15

Lady stieg die letzten Stufen der Metallstiege bis zur Tür hinauf, die aufs Flachdach des Inverness führte. Sie öffnete sie und starrte in die Dunkelheit. Außer dem flüsternden Murmeln des Regens war nichts zu hören. Es war, als ob alles und jeder seine Geheimnisse hüten müsse. Sie wollte sich schon umdrehen und wieder hinuntergehen, als ein einzelner Blitz das Dach erhellte und sie ihn sah. Er stand an der Kante des Daches und blickte auf die Thrift Street hinab, die hinter dem Casino entlangführte. Bevor sie den Stadtrat dazu hatte überreden können, hinter ihrem Haus aufzuräumen, hatten die Prostituierten dort auf der schwach beleuchteten Straße gestanden. Nicht nur hatten sie sich selbst angeboten, sondern ihre Dienste auch gleich an Ort und Stelle verrichtet, in den Torbögen, auf Motorhauben oder an die Wände gedrückt. Das National Railway Network hatte seinerzeit sämtliche Fenster zur Thrift Street zumauern lassen, angeblich damit die Angestellten sich auf die Arbeit konzentrierten und nicht auf den Schmutz dort draußen.

Sie öffnete ihren Regenschirm und ging zu Macbeth hinüber.

»Stehst hier draußen und lässt dich nassregnen, Schatz? Ich hab dich gesucht. Unsere Gäste werden gleich kommen.« Sie schaute an der glatten, schwarzen, fensterlosen Wand hinab, die, einer Festungsmauer gleich, zur Thrift Street führte. Sie kannte jeden Meter dieser Straße. Und das war Grund genug, die Fenster zugemauert zu lassen.

»Was siehst du denn da unten?«

»Einen Abgrund«, sagte er. »Angst.«

»Sei nicht so bedrückt.«

»Nein?«

»Was sollten all unsere Siege bringen, wenn sie uns kein Lächeln auf die Lippen zaubern würden?«

»Wir haben nur einige Schlachten gewonnen. Der Krieg hat kaum begonnen. Und doch werde ich schon von dieser Angst zerfressen. Gott weiß, woher sie kommt. Da nehme ich es lieber mit einer bewaffneten Biker-Gang auf als mit dieser Schlange, nach der wir geschlagen, die wir aber nicht getötet haben.«

»Hör auf, Liebster. Niemand kann uns jetzt noch etwas anhaben.«

»Duncan. Ich kann ihn da unten sehen. Und ich beneide ihn. Er ist tot – ich habe ihm Frieden geschenkt – und was bekomme ich von ihm? Nur Angst und diese Albträume.«

»Es ist Brew, oder? Brew verursacht die Albträume.«

»Schatz …«

»Weißt du noch, was du über Collum gesagt hast? Du hast gesagt, Brew würde die Leute wahnsinnig machen. Du musst aufhören, es zu nehmen, sonst verlierst du alles, was wir gewonnen haben! Hörst du mich? Kein weiteres Körnchen Brew!«

»Aber die Albträume sind kein Produkt meiner Einbildung. Der Sergeant hat mich angerufen. Die Sache ist abgemacht. Oder hast du etwa die schwere Tat schon vergessen, die wir für heute Abend geplant haben? Hast du den Gedanken daran verdrängt, dass der einzige Vater und Freund, den ich je hatte, abgeschlachtet werden wird?«

»Ich weiß nicht, wovon du redest, und du weißt es auch nicht. Wenn getan ist, was getan werden musste, gibt es keinen Grund mehr, sich den Kopf zu zerbrechen. Und Brew wird dir weder Trost spenden noch Mut machen. Jetzt wird deine Seele ihre Belohnung erhalten. Also kein Brew mehr! Bind dir eine Krawatte um, Liebster. Und setz ein Lächeln auf.« Sie nahm seine Hand. »Komm schon, wir verdrehen mit unserem Charme jetzt allen den Kopf.«


Caithness saß mit einem Glas Rotwein in der Hand in einem Armsessel. Sie lauschte dem Regen, der gegen das Dachfenster prasselte, und Kites Stimme aus dem Radio. Er sprach davon, dass der Interims-Chief-Commissioner in der Praxis mehr Macht hatte als ein demokratisch gewählter Bürgermeister, ein Problem, das nur entstehen konnte, weil Kenneth damals die Gesetze und Verordnungen der Stadt derartig umgekrempelt hatte. Ihr gefiel die Art, wie er seine Rs rollte, und seine ruhige Stimme. Ihr gefiel, dass er keine Angst hatte, mit seinem Wissen und seiner Intelligenz zu glänzen. Am meisten aber gefiel ihr, dass er immer gegen irgendjemanden zu Felde zog. Gegen Kenneth, gegen Tourtell, ja sogar gegen Duncan, der selbst gegen so vieles gekämpft hatte. Es musste einen ziemlich einsam machen. Und wer war schon gern freiwillig einsam, wenn er es sich aussuchen konnte?

Sie hatte sich bereits gefragt, ob sie einen anonymen Brief an seinen Sender schicken und ihm schreiben sollte, wie beruhigend es war, dass es immer noch Menschen mit Prinzipien gab, jemanden, der den Job eines einsamen, furchtlosen Wachhundes übernahm. Apropos. Hatte sie nicht eben schon zum zweiten Mal dieses Geräusch an der Wohnungstür gehört? Sie stellte das Radio leiser. Lauschte. Da war es wieder. Sie schlich zur Tür hinüber und legte ihr Ohr dagegen. Ein vertrautes Quietschen. Sie öffnete die Tür.

»Duff. Was treibst du da?«

»Ich … ähm … stehe hier. Und denke nach.« Er hatte die Hände tief in seinen Jackentaschen vergraben und schaukelte in seinen viel zu großen Schuhen mit den quietschenden Sohlen vor und zurück.

»Warum hast du nicht geklingelt?«

»Habe ich«, sagte Duff. »Ich … offenbar funktioniert die Klingel nicht.«

Sie öffnete die Tür weiter, aber er schien immer noch mit den Gedanken woanders zu sein.

