8

Das Abendessen fand im Restaurant des Casinos statt. Duff und Duncan nahmen zu beiden Seiten der Gastgeberin Platz. Macbeth saß ihnen gegenüber mit Caithness als Tischnachbarin. Duff fiel auf, dass weder Caithness noch Macbeth viel sprachen, doch die Atmosphäre war trotzdem gut und die Tafel so breit, dass es schwer war, sich über sie hinweg zu unterhalten. Lady plauderte und schien sich mit Duncan gut zu amüsieren, während Duff Malcolm zuhörte und sich darauf konzentrierte, nicht zu gähnen.

»Caithness sieht heute wunderschön aus, oder?«

Duff drehte sich um. Es war Lady. Sie lächelte ihn an. Ihre großen blauen Augen wirkten unschuldig unter ihrem feuerroten Haar.

»Ja, beinahe so schön wie Sie, Ma’am«, sagte Duff, merkte aber, dass seinen Worten jeder Funke fehlte, der sie hätte lebendig machen können.

»Sie ist nicht nur schön«, sagte Lady. »Ich nehme an, als Frau bei der Polizei muss sie auch viel geopfert haben, um so weit zu kommen. Eine eigene Familie beispielsweise. Ich sehe es ihr an, dass sie das geopfert hat. Sie auch, Duff?«

Graue Augen. Grau waren sie, nicht blau.

»Alle Frauen, die vorankommen wollen, müssen Opfer bringen, nehme ich an«, sagte Duff, hob sein Weinglas und stellte fest, dass es wieder leer war. »Familie ist auch nicht das Nonplusultra für jeden. Stimmen Sie mir da nicht zu, Ma’am?«

Lady zuckte mit den Schultern. »Wir Menschen sind praktisch veranlagt. Wenn sich unsere einmal getroffenen Entscheidungen nicht mehr ändern lassen, tun wir unser Bestes, um sie zu verteidigen, damit unsere Fehler uns nicht ständig heimsuchen und allzu sehr quälen. Ich denke, das ist das Rezept für ein glückliches Leben.«

»Sie haben also Angst, dass Sie von ihren Fehlern heimgesucht werden könnten, wenn Sie sich ihnen wirklich stellen würden?«

»Wenn eine Frau bekommen möchte, was sie will, muss sie denken und handeln wie ein Mann und kann nicht auf eine Familie Rücksicht nehmen. Weder auf ihre eigene noch auf die eines anderen.«

Duff zuckte zurück. Er versuchte, ihren Blick aufzufangen, aber sie hatte sich vorgebeugt, um die Gläser der Gäste um sich herum aufzufüllen. Im nächsten Augenblick klopfte Duncan gegen sein Glas, stand auf und räusperte sich.

Duff beobachtete Macbeth während der Dankesrede, die nicht nur dem Essen der Gastgeberin Ehre erwies und der Beförderung des Gastgebers, sondern der Mission, der sie sich alle verschrieben hatten: aus dieser Stadt einen Ort zu machen, an dem es sich wieder gut leben ließ. Und er schloss mit der Bemerkung, dass sie alle nach dieser langen Woche die Erholung verdient hätten, die der barmherzige Gott ihnen gewährt hatte, und dass sie weise wären, diese auch zu nutzen. Schließlich sei es nicht unwahrscheinlich, dass sich der Chief Commissioner in den kommenden Wochen nicht mehr als derartig gnädiger Gott erweisen würde.

Er wünschte allen eine gute Nacht, unterdrückte ein Gähnen und brachte einen Toast auf die Gastgeber aus. Während des darauffolgenden Applauses beobachtete Duff Macbeth. Er fragte sich, ob er den Toast erwidern würde – schließlich war Duncan Chief Commissioner. Aber Macbeth saß bloß da, bleich und steif wie ein Brett. Offenbar war er nicht vorbereitet auf diese neue Situation, seinen neuen Status und die Erwartungen, denen er sich nun stellen musste.

