32

Macbeth stand auf dem Dach des Inverness und schaute mit einem Fernglas Richtung Osten. Es war nicht einfach, es in der Dunkelheit zu erkennen, aber kam da nicht Rauch aus einem der Backsteinschornsteine der Estex-Fabrik? Wenn ja, war die Angelegenheit erledigt. Und sie hätten zwei weitere Männer in ihrem Spinnennetz, zwei weitere Männer mit Blut an den Händen. Kite und Lennox. Es konnte nützlich sein, Kite bei den bevorstehenden Bürgermeisterwahlen auf seiner Seite zu haben. Falls es noch andere Kandidaten gab. Und Lennox musste sich bald jemand anderen suchen, der ihm seinen Stoff brachte. Denn nicht mehr lange, und auch Hecate würde bloß noch eine Legende sein.

Macbeth hatte fünfzehn Minuten bei der Treppe zu den Bahnhofstoiletten gewartet, bis Strega aufgetaucht war. Zuerst hatte er die Beutel mit dem Pulver abgelehnt und klargestellt, dass er nur eine Nachricht an Hecate weitergeben wollte. Er müsse ihn so rasch wie möglich treffen, ihn über seine zukünftigen Pläne informieren und ihm ein Geschenk überreichen, als Zeichen der Dankbarkeit für das, was Hecate für ihn und Lady getan hatte. Ein Geschenk, von dem er sich sicher war, dass Hecate es sehr zu schätzen wissen würde – wenn die Gerüchte stimmten, dass er eine Schwäche für Gold hatte.

Strega hatte geantwortet, dass er von ihr hören werde. Vielleicht.

Ja, da kam tatsächlich Rauch aus dem Schornstein.

»Liebling, Tourtell ist da.«

Macbeth drehte sich um. Lady stand im Türrahmen. Sie hatte sich ihr rotes Kleid angezogen.

»Ich komme. Du siehst sehr schön aus, hab ich das schon erwähnt?«

»Hast du. Und mehr wirst du jetzt auch für eine Weile nicht sagen, Liebster. Ich übernehme das Reden, damit wir den Plan nicht aus den Augen verlieren.«

Macbeth lachte. Ja, sie war wirklich zurück.

Der Spielsaal und das Restaurant waren so voller Gäste, dass sie sich ihren Weg regelrecht freikämpfen mussten, um zu dem Spieltisch zu gelangen, den sie in einem separaten kleinen Raum hinter dem Restaurant aufgestellt hatten. Tourtell wartete bereits auf sie.

»Ganz allein heute Abend?«, fragte Macbeth und drückte die Hand des Bürgermeisters.

»Der Nachwuchs muss für seine Prüfungen lernen.« Tourtell lächelte. »Ich habe gesehen, dass die Leute bei Ihnen vor der Tür Schlange stehen.«

»Seit sechs Uhr«, sagte Lady und setzte sich neben ihn. »Wir sind so voll, dass ich Jack dazu überreden musste, ausnahmsweise unser Croupier zu sein.«

»Wie’s aussieht, gibt es also doch Platz für zwei Casinos in dieser Stadt«, sagte Tourtell und fummelte an seiner schwarzen Fliege herum. »Sie wissen, wie unleidlich die Wähler werden, wenn man ihnen nicht gestattet, auszugehen und ihr Geld zu verschwenden.«

»Stimmt«, sagte Lady und winkte einen Kellner heran. »Hat der Bürgermeister Glück heute Abend, Jack?«

»Noch etwas früh, um das zu sagen«, erwiderte Jack und lächelte breit in seinem roten Croupiersjackett. »Noch eine Karte, Bürgermeister?«

Tourtell schaute die zwei Karten an, die er bereits bekommen hatte. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Hab ich nicht recht, Lady?«