»Warum bist du so niedergeschlagen, Duff?«

»Bin ich niedergeschlagen?«

»Tut mir leid. Ich weiß, es gibt im Augenblick wenig Grund, fröhlich zu sein, aber kommst du, oder gehst du?«

Seine Blicke huschten herum. »Kann ich bis Mitternacht hierbleiben?«

»Natürlich, komm doch rein. Mir ist kalt.«


Der Sergeant ließ die Hände auf der Lenkstange seiner Honda CB 450 »Black Bomber« ruhen. Es war noch keine fünf Jahre her, dass er sie gekauft hatte, und an guten Tagen konnte er einiges aus ihr rausholen. Andererseits kam sie ihm jetzt, da das Honda CB 750 Superbike auf dem Markt war, etwas veraltet vor. Er schaute auf seine Uhr. Sechzehn Minuten vor sieben. Der Berufsverkehr war inzwischen abgeebbt und eine frühe Dunkelheit hereingebrochen. Von seinem Platz neben der Fahrbahn konnte er jeden einzelnen Wagen sehen, der sich der Gallows-Hill-Kreuzung näherte. Sweno hatte ihnen aus dem Club unten im Süden Verstärkung zukommen lassen: Drei Mitglieder, Cousins, wie sie sie nannten, hatten sich auf ihre Maschinen geschwungen und waren in weniger als drei Stunden in der Stadt eingetroffen. Sie alle saßen startbereit auf ihren Motorrädern neben den Zapfsäulen einer Tankstelle, an der der betreffende Wagen vorbeikommen sollte. Sie behielten die Modelle und Nummernschilder im Auge. Die Straße hinunter, auf der anderen Seite der Kreuzung, konnte er Colin sehen, der auf Steigeisen den Mast hinaufgeklettert war, an dem der Schaltkasten hing. Die einzig amüsante Ablenkung hatten sie bei ihrem Probelauf gehabt, als Colin einen Schraubenzieher hineingesteckt und umgedreht hatte. Bremsen hatten aufgekreischt, als die Ampeln aus heiterem Himmel von Grün auf Rot umschalteten. Und Sekunden später, als es wieder grün geworden war, hatten die Fahrer nur sehr zögerlich Gas gegeben. Die Wagen waren über die Kreuzung geschlichen, während der Sergeant seine Scheinwerfer hatte aufleuchten lassen, um Colin zu signalisieren, dass alles wie geplant verlaufen war.

Der Sergeant schaute wieder auf die Uhr. Viertel vor sieben.

Sweno hatte ein wenig Zeit gebraucht, um seine Entscheidung zu treffen, aber eher aus Gründen der Vorsicht und weniger, weil er Zweifel hatte, vermutete der Sergeant. Was sich bestätigt hatte, als die drei Cousins aus dem Süden vor dem Clubtor vorgefahren waren, ein Harley-Davidson Chopper mit hoher Lenkstange, eine Harley FL 1200 Electra Glide und eine Russian Ural mit Sozius und angebautem Maschinengewehr. Der Typ auf der Electra Glide hatte ein Schwert bei sich. Es war kein gebogener Säbel, wie Sweno ihn trug, seine Aufgabe würde es aber zweifellos erfüllen.

Vierzehn Minuten vor sieben.


»Fleance …«

Etwas in der Stimme seines Vaters veranlasste Fleance, ihn anzuschauen. Sein Vater war immer ruhig, aber wenn irgendetwas nicht in Ordnung war, nahm seine Stimme diesen sogar noch ruhigeren Tonfall an. Wie damals, als Fleance sieben Jahre alt gewesen und sein Vater aus dem Krankenhaus gekommen war, nachdem er Mum besucht hatte. Da hatte er seinen Namen auf dieselbe unheimliche Weise ausgesprochen.

»Planänderung für heute Abend.« Sein Vater wechselte die Fahrbahn, scherte hinter einem Ford Galaxy ein. »Und für die nächsten paar Tage.«

»Im Ernst?«

»Du fährst nach Capitol. Heute noch.«

»Capitol?«

»Es ist was passiert. Du wirst viele Fragen haben, mein Junge, aber im Augenblick kann ich dir keine Antworten geben. Ich steige beim Inverness aus, und du fährst sofort weiter. Wieder nach Hause. Nimmst nur das mit, was du wirklich brauchst, und fährst weiter nach Capitol. Immer ganz entspannt, nicht zu schnell, dann bist du morgen Abend da. Verstanden?«

»Ja, aber was …«

»Keine Fragen. Du wirst einige Tage dort bleiben, vielleicht ein paar Wochen. Du kennst doch die kleine Wohnung, die deine Mutter geerbt hat. Hol den Notizblock aus dem Handschuhfach.«

»Die Einzimmerwohnung, die sie immer das Rattenloch genannt hat?«

»Ja. Kein Wunder, dass wir es nie geschafft haben, sie zu verkaufen. Zum Glück, muss ich jetzt allerdings sagen. Die Adresse lautet Tannery Street 66, Distrikt 6. Direkt neben dem Nachtclub Dolphin. Zweiter Stock auf der rechten Seite. Da bist du sicher. Hast du alles aufgeschrieben?«

»Ja.« Fleance riss den Zettel ab und legte den Block zurück ins Handschuhfach. »Aber ich brauche einen Schlüssel, oder? Ich meine, wer soll mich reinlassen, wenn sie leer steht?«

»Sie steht nicht leer.«

»Ist sie vermietet?«

»Nicht wirklich, ich habe den armen alten Cousin Alfie da wohnen lassen. Er ist so alt und taub, dass es sein kann, dass er dir nicht aufmacht, wenn du klingelst, deshalb wirst du improvisieren müssen.«

»Dad?«

»Ja?«

»Hat das irgendetwas damit zu tun, was Duff wollte? Er kam mir sehr … angespannt vor.«

»Ja, aber Schluss jetzt mit den Fragen, Fleance. Du musst einfach dableiben, ein paar Bücher zum Lernen mitnehmen und dich langweilen. Aber keine Anrufe, keine Briefe. Und keinen Mucks darüber, wo du bist. Tu einfach, was ich dir sage, und ich lasse dich wissen, wann es sicher genug ist, dass du zurückkommen kannst.«

»Bist du denn sicher?«

»Du hast doch gehört, was ich gesagt habe.«

Fleance nickte.

Sie fuhren schweigend weiter, und die abgenutzten Scheibenwischerblätter quietschten, als wollten sie ihnen etwas Wichtiges mitteilen.

»Ja«, sagte Banquo schließlich, »ich bin sicher. Aber achte bitte nicht auf das, was demnächst in den Nachrichten gesagt werden wird. Vermutlich alles Lügen. Es wohnt auch noch jemand anders da im Augenblick. Ich glaube, er schläft auf einer Matratze auf dem Boden, das heißt, du nimmst am besten das Sofa. Wenn die Ratten es noch nicht aufgefressen haben.«

»Sehr witzig. Versprichst du mir, dass du in Sicherheit sein wirst?«

»Mach dir keine Sorgen …«

»Die Ampel ist rot!«

Banquo trat auf die Bremsen und landete beinahe auf der Stoßstange des Galaxy, der das Umspringen der Ampel offenbar ebenso spät bemerkt hatte.

»Hier«, sagte Banquo und reichte seinem Sohn eine dicke, abgewetzte Brieftasche. »Nimm das Geld hier, dann hast du erst einmal genug, um über die Runden zu kommen.«

Fleance nahm die Scheine heraus.