Duff zog den Stuhl für Lady zurück. »Haben Sie vielen Dank für diesen wunderbaren Abend, Ma’am.«

»Ebenso, Duff. Haben Sie den Schlüssel für Ihr Zimmer?«

»Hhm. Ich werde … anderswo übernachten.«

»Zuhause in Fife?«

»Nein, bei einem Cousin. Aber ich werde morgen sehr früh wieder hier sein, um Duncan abzuholen. Wir wohnen in Fife nicht weit auseinander.«

»Oh, wann kommen Sie?«

»Um sieben. Duncan und ich haben beide Kinder und … Na ja, es ist Wochenende. Da müssen wir Männer ran, Sie wissen ja, wie das ist.«

»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Lady mit einem Lächeln. »Dann schlafen Sie gut, Duff, und grüßen Sie Ihren Cousin von mir.«


Einer nach dem anderen verließen die Gäste die Bar und die Spieltische und gingen auf ihre Zimmer oder nach Hause. Macbeth stand am Empfang, schüttelte Hände und murmelte hohl klingende Abschiedsworte. Immerhin musste er hier keine Gespräche mit den Nachzüglern an der Bar führen.

»Du siehst wirklich nicht gut aus«, sagte Banquo mit etwas schwerer Zunge. Er war gerade von der Toilette gekommen und hatte seine schwere Pranke auf Macbeths Schulter gelegt. »Geh jetzt bloß ins Bett, damit du nicht noch andere Leute ansteckst.«

»Danke, Banquo. Aber Lady ist immer noch bei den Gästen in der Bar.«

»Der Chief ist jetzt schon fast vor einer Stunde schlafen gegangen, das heißt, du darfst das jetzt auch. Ich trinke nur noch mein Glas in der Bar aus, dann gehen Fleance und ich ebenfalls. Und dann will ich dich hier nicht mehr wie einen Rausschmeißer rumstehen sehen, okay?«

»Okay. Gute Nacht, Banquo.«

Macbeth sah zu, wie sein Freund auf unsicheren Beinen zur Bar zurückging. Schaute auf seine Uhr. Sieben Minuten vor Mitternacht. In sieben Minuten würde es passieren. Er wartete, bis es nur noch drei waren. Dann straffte er sich und schaute zur Doppeltür der Bar hinüber, wo Lady Malcolm und Lennox zuhörte. Als hätte sie seine Aufmerksamkeit gespürt, drehte sie sich genau in diesem Augenblick um, und ihre Blicke trafen sich. Sie nickte ihm unmerklich zu, und er nickte ebenfalls. Dann lachte sie über irgendetwas, das Malcolm gesagt hatte, und erwiderte etwas, das die beiden Männer ebenfalls lachen ließ. Sie war gut.

Macbeth ging die Treppe hinauf und schloss die Suite auf, die Lady und er bewohnten. Legte ein Ohr an die Tür zum Zimmer der Leibwächter. Das Schnarchen, das er hörte, klang gleichmäßig, selbstbewusst. Geradezu kunstlos. Er setzte sich aufs Bett. Fuhr mit der Hand über die glatte Bettdecke. Die Seide knisterte unter seinen rauen Fingerspitzen. Ja, sie war gut. Besser als er jemals sein würde. Vielleicht konnten sie das hier tatsächlich durchziehen – sie beide gemeinsam, Macbeth und Lady, etwas bewirken, die Stadt nach ihrem Bilde formen, fortsetzen, was Duncan begonnen hatte, und es weiter führen, als dieser es jemals für möglich gehalten hätte. Sie hatten die Entschlossenheit, die Kraft, und sie konnten Menschen für sich gewinnen. Aus dem Volk. Für das Volk. Mit dem Volk.