»Sie haben so recht. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, Ihnen von einem Konsortium zu erzählen, das sehr daran interessiert ist, Kapital zu investieren und den Obelisken nicht nur zu übernehmen, sondern ihn auch zu renovieren und als das attraktivste Casino im ganzen Land neu zu eröffnen. Das ist natürlich ein finanzielles Risiko, jetzt, da der Ruf des Obelisken derart durch den Dreck gezogen wird. Aber wir sind bereit, unser Vertrauen auf einen neuen Besitzer zu setzen und auf eine völlig neue Ausrichtung.«

»Wir, Lady?«

»Ich gehöre auch zu dem Konsortium, ja. Zusammen mit Janovic, einem Immobilieninvestor aus Capitol. Es ist, genau wie Sie gesagt haben, wichtig für die Stadt, dass der Obelisk geöffnet ist und wieder gut läuft. Denken Sie nur an all die Steuereinnahmen, die die Gäste aus den benachbarten Landesteilen bringen werden. Wenn wir den frisch renovierten, spektakulären Obelisken in ein paar Monaten neu eröffnen, wird er eine Touristenattraktion sein. Die Leute werden extra aus Capitol anreisen, um in unserer Stadt zu spielen, Tourtell.«

Tourtell schaute die Karte an, die Jack ihm gegeben hatte, und seufzte auf. »Sieht nicht so aus, als würde das mein Abend werden.«

»Das kann sich ja immer noch ändern«, sagte Lady. »Die Anteile innerhalb des Konsortiums sind noch nicht alle vergeben worden, und wir haben Sie als möglichen Mitinvestor in Betracht gezogen. Sie brauchen ja auch Sicherheiten für die Zeit nach Ihrem Amt als Bürgermeister.«

»Investor?« Er lachte. »Ich fürchte, als Bürgermeister habe ich weder das Recht noch das Geld, um Anteile an Gesellschaften zu erwerben. Das große Festival der Anteile muss ohne mich stattfinden.«

»Für Anteile kann man auf ganz unterschiedliche Weise bezahlen«, sagte Lady. »Zum Beispiel, indem man seine Dienste anbietet.«

»Was haben Sie im Sinn, meine wunderschöne Herzogin?«

»Dass Sie öffentlich Macbeths Kandidatur als Bürgermeister unterstützen.«

Tourtell schaute erneut in seine Karten. »Ich habe ihm das doch bereits versprochen, und ich bin berühmt dafür, meine Versprechen zu halten.«

»Wir meinen, bei dieser Wahl.«

Tourtell hob den Blick von seinem Blatt und schaute Macbeth an. »Bei dieser Wahl?«

Lady legte dem Bürgermeister eine Hand auf den Arm und lehnte sich an ihn. »Ja, denn Sie werden nicht kandidieren.«

Er blinzelte zweimal. »Nicht?«

»Es ist wahr, Sie haben angedeutet, dass Sie es tun würden, aber dann haben Sie es sich wieder anders überlegt.«

»Und warum das?«

»Mit Ihrer Gesundheit steht es nicht zum Besten, und der Posten des Bürgermeisters erfordert einen Mann mit viel Energie. Einen Mann der Zukunft. Sobald Sie nicht mehr Bürgermeister sind, steht Ihnen nichts mehr im Wege. Sie können sich einem Konsortium anschließen, das rein praktisch ein Monopol über die Casinos dieser Stadt haben wird und Sie, im Gegensatz zu den Karten in Ihrer Hand, zu einem sehr reichen Mann machen dürfte.«

»Aber ich will nicht …«

»Sie empfehlen den Wählern, für Macbeth als Ihren Nachfolger zu stimmen, weil er ein Mann aus dem Volk ist, der fürs Volk arbeitet und mit dem Volk regiert. Und weil er, in seiner Funktion als Chief Commissioner, sowohl Sweno als auch Hecate zu Fall gebracht und damit gezeigt hat, dass er wirklich etwas bewegt.«