»Verdammt lang rot an dieser Ampel«, hörte er seinen Vater murmeln.

Fleance warf einen Blick in den Seitenspiegel. Hinter ihnen hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Daneben, am äußeren Rand der Fahrbahn, zog eine ganze Reihe Motorräder an den Fahrzeugen vorbei und näherte sich ihnen.

»Seltsam«, sagte sein Vater. Wieder seine viel zu ruhige Stimme. »Wie’s aussieht, hat der Querverkehr auch rot. Und das schon eine ganze Weile.«

»Dad, da kommen mehrere Motorradfahrer.«

Fleance sah, wie sein Vater einen raschen Blick in den Rückspiegel warf. Dann trat er aufs Gaspedal, riss das Lenkrad nach rechts und nahm den Fuß von der Bremse. Der alte Wagen kam auf der feuchten, öligen Fahrbahn ins Schlingern, zwängte sich aber nach rechts aus der Schlange heraus. Die Radkappen stießen gegen den hohen Bordstein, und beide Wagen kreischten wie unter Schmerzen auf, als der Volvo am Galaxy entlangschrammte und beim Überholen dessen Seitenspiegel abriss.

Weiter vorn auf der Straße war ein lautes Dröhnen zu hören. Die Ampel hatte auf Grün umgeschaltet.

»Dad! Halt an!«

Aber sein Vater hielt nicht an, im Gegenteil. Er trat das Gaspedal weiter durch. Auf Kollisionskurs mit einem Laster von links und einem Bus von rechts rasten sie auf die Kreuzung hinaus. Sie hörten den schrillen Akkord von zwei Hupen, von jeder Seite eine, als sie zwischen den beiden hindurchschossen. Fleance starrte in den Spiegel, während sie von Gallows Hill aufs Zentrum zurasten und die schmerzlichen Töne hinter ihnen verhallten. Er sah, dass die Ampeln nun in ihrer Richtung auf Grün gesprungen waren. Die Motorräder hatten es bereits über die Kreuzung geschafft.


Macbeth stand mit beiden Beinen fest auf den massiven Marmorplatten am Eingang des Casinos, hatte aber das Gefühl, keinen Boden unter den Füßen zu haben. Vor ihm schälte sich ein übergewichtiger Mann in schwarzem Anzug mühsam aus dem Rücksitz einer Limousine. Der rot gekleidete Türsteher des Inverness hielt die Wagentür auf und einen Regenschirm in der Hand. Er schien sich zu fragen, ob er den Gast hochziehen oder ihm lieber seine Würde lassen sollte. Als der Mann es endlich geschafft hatte – schwer atmend, aber ohne fremde Hilfe –, eilte ihm Lady entgegen.

»Da ist er ja, unser Bürgermeister … ach, was sag ich, mein Bürgermeister!« Sie lachte und umarmte ihn. Was gar nicht so einfach war, dachte Macbeth. Er hörte sich selbst ein albernes Kichern ausstoßen, während er zusah, wie Ladys zarte Hände Tourtells dick gepolsterten Schildkrötenpanzer umfassten.

»Jedes Mal, wenn wir uns sehen, sind Sie noch attraktiver und viriler als beim letzten Mal«, flötete sie.

»Und Sie, Lady, werden immer schöner und verlogener. Macbeth …«

Macbeth schüttelte ihm die Hand, ganz fasziniert davon, wie das Fleisch des Bürgermeisters unter dem Druck seines Daumens nachgab.

»Und wer ist dieser junge Mann?«, fragte Lady.

Ein braunäugiger, mädchenhaft hübscher Junge mit weicher Haut, scheinbar noch ein Teenager, kam hinter der Limousine hervorgehuscht. Er lächelte Tourtell verzagt zu, als bräuchte er Hilfe.

»Dies, Lady, ist mein Sohn«, sagte Tourtell.

»Sie alberner Mensch, Sie haben doch gar keine Kinder«, sagte Lady und versetzte dem Bürgermeister einen spielerischen Schlag aufs Revers.

»Mein unehelicher Sohn«, berichtigte sich der Bürgermeister, streichelte den unteren Rücken des Jungen und zwinkerte Macbeth kichernd zu. »Ich habe gerade erst von seiner Existenz erfahren, wissen Sie. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar, oder, Lady?«

»Sie bleiben doch immer der alte schlaue Fuchs, mein lieber Tourtell. Sollen wir ihm einen Namen geben?«

»Wie wäre es mit Kasi Tourtell Junior?«, fragte der Bürgermeister, strich sich über seinen Salvador-Dalí-Schnurrbart und stieß, als Lady die Augen verdrehte, ein dröhnendes Lachen aus.

»Lassen Sie sich im Warmen eine Erfrischung servieren«, sagte Lady.

Die beiden traten durch die Tür, und Lady gesellte sich zu Macbeth.

»Wie kann das perverse Schwein es wagen?«, fragte Macbeth. »Ich dachte, Tourtell wäre einer der respektableren Leute.«

»Er gehört zu den respektierten Leuten, und nur darauf kommt es an, Liebster. Macht gibt einem die Freiheit, zu tun, was man will, ohne dass die Leute den Respekt vor einem verlieren. Na, wenigstens lächelst du jetzt.«

»Ach ja?«

»Wie ein wahnsinniger Clown.« Lady strahlte bereits das Taxi an, das vor dem Eingang vorfuhr. »Übertreib es nicht mit dem Grinsen, Liebling. Das ist Janovic, ein Immobilieninvestor aus Capitol.«

»Ein weiterer Aasgeier, der unsere Fabrikgelände für einen Apfel und ein Ei aufkauft?«

»Er schaut sich die Casinos an. Sei nett und sag Hallo, und lass im Gespräch irgendwann ganz nebenbei eine Bemerkung darüber fallen, dass die Kriminalität auf unseren Straßen bereits zurückgeht.«


Fleance schrie unwillkürlich auf und duckte sich, als die Heckscheibe explodierte.

»Wie viele?«, fragte sein Vater und zog den Wagen scharf nach rechts, auf eine Nebenstraße mit Kopfsteinpflaster. Fleance drehte sich um. Das Dröhnen der Motorräder schwoll an und klang inzwischen wie ein wütender Drache.

»Fünf oder sechs«, brüllte Fleance. »Gib mir deine Waffe.«

»Die wollte heute Abend zu Hause bleiben«, sagte Banquo. »Halt dich fest.« Er riss das Lenkrad herum, und die Reifen trafen den Bordstein. Der Volvo machte einen Satz und schnitt die Kurve vor einer eleganten Boutique, als sie links in eine noch engere Gasse bogen. Fleance begriff die Strategie: In diesen Einbahnstraßen konnten die Biker wenigstens nicht neben ihnen aufschließen und sie erledigen. Aber sie kamen unweigerlich näher. Ein weiterer Knall hinter ihnen. Fleance hatte noch nicht gelernt, zwischen sämtlichen Feuerwaffen zu unterscheiden wie sein Vater, aber selbst er wusste, dass dies eine Schrotflinte gewesen war. Was insgesamt immer noch besser war als …

Ein Kugelhagel hämmerte gegen die Karosserie.