Seine Finger strichen über die beiden Dolche, die er auf dem Bett ausgelegt hatte. Aber wenn sich nicht wieder gezeigt hätte, dass Macht die Menschen korrumpierte und vergiftete, hätten sie dies nicht tun müssen. Wäre Duncans Herz rein und idealistisch gewesen, hätten sie darüber reden können, und Duncan hätte gewiss eingesehen, dass Macbeth der am besten geeignete Mann war, um seinen Traum in die Tat umzusetzen und die Stadt aus der Dunkelheit herauszuführen. Denn welche Träume Duncan auch haben mochte, die einfachen Leute aus der Stadt würden keinem Oberschichtsfremden aus Capitol folgen, oder? Nein, sie brauchten jemanden aus ihren eigenen Reihen. Duncan hätte der Navigator sein können, aber Macbeth hätte die Rolle des Kapitäns übernehmen müssen – solange er die Mannschaft dazu bringen konnte, zu gehorchen und das Schiff dorthin zu steuern, wo sie es beide haben wollten, in einen sicheren Hafen. Aber selbst wenn Duncan akzeptiert hätte, dass ein Machtwechsel im Interesse der Stadt lag, niemals hätte er seine Position für Macbeth aufgegeben. Duncan hatte viele Tugenden, aber er war nicht besser als alle anderen Menschen, die es an die Spitze gebracht hatten: Auch er stellte seine persönlichen Ambitionen über alles andere. So wie er alle umbrachte, die seiner Reputation schaden oder seine Autorität bedrohen konnten. Cawdors Leichnam war noch warm gewesen, als sie in seinem Haus eingetroffen waren.

War es nicht so? Ja, so war es. Es war so, es war so.

Null Uhr.

Macbeth schloss die Augen. Er musste in den Tunnel. Er zählte von zehn herunter. Öffnete die Augen. Fluchte, schloss sie erneut und begann noch einmal zu zählen. Schaute auf seine Uhr. Griff sich die Dolche, verstaute sie in den eigens angefertigten Schulterholstern mit einer Scheide auf jeder Seite. Dann ging er auf den Korridor hinaus, an der Tür der Leibwächter vorbei und blieb vor der zu Duncans Zimmer stehen. Lauschte. Nichts. Er atmete tief ein. Verschiedene Szenarien waren sie im Vorfeld durchgegangen; nun blieb nur noch die Tat selbst. Er steckte den Generalschlüssel ins Schloss, sah sein Spiegelbild auf dem glänzenden Türknauf aus poliertem Messing. Dann griff er danach und drehte ihn um. Vom erleuchteten Korridor aus versuchte er, so viel wie möglich zu erkennen, trat dann ein und schloss hinter sich die Tür.

Im Dunkeln hielt er den Atem an und lauschte auf Duncans Atem.

Ruhig, gleichmäßig.

Wie der von Lorreal. Dem Direktor des Waisenhauses.

Nein, lass jetzt nicht diesen Gedanken hochkommen.

Duncans Atem verriet ihm, dass er im Bett lag und schlief. Macbeth ging zur Badezimmertür, schaltete im Bad das Licht ein und ließ die Tür einen Spaltbreit offen. Genug Licht für das, was er tun würde.

Was er tun würde.

Er stellte sich neben das Bett und schaute auf den arglos schlafenden Mann hinunter. Dann richtete er sich auf. Was für eine Ironie. Er hob einen Dolch. Einen wehrlosen Mann zu töten – einfacher ging es doch nicht, oder? Die Entscheidung war gefallen, nun musste er sie nur noch ausführen. Hatte er nicht bereits sein erstes wehrloses Opfer getötet, auf jener Straße nach Forres? Hatte er seine Jungfräulichkeit nicht bereits verloren, hatte er nicht an Ort und Stelle seine Schuld an Duff zurückgezahlt, und zwar in derselben Währung, die Duff vorgegeben hatte: in kaltem Blut? Er hatte Lorreals heißes Blut auf das weiße Laken strömen sehen, das Blut, das in der Dunkelheit schwarz ausgesehen hatte. Was also hielt ihn diesmal zurück? Wodurch unterschied sich diese Verschwörung von dem Augenblick, als er und Duff den Tatort manipuliert hatten, damit alle in Forres gefundenen Beweise mit der Geschichte übereinstimmten, die sie erzählen würden? Genau wie bei der Version, auf die sie sich damals im Waisenhaus geeinigt hatten. Und manchmal steht auch Grausamkeit auf der guten Seite, Macbeth. Er hob den Blick von der Klinge, die im Badezimmerlicht schimmerte.

Er senkte den Dolch.

Er konnte es nicht.

Aber er musste es tun. Musste es. Er musste es können. Aber was sollte er machen, wenn er der Sache nicht mal in seinem Tunnel gewachsen war?