»Hecate?«

»Macbeth und ich greifen den Ereignissen hier ein wenig vor, aber Hecate ist ein toter Mann. Wir werden ein Treffen mit Hecate einberaumen, das er nicht überleben wird. Dies ist ein Versprechen, und auch ich bin berühmt dafür, meine Versprechen zu halten, mein lieber Bürgermeister.«

»Und wenn ich nicht mitmache bei diesem …«, er spuckte die Worte aus wie eine verfaulte Weintraube, »… Geschäft mit den Anteilen?«

»Das wäre überaus schade.«

Tourtell schob seinen Stuhl zurück und nahm eines seiner Kinne zwischen Zeige- und Mittelfinger. »Was haben Sie sonst noch, Frau?«

»Sind Sie sicher, dass wir es nicht dabei belassen sollten?«, fragte Lady.

Jack hüstelte und tippte mit dem Zeigefinger auf den Stapel vor sich. »Keine weiteren Karten, Bürgermeister?«

»Nein!«, knurrte Tourtell, ohne den Blick von Lady abzuwenden.

»Wie Sie wollen«, seufzte sie. »Man wird Sie verhaften und Anklage gegen Sie erheben wegen Unzucht mit einem minderjährigen Jungen.« Sie nickte der Karte zu, die Jack vor ihm aufgedeckt hatte. »Sehen Sie, Sie waren voreilig. Verloren.«

Tourtell starrte sie mit seinen schweren Fischaugen an. Seine vorstehende, feuchte Unterlippe zuckte. »Sie kriegen mich nicht«, zischte er. »Haben Sie gehört? Sie kriegen mich nicht!«

»Wenn wir Hecate kriegen, kriegen wir Sie erst recht.«

Tourtell stand auf. Schaute auf sie herab. Seine Kinne, sein scharlachrotes Gesicht, ja, sein ganzer Körper zitterte vor Wut. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte hinaus, wobei seine Hosenbeine an den Oberschenkeln aneinanderrieben.

»Was denkst du?«, fragte Macbeth, nachdem der Bürgermeister abgezogen war.

»Oh, er wird tun, was wir wollen«, sagte Lady. »Tourtell ist kein junger Idiot. Er braucht nur ein bisschen Zeit, um seine Chancen abzuwägen, bevor er seinen Einsatz festlegt.«


Caithness träumte von Angus. Er rief sie an, aber sie wagte nicht, den Hörer abzuheben, weil ihr im Traum plötzlich klar gewesen war, dass jemand ihr Telefon manipuliert hatte und es explodieren würde. Sie wachte auf und schaute auf den Wecker, der auf dem Nachttisch neben dem klingelnden Telefon stand. Es war nach Mitternacht. Es musste ein Mord passiert sein. Sie hoffte, dass es Mord war, ein ganz alltäglicher Mord und nicht … Sie hob den Hörer ab.

»Hallo?« Sie hörte das Klicken, das immer da war, seit dem Treffen bei Estex.

»Tut mir leid, dass ich so spät anrufe.« Es war die fremde Stimme eines noch jungen Mannes. »Ich wollte nur die Bestätigung, dass Sie morgen, am Freitag, zur üblichen Zeit die 323 nehmen.«

»Ich tue was?«

»Entschuldigung, vielleicht habe ich mich verwählt. Ist dort Mrs Mittbaum?«

Caithness setzte sich im Bett auf, war hellwach. Sie befeuchtete ihre Lippen. Stellte sich die Tonbänder des Aufnahmegerätes in irgendeinem Raum vor, vielleicht in der Überwachungsabteilung im ersten Stock des Hauptquartiers.

»Nein«, sagte sie. »Aber ich würde mir keine Sorgen machen. Leute mit deutschen Nachnamen sind meistens pünktlich.«

»Bitte um Verzeihung. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Caithness lag mit klopfendem Herzen im Bett.

323. Die Zimmernummer im Grand Hotel, in dem sie und Duff immer ihre Stelldicheins in der Mittagspause gehabt hatten, reserviert unter dem Namen Mittbaum.

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