… eine automatische Waffe.

Sein Vater führte mit großer Entschiedenheit eine weitere abrupte Kursänderung durch, als wüsste er genau, wohin er wollte. Sie waren längst im Einkaufsviertel angelangt, aber die Geschäfte hatten geschlossen, und die Straßen waren im Regen so gut wie verlassen. Kannte sein Vater einen Ausweg aus diesem Labyrinth? Wie zur Antwort auf die Frage riss Banquo das Lenkrad plötzlich nach rechts. Sie passierten ein Schild, das nichts Gutes ahnen ließ.

»Dad, das ist eine Sackgasse!«

Banquo reagierte nicht.

»Dad!«

Immer noch keine Reaktion. Nur seine Augen, die mit äußerster Konzentration nach vorn starrten, und seine Hände, die das Lenkrad fest umklammerten. Erst jetzt bemerkte Fleance, dass seinem Vater Blut übers Gesicht rann und den weißen Kragen seines Hemdes bereits wie Löschpapier rosa verfärbt hatte. Und an der Stelle, wo das Blut aus dem Kopf seines Vaters austrat, fehlte etwas. Fleance richtete seinen Blick auf das Lenkrad. Deshalb antwortete er nicht. Sein Ohr. Es klebte am Armaturenbrett, ein kleines, bleiches Stück Haut, Fetzen aus Fleisch und Blut.

Fleance hob den Blick zur Windschutzscheibe. Und dort sah er, im wahrsten Sinne des Wortes, das Ende. Die Sackgasse führte auf ein massiv aussehendes Holzhaus zu. Im Erdgeschoss befand sich ein großes, teilweise beleuchtetes Schaufenster. Es kam rasch näher, und sie machten keinerlei Anstalten anzuhalten.

»Schnall dich an, Fleance.«

»Dad!«

»Sofort!«

Fleance griff nach seinem Gurt, zog ihn sich über die Brust und schaffte es gerade noch, ihn einrasten zu lassen, bevor die Vorderreifen gegen den Bordstein prallten und der Wagen sich aufbäumte. Die Motorhaube traf das Schaufenster in der Mitte. Fleance kam es vor, als hätte es sich geöffnet, als würden sie durch einen Vorhang aus weißem Glas fliegen – mitten hinein in das, was dahinter wartete. Dann, als er sich verblüfft umschaute, weil er wusste, dass etwas nicht da war, wo es sein sollte, kamen die Bilder ins Stocken, und ihm wurde klar, dass er das Bewusstsein verloren haben musste. Ein infernalisches Klingeln dröhnte in seinen Ohren. Sein Vater lag bewegungslos mit dem Kopf auf dem Lenkrad.

»Dad!«

Fleance schüttelte ihn.

»Dad!«

Keine Reaktion. Die Windschutzscheibe war weg, und irgendetwas glitzerte auf der Motorhaube. Fleance musste die Augen zusammenkneifen, bis ihm klar wurde, dass es wirklich das war, wonach es aussah. Ringe. Halsketten. Armreifen. Und vor ihm an der Wand stand in goldenen Lettern: Jacob & Sons. Juwelier. Sie waren in einen verdammten Juwelierladen hineingerast. Und das Klingeln, das er hörte, kam nicht aus seinem Kopf, es war die Alarmanlage. Jetzt begriff er endlich. Die Alarmanlage. Alle Banken, Casinos und größeren Juwelierläden waren mit der Telefonzentrale des Polizeihauptquartiers verbunden. Und die informierte unverzüglich die Streifenwagen im jeweiligen Distrikt. Dad hatte tatsächlich gewusst, wohin er wollte.

Fleance versuchte, seinen Gurt zu lösen, schaffte es aber nicht. Er riss und zog, aber der Gurt lockerte sich kein Stück.


Der Sergeant saß auf seiner Maschine, zählte die Sekunden und betrachtete den Wagen, dessen Heck aus dem Laden vor ihm ragte. Die Alarmanlage übertönte die meisten Geräusche, aber am Qualm, der aus dem Auspuff kam, konnte er erkennen, dass der Motor noch lief.

»Ey, worauf warten wir noch, Mann?«, fragte der Typ auf der Electra Glide. Seine Art zu sprechen war ziemlich nervtötend. »Los, holen wir sie uns.«

»Wir warten noch etwas«, sagte der Sergeant und zählte. »Einundzwanzig, zweiundzwanzig.«

»Ey, wie lange denn?«

»Bis wir wissen, dass der Typ, von dem wir den Auftrag bekommen haben, sein Versprechen gehalten hat.«

»Ey, Mann, ich will diese Kopfabhackerei hinter mir haben und raus aus dieser Scheißstadt.«

»Warte.« Der Sergeant musterte ihn stumm. Der Typ sah aus wie ein erwachsener Mann. Er war breit wie ein Scheunentor und hatte überall Muskeln, sogar im Gesicht. Trotzdem trug er eine Zahnspange, wie ein kleiner Junge. Der Sergeant hatte so etwas schon öfter gesehen. Im Gefängnis entwickelten die Insassen, die unentwegt pumpten und Anabolika nahmen, so kräftige Kieferknochen, dass ihre Zähne sich verschoben. Neunundzwanzig, dreißig. Dreißig Sekunden und immer noch keine Polizeisirene. »Schön, leg los«, sagte der Sergeant.

»Danke.« Das Scheunentor zog einen langläufigen Colt aus seinem Hosenbund und das Schwert aus der Scheide, stieg ab und ging auf den Wagen zu. Nonchalant ließ er die Schwertklinge über die Wand und das PARKEN VERBOTEN-Schild gleiten. Der Sergeant betrachtete die Rückseite seiner Lederjacke. Eine Piratenflagge mit Totenkopf über einem Hakenkreuz. Kein Stil. Er seufzte. »Gib ihm Deckung mit der Schrotflinte, Colin.«

Colin strich sich mit seiner bandagierten Hand über den Walrossbart, klappte den kurzen Lauf einer Schrotflinte auf und ließ zwei Patronen hineingleiten.

Der Sergeant sah einige Gesichter in Fenstern auf der anderen Straßenseite auftauchen, hörte aber immer noch keine Sirenen, nur den monotonen, unaufhörlichen Alarm, als der Typ den Laden betrat und auf den Wagen zuging. Er klemmte sich das Schwert unter den Arm, zog die Beifahrertür mit seiner freien Hand auf und richtete den Revolver auf die Person, die dort saß. Der Sergeant biss unwillkürlich die Zähne zusammen, während er auf den Knall wartete.