Er musste zu dem anderen Macbeth werden, den er so tief in sich vergraben hatte, zu dem wahnsinnigen, fleischfressenden Untoten, der er nie wieder hatte sein wollen.


Banquo starrte die große, leblose Lokomotive an, während er sich den Hosenstall aufknöpfte. Er schwankte im Wind. Er war ein bisschen betrunken, das wusste er.

»Komm schon, Dad«, ertönte Fleances Stimme hinter ihm.

»Wie spät ist es denn, Sohn?«

»Keine Ahnung, aber der Mond steht hoch.«

»Also nach zwölf. Für heute Nacht ist Sturm vorausgesagt.« Das Pistolenholster, das zwischen der ersten und zweiten Schlaufe an seinem Gürtel hing, war ihm im Weg. Er nahm es ab und reichte es Fleance.

Sein Sohn nahm es mit resigniertem Stöhnen an. »Dad, das ist ein öffentlicher Platz. Du kannst doch nicht …«

»Es ist ein öffentliches Urinal, das ist es«, lallte Banquo und bemerkte im selben Augenblick, wie eine schwarz gekleidete Gestalt um die Lok bog und auf sie zukam. »Gib mir die Waffe, Fleance!«

Das Licht fiel auf das Gesicht des Mannes.

»Ach, du bist es bloß.«

»Und bist du es, Banquo?«, fragte Macbeth. »Ich musste ein bisschen frische Luft schnappen.«

»Und ich musste den alten Kumpel hier mal ein bisschen frische Luft schnappen lassen«, sagte Banquo mit schwerer Zunge. »Nein, ich hatte nicht vor, auf Bertha zu pissen. Schließlich würde das bedeuten – jetzt, wo sie die St. Joseph’s Church dichtgemacht haben –, das letzte Heiligtum dieser Stadt zu entweihen.«

»Ja, vielleicht.«

»Ist irgendwas los?«, fragte Banquo und versuchte sich zu entspannen. Es fiel ihm immer schwer, in der Gegenwart von Fremden zu pissen, aber bei Macbeth und seinem Sohn?

»Nein«, sagte Macbeth in einem merkwürdig neutralen Ton.

»Letzte Nacht hab ich von den drei Schwestern geträumt«, sagte Banquo. »Wir haben nie darüber geredet, aber mit ihrer Prophezeiung haben sie voll ins Schwarze getroffen. Oder was meinst du?«

»Oh, ich hatte sie ganz vergessen. Lass uns wann anders darüber reden.«

»Wie du willst.« Banquo spürte, dass der Strahl nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.

»Nun«, sagte Macbeth. »Eigentlich wollte ich dich was fragen, als mein Stellvertreter bei der Organisierten Kriminalität. Stell dir vor, es würde wirklich so etwas passieren wie das, was die Schwestern vorhergesagt haben.«

»Ja und?« Banquo stöhnte auf. Er hatte die Geduld verloren, hatte es erzwingen wollen, und damit war der Strom versiegt.

»Ich würde mich freuen, wenn du mir in dem Fall ebenso zur Seite stehen würdest.«

»Dein Deputy Chief Commissioner werden? Haha, ja, mach noch so einen Witz.« Plötzlich wurde Banquo klar, dass Macbeth es ernst gemeint hatte. »Natürlich, mein Junge, natürlich. Du weißt, ich bin immer bereit, jemandem zu folgen, der für die gute Sache kämpft.«

Sie schauten einander an. Und dann – wie von Zauberhand – kam es. Banquo schaute hinab, und ein majestätischer goldener Strahl schoss unerschrocken über das große Hinterrad der Lokomotive und rann auf das Stück Gleis darunter.

»Gute Nacht, Banquo. Gute Nacht, Fleance.«

»Gute Nacht, Macbeth«, antworteten Vater und Sohn einstimmig.

»War Onkel Mac betrunken?«, fragte Fleance, als Macbeth verschwunden war.

