriff, als neuer Anführer identifiziert werden würde. Deshalb unterbrach er Lennox mit deutlich vernehmbarer Stimme.

»Entschuldigen Sie, Lennox.« Macbeth wandte sich der Tür zu. »Priscilla, würden Sie einen Suchbefehl nach Malcolm und seinem Wagen rausgeben? Verständigen Sie vorläufig nur die Streifenwagen über Funk, aber formulieren Sie es bitte so undramatisch wie möglich. Das Hauptquartier möchte so schnell wie möglich mit ihm Kontakt aufnehmen. So was in der Art, vielen Dank.« Er schaute die Kollegen an. »Tut mir leid, dass ich Ihre Assistentin behelligen muss, Lennox, aber ich denke, Sie alle teilen meine Sorge. Okay, lassen Sie uns mit dem Meeting beginnen. Hat jemand etwas dagegen, dass ich den Vorsitz übernehme, bis Malcolm eintrifft?«

Er ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern. Caithness. Lennox. Duff. Sah, wie sie nachdachten, bevor ihnen klar wurde, was Lennox nach einem Räuspern etwas steif zum Ausdruck brachte: »Sie sind der Ranghöchste, Macbeth. Nur zu.«

»Vielen Dank, Lennox. Würde es Ihnen übrigens was ausmachen, das Fenster hinter sich zu schließen? Also, fangen wir mit den Leibwächtern an. Hat die Antikorruptionseinheit irgendwas rausgefunden?«

»Noch nicht«, sagte Lennox, während er versuchte, den Fensterriegel zum Einrasten zu bringen. »Nichts deutet auf irgendwelche Unregelmäßigkeiten oder auf etwas Verdächtiges hin. Ich würde sogar sagen, dass einzig Verdächtige ist das Fehlen von Unregelmäßigkeiten.«

»Nichts Verdächtiges, keine Verbindungen, keine unerwarteten Käufe von Luxusgütern oder auffällige Kontobewegungen?«

Lennox schüttelte den Kopf. »Sie scheinen so sauber zu sein wie strahlende Ritter.«

»Meine Vermutung ist, sie waren sauber«, sagte Duff. »Aber selbst die strahlendsten Ritter kann man zu Fall bringen und korrumpieren, wenn man den Schwachpunkt in ihrer Rüstung findet. Und den hat Hecate gefunden.«

»Dann können wir das auch«, entgegnete Macbeth. »Suchen Sie weiter, Lennox.«

»Das tun wir.« Das nicht ausgesprochene respektvolle »Sir« am Ende des Satzes hallte so laut nach, dass alle es hören konnten.

»Du hast erwähnt, dass du mit den Undercoverleuten aus deiner alten Abteilung gesprochen hast, Duff?«

»Sie sagen, der Mord sei für alle, die auf der Straße arbeiten, der reinste Schock gewesen. Keiner wusste irgendwas. Aber alle sind überzeugt, dass Hecate dahinterstecken muss. Ein junger Typ unten am Hauptbahnhof hat erwähnt, dass angeblich ein Polizeibeamter da war und Stoff haben wollte – ich weiß nicht, ob das einer unserer verdeckten Ermittler war, aber es war eindeutig keiner von den Leibwächtern. Wir suchen weiter nach Hinweisen, die uns zu Hecates Aufenthaltsort führen könnten. Aber das ist – wie wir wissen – mindestens genauso schwierig, wie Sweno zu finden.«

»Danke, Duff. Spurensicherung. Caithness?«

»Erwartungsgemäße Ergebnisse«, sagte sie und schaute auf die Notizen vor sich. »Wir haben im Zimmer des Verstorbenen verschiedene Fingerabdrücke gefunden, und sie stimmen überein mit denen der drei Zimmermädchen, der Leibwächter und derjenigen, die später im Raum waren – Lady, Macbeth und Duff. Sowie zwei Abdrücke, die wir erst einmal nicht identifizieren konnten. Inzwischen haben wir sie aber den beiden vorherigen Gästen des Zimmers zugeordnet. Wenn ich also von erwartungsgemäßen Ergebnissen spreche, stimmt das nicht ganz, für gewöhnlich sind Hotelzimmer voller unidentifizierbarer Fingerabdrücke.«

»Die Besitzerin des Inverness nimmt es mit der Reinigung sehr genau«, sagte Macbeth trocken.