Fleance riss an seinem Gurt, aber das verdammte Ding steckte fest. Er versuchte, sich hinauszuwinden. Er hob seine Knie bis zum Kinn, schwang sich im Sitz herum und stemmte seine Füße gegen die Beifahrertür, um sich zu seinem Vater auf den Fahrersitz hinüberzudrücken. In diesem Augenblick sah er den Mann, der mit Schwert und Revolver in den Händen den Laden betrat. Es war jetzt zu spät, um zu fliehen, und Fleance hatte nicht einmal genug Zeit, um darüber nachzudenken, wie viel Angst er hatte.

Die Beifahrertür wurde aufgerissen. Fleance sah das Glänzen einer Zahnspange, sah, wie ein Revolver gehoben wurde. Ihm wurde klar, dass er den Mann mit einem Tritt nicht erreichen konnte. Stattdessen zielte er mit seinem Fuß in reiner Verzweiflung auf die Wagentür. Ein normaler Schuh hätte nicht unter den inneren Türgriff gepasst, aber die lange dünne Spitze von Macbeths alten Latschen glitt problemlos darunter. Er sah die Schwärze der Ewigkeit im Lauf des Revolvers, dann zog er die Tür so fest zu, wie er konnte. Als sie das Handgelenk des Mannes traf und in der Öffnung einklemmte, knackte es laut – und der Revolver fiel mit einem dumpfen Aufprall ins Wageninnere.

Fleance hörte einen Fluch, knallte die Tür mit einer Hand zu und suchte mit der anderen nach dem Revolver.

Wieder wurde die Tür aufgerissen. Diesmal stand der Zahnspangenmann mit einem über den Kopf gehobenen Schwert davor. Fleance tastete wie wild den Boden ab, unter dem Sitz – wo zur Hölle steckte diese Waffe? Die Zahnspange schien derweil zu bemerken, dass die Türöffnung zu eng war und er mit dem Schwert waagerecht hineinstechen musste. Er holte aus, zielte auf Fleance und stieß zu. Fleance riss die Beine hoch und traf ihn mit voller Wucht auf halbem Weg, was den Typen rückwärts durch den Raum taumeln ließ und zu Fall brachte, wobei er eine Glasvitrine zerschlug.


»Colin«, seufzte der Sergeant. »Bitte geh da rein und beende diese unwürdige Zirkusvorstellung.«

»Okay, Boss.« Bevor er von seiner Maschine stieg, prüfte Colin, ob er in der Lage sein würde, mit der Hand, die Macbeth mit einem Dolch aufgespießt hatte, den Abzug seiner Waffe zu drücken.


Fleance hatte seinen Kampf aufgegeben. Ihm war klar, dass er in der Falle saß, dass er sich nicht aus dem Sicherheitsgurt würde befreien können, bevor es zu spät war. Also legte er sich seitwärts auf den Sitz und sah zu, wie der Typ mit dem Schwert sich aus der zertrümmerten Vitrine aufrappelte und einzelne Scherben von seinen breiten Schultern rieselten. Diesmal war er vorsichtiger. Nahm eine Position ein, wo Fleance ihn nicht erreichen konnte. Überprüfte, ob er sein Schwert auch sicher im Griff hatte. Fleance wusste, dass er die Stelle anvisierte, an der er sofort den größtmöglichen Schaden anrichten und gleichzeitig außer Reichweite bleiben konnte. Fleances Leiste.

»Gottverdammte Scheiße«, knurrte der Mann, spuckte auf das Schwert, trat den notwendigen Schritt näher und fletschte die Zähne. Das weiche, warme Licht im Laden ließ seine Spange funkeln, sodass sie für einen Augenblick aussah, als gehörte sie zum Warenbestand des Juweliers. Fleance hob die Waffe und feuerte sie ab. Erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Überraschung im Gesicht des Mannes und ein kleines schwarzes Loch inmitten der Spange, bevor er zu Boden fiel.


Die sanften, diskreten Töne des Klaviers kitzelten in Macbeths Ohren.

»Liebe Gäste, Kollegen und Freunde des Casinos«, sagte er und schaute in die versammelten Gesichter, »auch wenn noch nicht alle eingetroffen sind, möchte ich Sie im Namen der Frau, die Sie alle kennen und fürchten …« Stummes, höfliches Gelächter und Nicken zu der lachenden Lady. »… herzlichst begrüßen und einen Toast aussprechen, bevor wir uns miteinander an den Tisch setzen.«


Colin blieb stehen, als er sah, wie sein Cousin aus dem Süden zu Boden ging. Der Schuss hatte die Alarmanlage kurz übertönt, und jetzt bemerkte er in der offenen Wagentür eine Hand mit Revolver. Er reagierte rasch, feuerte einen Schuss ab, sah, wie die Kugel traf, wie das helle Innere der Tür sich rot färbte, wie die Fensterscheibe darüber explodierte und der Revolver auf den Boden des Ladens fiel.

Colin eilte auf den unbeweglichen Wagen zu. Das Adrenalin hatte seine Sinne derart geschärft, dass er alles gleichzeitig wahrnahm. Das leichte Vibrieren des Auspuffs, die Tatsache, dass er durch die zerschossene Rückscheibe keinerlei Köpfe sah, und ein Geräusch, das er unter dem Dröhnen des Alarms gerade so identifizieren konnte. Das Rülpsen eines durchgetretenen Gaspedals. Scheiße!

Die letzten Schritte zur offenen Wagentür rannte Colin. Auf dem Beifahrersitz saß ein junger Typ im Anzug in merkwürdig verrenkter Position: Angeschnallt, die Hand blutüberströmt, der linke Fuß zum Fahrer hinübergestreckt, der leblos über dem Lenkrad hing. Colin hob die Schrotflinte genau in dem Augenblick, als der Motor laut aufheulte und sich der Wagen rückwärts in Bewegung setzte. Die offene Tür traf Colin an der Brust, doch er schaffte es, seine linke Hand auszustrecken und sich an der Oberkante der Tür festzuhalten. Sie rasten aus dem Laden hinaus, aber Colin ließ nicht los. Noch immer hatte er die Schrotflinte in seiner schmerzenden rechten Hand. Um in den Wagen hineinfeuern zu können, würde er sie sich allerdings unter seinen linken Arm klemmen müssen …


Fleance hatte es geschafft, seinen Fuß auf die Kupplung zu bekommen, den Fuß seines Vaters beiseitezudrücken und den Rückwärtsgang einzulegen. Dann hatte er ganz langsam seinen Absatz von der Kupplung genommen und mit der Fußspitze aufs Gas gedrückt. Die offene Beifahrertür hatte irgendeinen Typen getroffen, der sich immer noch an ihr festklammerte, aber jetzt waren sie aus dem Laden heraus, auf dem Weg zurück. Fleance konnte nicht das Geringste sehen, aber er gab Vollgas und hoffte nur, dass sie nicht irgendwo hineinknallen würden.