»Betrunken? Du weißt doch, dass er nicht trinkt.«

»Ja, ich weiß, aber er war so komisch.«

»Komisch?« Banquo grinste bitter und betrachtete zufrieden seinen kontinuierlichen Strahl. »Glaub mir, der Junge ist nicht komisch, wenn er einen sitzen hat.«

»Wie ist er dann?«

»Er verliert den Verstand.«

Unversehens wurde der Strahl von einem Windstoß zur Seite geweht.

»Der Sturm«, sagte Banquo und knöpfte sich die Hose zu.


Macbeth ging einmal um den Bahnhof herum. Als er wieder am Ausgangspunkt ankam, waren Banquo und Fleance verschwunden, also betrat er die große Wartehalle.

Er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten und teilte die Anwesenden unwillkürlich in vier Kategorien: die Dealer, die Süchtigen, die, die beides waren, und diejenigen, die einen Platz zum Schlafen brauchten, Schutz vorm Regen suchten und bald zu einer der ersten drei Gruppen gehören würden. Das war der Pfad, dem er früher selbst gefolgt war. Vom Flüchtling aus dem Waisenhaus, der von der Heilsarmee etwas zu essen und zu trinken bekommen hatte, zu einem Konsumenten, der sich seinen Stoff finanzierte, indem er selbst welchen verkaufte.

Macbeth ging zu einem älteren, dicklichen Mann im Rollstuhl hinüber.

»Ein Viertel Brew«, sagte er. Der Klang dieser Worte genügte, um etwas in seinem Körper zu wecken, das lange Zeit im Winterschlaf gelegen hatte.

Der Mann im Rollstuhl schaute auf. »Macbeth.« Er spie den Namen regelrecht aus in einer Fontäne aus Speichel. »Ich erinnere mich an dich, und du erinnerst dich an mich. Du bist ein Polizist, und ich verkaufe keinen Stoff, okay? Jetzt mach, dass du wegkommst, zur Hölle mit dir!«

Macbeth ging zum nächsten Dealer, einem Mann in kariertem Hemd, der so high war, dass er nicht stillstehen konnte.

»Halten Sie mich für einen Idioten?«, brüllte er. »Bin übrigens einer. Sonst wär ich ja nicht hier, oder? Aber einem Cop was zu verkaufen und für vierundzwanzig Stunden im Knast zu landen, wo ich genau weiß, dass ich es keine vier Stunden ohne Schuss aushalte?« Er lehnte sich an die Wand, und sein Gelächter hallte von der Decke wider. Macbeth ging tiefer in den Bahnhof hinein, marschierte durch einen der Gänge in die Abfahrtshalle und hörte, wie der Ruf des Dealers ihm hinterherschallte: »Verdeckter Ermittler im Anmarsch, Leute!«

»Hi, Macbeth«, sagte eine dünne, schwache Stimme.

Macbeth drehte sich um. Es war der Junge mit der Augenklappe. Macbeth ging zu ihm hinüber und hockte sich an der Wand auf den Boden. Die schwarze Klappe war hochgerutscht, sodass Macbeth die geheimnisvolle Dunkelheit der Augenhöhle sehen konnte.

»Ich brauche ein Viertel Brew«, sagte Macbeth. »Kannst du mir helfen?«

»Nein«, sagte der Junge. »Ich kann niemandem helfen. Können Sie mir helfen?«

Macbeth erkannte etwas in seinem Gesichtsausdruck wieder. Es war, als würde er in einen Spiegel schauen. Was zur Hölle tat er hier eigentlich? Mithilfe guter Menschen hatte er es geschafft, davon loszukommen, und nun kehrte er hierher zurück? Um eine Tat zu verüben, die so furchtbar war, dass selbst der elendste Drogenabhängige vor ihr zurückschrecken würde? Er konnte sich immer noch weigern. Er konnte diesen Jungen mit ins Inverness nehmen. Ihm zu essen geben, eine Dusche und ein Bett. Diese Nacht konnte ganz anders ablaufen, als er geplant hatte, es gab immer noch diese Möglichkeit. Die Möglichkeit, sich selbst zu retten. Den Jungen. Duncan. Lady.

»Komm. Lass uns …«, begann Macbeth.