»Die Pathologie bestätigt, dass der Tod auf die zwei Stichwunden zurückzuführen ist. Die Wunden passen zu den beiden Dolchen, die wir gefunden haben. Man hat sie zwar an den Laken und der Kleidung der Leibwächter abgewischt, es war aber noch mehr als genug Blut an den Klingen und Griffen, um sicher zu sagen, dass es von dem Verstorbenen stammt.«

»Können wir Duncan sagen?«, fragte Macbeth. »Anstatt ›der Verstorbene‹?«

»Wie Sie wollen. Einer der Dolche ist blutiger als der andere, da mit ihm die Hauptschlagader des Ver… da mit ihm Duncans Hauptschlagader getroffen wurde. Daher der große Blutfleck auf der Bettdecke, den Sie auf diesem Foto sehen können.« Caithness schob ein Schwarz-Weiß-Foto in die Mitte des Tisches, das die anderen pflichtschuldig betrachteten. »Der vollständige Autopsiebericht wird morgen Vormittag vorliegen. Dann können wir mehr sagen.«

»Mehr worüber?«, fragte Duff. »Darüber, was er zum Abendessen gegessen hat? Wissen wir doch, wir haben ja alle dasselbe gegessen. Oder welche Krankheiten er hatte, an denen er nicht gestorben ist? Wenn wir schnell vorankommen wollen, ist es entscheidend, dass wir uns jetzt auf die wichtigen Informationen konzentrieren.«

»Eine Autopsie«, sagte Caithness, und Macbeth bemerkte das leichte Zittern in ihrer Stimme, »kann den angenommenen Tathergang bestätigen oder infrage stellen. Und das würde ich durchaus als wichtig bezeichnen.«

»Das ist es auch, Caithness«, sagte Macbeth. »Sonst noch was?«

Sie zeigte noch einige weitere Fotos, sprach über andere medizinische und technische Details, aber nichts davon widersprach dem allgemeinen Konsens: dass die beiden Leibwächter Duncan getötet hatten. Ebenso herrschte Einigkeit darüber, dass bei den Wächtern kein persönliches Motiv zu finden war, also andere Kräfte hinter dem Mord stecken mussten. Die darauf folgende Diskussion, ob jemand anderer als Hecate dafür infrage kam, fiel kurz und wenig produktiv aus.

Macbeth schlug vor, die Pressekonferenz auf zehn Uhr zu verschieben, solange Malcolm noch nicht gefunden und auf den neuesten Stand gebracht worden war. Lennox wies darauf hin, dass neun für die Presse eine bessere Zeit sei, da sie sonntags eine frühe Deadline hatten.

»Vielen Dank, Lennox«, sagte Macbeth. »Aber für uns ist unser eigener Zeitplan entscheidend und nicht die Verkaufszahlen der morgigen Ausgabe.«

»Ich halte das für dumm«, wandte Lennox ein. »Wir sind das neue Leitungsteam, und es ist unklug, es sich schon bei der erstbesten Gelegenheit mit der Presse zu verscherzen.«

»Ihre Meinung ist vermerkt worden«, sagte Macbeth. »Wenn Malcolm nicht auftaucht und etwas Gegenteiliges anordnet, treffen wir uns hier um neun wieder und gehen durch, was bei der Pressekonferenz gesagt werden muss.«

»Und wer hält die Pressekonferenz ab?«, fragte Duff.

Bevor Macbeth Gelegenheit zur Antwort bekam, öffnete sich die Tür. Es war Priscilla, Lennox’ Assistentin.

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, sagte sie. »Eine Streife meldet, dass Malcolms Wagen am Containerhafen steht. Er ist leer, und von Malcolm selbst fehlt jede Spur.«

Macbeth kostete die Stille im Raum aus. Genoss das Wissen, das er ihnen voraushatte. Und die Macht, die es ihm verlieh.

»Wo am Containerhafen?«, fragte er.

»Am Kai bei einem der Kanäle.«

Macbeth nickte langsam. »Schicken Sie Taucher.«

»Taucher?«, fragte Lennox. »Ist das nicht ein bisschen voreilig?«

»Ich glaube, Macbeth hat recht«, unterbrach Priscilla, und die anderen wandten sich ihr verblüfft zu. Sie schluckte. »Sie haben auf dem Beifahrersitz ein Schreiben gefunden.«

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