Der Typ an der Tür schien mit irgendetwas herumzufuhrwerken. Plötzlich erkannte er, worum es sich handelte: Unter seinem Arm blitzte der Lauf einer Schrotflinte auf. Im nächsten Augenblick ging sie los.

Fleance blinzelte.

Der Typ mit der Waffe war weg. Ebenso die Beifahrertür. Er schaute über das Armaturenbrett und sah, dass die Tür und der Typ an dem Pfeiler hingen, an dem das PARKEN VERBOTEN-Schild angebracht war.

Und er sah eine Nebenstraße.

Er trat auf die Bremse und dann auf die Kupplung, um den Motor nicht abzuwürgen. Schaute in den Seitenspiegel. Sah vier Männer, die von ihren Motorrädern stiegen und auf ihn zukamen. Ihre Maschinen hatten sie nebeneinander geparkt, sodass sie die enge Straße versperrten. Der Volvo würde es nicht schaffen, sie im Rückwärtsgang zu überfahren. Fleance griff nach dem Schaltknüppel und stellte erst jetzt fest, dass seine Hand blutete. Er versuchte, den ersten Gang zu finden, schaffte es aber nicht, vermutlich weil es von seiner Position aus nicht möglich war, den Schaltknüppel gerade herunterzudrücken. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Der Motor hustete und spuckte, stand kurz vor seinem letzten Atemzug. Fleance sah im Rückspiegel, dass die Männer Revolver gezogen hatten. Nein, Maschinenpistolen. Das war’s. Hier endete es. Ein merkwürdiger Gedanke kam ihm in den Sinn. Wie bitter es war, dass er seine Jura-Abschlussprüfung nicht würde machen können, nun, da bei ihm endlich der Groschen gefallen war und er die ganze Sache verstanden hatte, den Unterschied zwischen falsch und illegal, zwischen Moral und Gesetzgebung. Zwischen Macht und Verbrechen.

Er spürte eine warme Hand auf seiner, über dem Schaltknüppel.

»Wer fährt hier, mein Sohn? Du oder dein Dad?«

Banquos Augen waren glasig, aber er saß aufrecht auf seinem Sitz und legte beide Hände ans Steuer. Im nächsten Augenblick erhob sich die alte Stimme des Motors zu einem heiseren Brüllen, und sie schossen über das Kopfsteinpflaster davon, während hinter ihnen die Maschinenpistolen knallten und knatterten, als wäre heute der Tag des chinesischen Neujahrsfestes.


Macbeth schaute Lady an. Sie saß zwei Plätze von ihm entfernt und war in ein lebhaftes Gespräch mit ihrem Tischherren vertieft, diesem Jano-wer-auch-immer. Dem Immobilienhai aus Capitol. Sie hatte ihm ihre Hand auf den Arm gelegt. Letztes Jahr hatte noch einer der mächtigen Fabrikbesitzer dieser Stadt auf dem Platz des Hais gesessen und ihre Aufmerksamkeit gefesselt. Aber in diesem Jahr war die Fabrik geschlossen worden, und ihr Besitzer hatte keine Einladung mehr erhalten.

»Wir beide sollten uns mal unterhalten«, sagte Tourtell.

»Ja.« Macbeth wandte sich dem Bürgermeister zu, der eine mit Kalbfleisch beladene Gabel in seinen weit aufgerissenen Mund schob. »Worüber?«

»Worüber? Über die Stadt natürlich.«

Macbeth schaute fasziniert zu, wie sich die vielen Kinne des Bürgermeisters beim Essen ausdehnten und zusammenzogen, wie ein Akkordeon aus Fleisch.

»Darüber, was für die Stadt am besten ist«, sagte Tourtell mit einem Grinsen. Als wäre es ein Witz. Macbeth wusste, dass er sich auf das Gespräch konzentrieren sollte, aber er konnte seine Gedanken einfach nicht zusammenhalten. Jetzt zum Beispiel fragte er sich, ob die Mutter des Kalbs wohl noch am Leben war. Und wenn ja, ob sie womöglich spürte, dass hier gerade ihr Kind verschlungen wurde.

»Da gibt es diesen Radioreporter«, sagte Macbeth. »Kite. Der verbreitet bösartige Gerüchte und hat offenbar nichts Gutes im Sinn. Wie neutralisiert man so eine Person?«

»Reporter!« Tourtell verdrehte die Augen. »Wissen Sie, das ist schwierig. Die müssen nur ihren Chefredakteuren Rede und Antwort stehen. Und selbst wenn diese Chefredakteure wiederum den Besitzern ihrer Medienanstalten verpflichtet sind und die Geld verdienen wollen, bilden sich Reporter gerne ein, einem höheren Gut zu dienen. Sehr schwierig. Sie essen ja gar nichts, Macbeth? Machen Sie sich Sorgen?«

»Ich? Nein, gar nicht.«

»Wirklich? Jetzt, wo der eine Chief Commissioner tot ist, ein weiterer vermisst wird und die ganze Verantwortung auf Ihren Schultern lastet? Ich würde mir Sorgen machen, wenn Sie sich keine machen würden, Macbeth!«

»So habe ich es nicht gemeint.« Macbeth sah Hilfe suchend zu Lady hinüber, die auf der anderen Seite des Bürgermeisters saß. Aber sie plauderte inzwischen angeregt mit einer Frau, die die Finanzberaterin des Stadtrats war oder etwas in der Art.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Macbeth und erhob sich. Fing einen fragenden, leicht besorgten Blick von Lady auf und marschierte rasch hinaus zur Rezeption.

»Geben Sie mir das Telefon, Jack.«

Der Rezeptionist reichte ihm das Telefon, und Macbeth wählte die Nummer der Zentrale im Hauptquartier. Nach dem fünften Klingeln nahm jemand ab. War das eine lange oder kurze Zeit, wenn man die Polizei erreichen wollte? Er wusste es nicht, hatte nie zuvor darüber nachgedacht. Aber jetzt ging es nicht mehr anders. Jetzt musste er über solche Dinge nachdenken. Auch das noch. »Verbinden Sie mich mit dem Streifendienst.«

»Okay.«

Er hörte, dass man ihn durchgestellt hatte, und am anderen Ende klingelte das Telefon. Macbeth schaute auf seine Uhr. Sie ließen sich Zeit.

»Ich sehe Sie gar nicht mehr im Spielsaal, Jack.«

»Ich arbeite nicht mehr als Croupier, Sir. Nicht nach … na ja, nach dieser einen Nacht, Sie wissen schon.«

»Verstehe. Man braucht eine Weile, bis man darüber weg ist.«

Jack zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht bloß das. Ich glaube, die Tätigkeit als Rezeptionist passt einfach besser zu mir als die des Croupiers. Es ist also keine Tragödie.«

»Aber verdient man als Croupier nicht deutlich mehr?«

»Wenn man ein Fisch außerhalb des Wassers ist, spielt es keine Rolle, wie viel man verdient. Der Fisch kann nicht atmen und stirbt neben einem dicken Sack Geld. Das ist eine Tragödie, Sir.«

Macbeth wollte gerade etwas erwidern, als eine Stimme meldete, dass er den Streifendienst am Apparat hatte.

»Macbeth hier. Ich habe mich gefragt, ob in der letzten Stunde irgendwelche Berichte über eine Schießerei in Gallows Hill bei euch eingegangen sind.«

»Nein. Hätte es denn welche geben sollen?«

»Wir haben hier einen Gast, der mir gerade erzählt hat, er sei da vorbeigefahren und habe einen lauten Knall gehört. Muss wohl ein Reifen geplatzt sein.«

»Ja, wahrscheinlich.«

»In Distrikt 2 West ist also nichts vorgefallen?«

»Nur ein Einbruch bei einem Juwelier, Sir. Der nächste Streifenwagen war ein gutes Stück entfernt, aber wir sind jetzt auf dem Weg.«

»Verstehe. Na dann, noch einen schönen Abend.«

»Ihnen auch, Inspector.«

Macbeth legte auf. Starrte hinab auf den Teppich, auf das seltsame Muster aus gestickten Blumen. Er hatte sie nie weiter beachtet, aber jetzt schien es, als wollten sie ihm etwas sagen.

»Sir?«

Macbeth schaute auf. Jack hatte einen besorgten Ausdruck im Gesicht.

»Sir, Sie haben Nasenbluten.«

Macbeth legte eine Hand an seine Oberlippe, begriff, dass der Rezeptionist recht hatte, und eilte zur Toilette.


Banquo beschleunigte und raste die Hauptstraße hinunter. Der Wind heulte durch die türlose Beifahrerseite in den Wagen. Sie kamen am Obelisken vorbei. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie den Hauptbahnhof erreichten.

»Kannst du sie sehen?«

Fleance sagte etwas.

»Lauter!«

»Nein.«

Banquo konnte mit dem Ohr auf Fleances Seite nichts hören, entweder weil der Gehörgang mit Blut verstopft war oder weil die Kugel ihm das Gehör geraubt hatte. Trotzdem war es nicht dieser Schuss, der ihn beunruhigte. Er schaute auf die Tankanzeige – der Zeiger war in den vier oder fünf Minuten, seit sie das Einkaufsviertel verlassen hatten, erheblich gesunken. Die Maschinenpistolen mochten harmlos geklungen haben, aber vermutlich hatten sie den Benzintank getroffen. Doch auch diese Schüsse beunruhigten ihn nicht. Sie hatten immer noch genug Treibstoff, um es sicher bis zum Inverness zu schaffen.

»Wer sind die, Dad? Warum sind die hinter uns her?«

Direkt vor ihnen tauchte der Bahnhof auf.

»Ich weiß nicht, Fleance.« Banquo konzentrierte sich auf die Straße. Und aufs Atmen. Er musste atmen, Luft in seine Lunge bekommen. Durchhalten. Durchhalten, bis Fleance in Sicherheit war. Das, und nur das spielte eine Rolle. Nicht, dass die Fahrbahn vor ihm zu verschwimmen begann, nicht der Schuss, der ihn getroffen hatte.

»Irgendwer muss gewusst haben, dass wir diese Strecke fahren würden, Dad. Die Sache mit den Ampeln, das war nicht normal. Die wussten ganz genau, wann wir am Gallows Hill vorbeikommen würden.«

Banquo hatte sich das bereits selbst zusammengereimt. Aber es bedeutete jetzt nichts mehr. Bedeutung hatte allein die Tatsache, dass sie den Bahnhof hinter sich gelassen und die Lichter des Inverness vor sich hatten. Vor der Tür parken, Fleance ins Casino hineinschaffen.

»Ich sehe sie jetzt, Dad. Sie sind höchstens noch zweihundert Meter hinter uns.«

Mehr als dicht genug, wenn sie nicht aufgehalten wurden. Er hätte das Blaulicht und die Sirene im Wagen haben müssen. Banquo starrte zum Inverness hinüber. Licht. Er konnte den Weg abkürzen und quer über den Worker’s Square fahren. Die Sirenen. Etwas lag ihm auf der Zunge. Steckte in seinem Kopf fest.

»Hast du Sirenen gehört, Fleance?«

»Was?«

»Sirenen. Streifenwagen. Hast du sie beim Juwelier gehört?«

»Nein.«

»Ganz sicher? Im Distrikt 2 West sind immer jede Menge Streifenwagen unterwegs.«

»Absolut sicher.«

Banquo spürte den Schmerz und die Dunkelheit näher kommen. »Nein«, flüsterte er. »Nein, Macbeth, mein Junge …« Er hielt das Lenkrad umklammert und bog unversehens nach links.

»Dad! Das ist nicht der Weg zum Inverness.«

Banquo drückte auf die Hupe, überholte den Wagen vor ihnen und beschleunigte weiter. Er spürte, wie sich der lähmende Schmerz vom Rücken in die Brust ausbreitete. Bald würde er seine rechte Hand nicht mehr am Lenkrad halten können. Die Kugel hatte vermutlich kein großes Loch in den Sitz geschlagen, aber sie hatte ihn getroffen. Und dies war der Schuss, der ihn wirklich beunruhigte.

Vor ihnen war nichts. Nur der Containerhafen, das Meer und die Dunkelheit.

Aber es gab eine allerletzte Möglichkeit.


Macbeth betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken. Das Nasenbluten hatte aufgehört, aber er wusste, was es bedeutete. Dass seine Schleimhäute mehr Brew nicht verkraften konnten und er es für eine Weile lassen sollte. Das war in seiner Jugend anders gewesen. Damals hatte sein Körper noch jede Form von Missbrauch ausgehalten. Aber wenn er jetzt so weitermachte, würde seine Nase schmerzen und bluten, und sein Gehirn würde durchdrehen, bis ihm der Kopf abfiel. Er brauchte eine Pause. Warum rollte er also, während er genau das dachte, einen Schein zusammen und setzte ihn am rechten Ende der Linie aus weißem Puder an, die er auf dem Waschbecken ausgestreut hatte? Weil dies die Ausnahme war. Dies war der entscheidende Moment, in dem er es noch einmal brauchte. Der Moment, in dem er es mit dem fetten perversen Bürgermeister und den Norse Riders aufnehmen musste, die es offenbar nicht geschafft hatten, sich an die Abmachung zu halten. Und dann auch noch mit Lady. Nein, sie war kein Problem, sie war das Alpha und das Omega, seine Geburt, sein Leben und sein Tod. Sein Grund zu leben. Aber im gleichen Maße, wie ihn ihre Liebe vor Freude zittern ließ, schmerzte ihn der Gedanke, was ihm genommen werden könnte. Ihre Macht bestand nun ebenso sehr darin, ihn zu lieben, wie darin, ihm ihre Liebe zu entziehen. Er inhalierte tief, sog das Brew kräftig in sein Gehirn, bis es die Innenseite seiner Kopfhaut erreichte, zumindest fühlte es sich so an. Blickte sich noch einmal im Spiegel an. Sein Gesicht verzerrt und verändert. Er hatte weißes Haar. Die roten Lippen einer Frau. Eine Narbe breitete sich quer über sein Gesicht aus. Unter seinem Kinn wuchsen weitere Kinne. Tränen füllten seine Augen und rannen ihm die Wangen hinab. Er musste jetzt aufhören. Er hatte Leute gekannt, die so viel durchgezogen hatten, dass sie am Ende Nasenprothesen brauchten. Er musste aufhören, solange noch Zeit war, solange es noch etwas zu retten gab. Er musste zur Spritze wechseln.


Der Sergeant sah die Rücklichter des Volvo langsam, aber sicher näher kommen. Er gab Vollgas und wusste genau, dass die anderen Schwierigkeiten haben würden, hinterherzukommen, obwohl seine Maschine bloß 450 Kubikzentimeter aufzubieten hatte. Auf nasser, öliger Fahrbahn aber waren Erfahrung und Feingefühl wichtiger als die Größe des Motors, wenn man nicht den Halt verlieren wollte. Daher war er überrascht, als er im Rückspiegel sah, dass einer der Biker rasch hinter ihm aufschloss. Völlig verblüfft erkannte er ihn. Seinen Helm. Die Red Indian Chief schoss so dicht am Sergeant vorbei, dass ihn beinahe die Spitze eines Horns streifte. Sein Scheinwerfer ließ den Säbel aufleuchten, als die Maschine ihn überholte. Wo war er hergekommen? Woher hatte er es gewusst? Woher wusste er immer, wann sie ihn brauchten? Der Sergeant drosselte seine Geschwindigkeit. Sweno sollte voranfahren, sollte sie leiten.


Banquo schlug denselben Weg ein, den sie genommen hatten, als sie dem russischen Laster gefolgt waren, wagte mehrere gefährliche Überholmanöver und erhöhte so kurzzeitig den Abstand zu den Motorrädern. Bald würden sie wieder aufholen, aber vielleicht blieb genug Zeit. Vor dem Tunnel war eine Absperrung aufgebaut, und ein Schild wies darauf hin, dass die Brücke wegen Reparaturarbeiten unbefahrbar sei. Splitter flogen durch die Luft, als der Volvo in die Absperrung hineinkrachte und sich seine Scheinwerfer in die Dunkelheit des Tunnels bohrten. Banquo fuhr mit einer Hand am Steuer; die andere lag in seinem Schoß wie eine Leiche. Sie konnten bereits den Ausgang sehen, als das wütende Belfern der Motorräder hinter ihnen im Tunnel ertönte.

Sie näherten sich der scharfen Kurve, die zur Brücke führte. Banquo bremste ab und gab sofort wieder Gas.

Jetzt waren sie auf der Brücke, umgeben von einer plötzlichen Stille unter klarem Himmel und beschienen von einem Mond, der den Fluss tief unter ihnen glitzern ließ wie Messing. Sie hörten nur noch den Motor des Volvos, der so hart arbeitete, wie er konnte. Und dann das Heulen von Gummi auf Asphalt, als Banquo plötzlich mitten auf der Brücke bremste, dort, wo die Statue von Kenneth gestanden hatte. Er steuerte jetzt genau den Punkt an, wo das rote Absperrband der Highway Agency im Wind flatterte und die Stelle markierte, an der der ZIS-5 in den Fluss hinabgestürzt war. Überrascht drehte sich Fleance zu seinem Vater um, der in den Leerlauf geschaltet hatte. Banquo beugte sich über seinen Sohn und schnitt mit einem Taschenmesser seinen Gurt los.

»Was …?«

»Der Tank hat ein Leck, mein Sohn. Bald haben wir kein Benzin mehr, also hör mir gut zu. Ich habe dir nie viele Predigten gehalten, das weißt du, aber eins muss ich dir sagen …« Banquo lehnte sich gegen die Tür auf seiner Seite, zog die Knie an und schwang sich in seinem Sitz herum, genau wie Fleance es zuvor getan hatte.

»Du kannst alles sein, was du willst, Fleance. Sei also nicht, was ich war. Sei kein Lakai für Lakaien.«

»Dad …«

»Und lande auf deinen Füßen.«

Er stemmte seine Schuhe gegen Hüfte und Schulter seines Sohnes, sah, wie Fleance versuchte, sich festzuhalten, und stieß dann mit voller Wucht zu. Sein Sohn schrie auf, empört und voller Angst, genau wie damals, als er zur Welt gekommen war. Aber dann war er draußen, die letzte Nabelschnur durchtrennt, allein in der großen weiten Welt, und taumelte im freien Fall seinem Schicksal entgegen.

Banquo stöhnte auf vor Schmerz, als er sich zurückschwang, neuerlich den Gang einlegte und den Wagen beschleunigte. Seinem eigenen Schicksal entgegen.

Als ihm etwa drei Kilometer, nachdem er die Brücke verlassen hatte, das Benzin ausging, hatten sie ihn beinahe eingeholt. Die letzten Meter rollte der Wagen aus, und Banquo spürte, wie er schläfrig wurde. Er lehnte den Kopf zurück. Kälte hatte sich über seinen gesamten Rücken ausgebreitet, bis in seinen Bauch hinein, und bewegte sich nun auf sein Herz zu. Er dachte an Vera. Und als es schließlich auf dieser Seite des Tunnels zu regnen begann, regnete es Blei. Blei, das den Wagen durchdrang, die Sitze und Banquos Körper. Er starrte aus dem Seitenfenster hinaus, den Berg hinauf. Dort oben, beinahe am Gipfel, erblickte er etwas, das von der Stadt aus wie ein Zeichen des Bösen aussah. Aber hier war es ein christliches Kreuz, das im Licht des Mondes leuchtete. Es war so nah. Es wies den Weg. Das Tor war offen.

»Ein wohlüberlegter, langsamer Aufstieg«, murmelte Banquo. »Ein wohl…«

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