»Macbeth.« Die Stimme hinter ihm grollte wie Donner durch den Gang. »Deine Gebete sind erhört worden. Ich habe, was du brauchst.«

Macbeth drehte sich um. Hob den Blick. Noch höher. »Woher hast du gewusst, dass ich hier bin, Strega?«

»Wir haben unsere Augen und Ohren überall. Hier, bitte schön. Ein Geschenk von Hecate.«

Macbeth betrachtete einen kleinen Beutel, der ihm in die Hand gedrückt worden war. »Ich will bezahlen. Wie viel?«

»Ein Geschenk bezahlen? Ich glaube, das würde Hecate als Beleidigung auffassen. Ich wünsche dir eine gute Nacht.« Strega drehte sich um und ging davon.

»Dann nehme ich es nicht an«, rief Macbeth. Er schleuderte den Beutel hinter ihr her, aber die Dunkelheit hatte sie bereits verschluckt.

»Wenn Sie es nicht wollen …«, sagte die dünne, einäugige Stimme. »Ist es okay, wenn ich …«

»Bleib, wo du bist«, erwiderte Macbeth kalt und ohne sich zu rühren.

»Was wollen Sie tun?«, fragte der Junge.

»Was ich will?«, wiederholte Macbeth. »Es geht nie darum, was man tun will, sondern was man tun muss.«

Er ging auf den Beutel zu und hob ihn auf. Kam zurück. Ging an der ausgestreckten Hand des Jungen vorbei.

»Hey, wollen Sie nicht …«

»Fahr zur Hölle«, knurrte Macbeth. »Wir sehen uns da.«


Macbeth ging die Treppe hinunter zu den stinkenden Toiletten, verscheuchte eine Frau, die auf dem Boden saß, riss den Beutel auf, streute das Pulver auf das Waschbecken unter den Spiegeln, zerdrückte die kleinen Klumpen mit der stumpfen Seite eines Dolches und hackte sie mit der Klinge in noch feinere Partikel. Dann rollte er einen Geldschein zusammen und zog das gelblich-weiße Pulver erst durch das eine Nasenloch, dann durch das andere. Die Chemikalien benötigten nur eine überraschend kurze Zeit, um durch die Schleimhäute in sein Blut zu gelangen. Sein letzter Gedanke, bevor das drogenversetzte Blut sein Gehirn erreichte, war, dass es sich anfühlte, als erneuerte man die Bekanntschaft mit einer Geliebten. Mit einer viel zu schönen, viel zu gefährlichen Geliebten, die in all den Jahren überhaupt nicht gealtert war.


»Was habe ich dir gesagt?« Hecate stieß die Spitze seines Stockes auf den Boden neben den Überwachungsmonitoren.

»Sie sagten, es gäbe nichts Vorhersehbareres als einen liebeskranken Ex-Junkie, der sich moralisch überlegen fühlt.«

»Vielen Dank, Strega.«


Macbeth blieb am oberen Ende der Bahnhofstreppe stehen.

Vor ihm schwankte der Worker’s Square wie eine stürmische See. Die Pflastersteine hoben und senkten sich, als brächen sich unter ihnen die Wellen. Es klang wie Zähneklappern. Tief unter dem Inverness fuhr ein Raddampfer, erfüllt von Musik und Gelächter, und seine Lichter ließen das Wasser glitzern, das von seinem sich langsam drehenden, dröhnenden Rad floss.

Dann setzte er sich in Bewegung. Durch die schwarze Nacht zurück zum Inverness. Er schien durch die Luft zu gleiten, ohne dass seine Füße den Boden berührten. Er schwebte durch die Tür und durch die Empfangshalle. Der Rezeptionist schaute ihn an und nickte ihm freundlich zu. Macbeth wandte sich dem Spielsaal zu und sah, dass sich Lady, Malcolm und Duff noch immer an der Bar unterhielten. Dann bewegte er sich die Treppe hinauf, als würde er fliegen, den Korridor entlang und bis zu Duncans Tür.

Macbeth schob den Generalschlüssel ins Schluss, drehte den Knauf und ging hinein.

Er war zurück. Nichts hatte sich verändert. Die Badezimmertür stand immer noch einen Spaltbreit offen, und innen brannte noch das Licht. Er ging zum Bett hinüber. Schaute hinab auf den schlafenden Chief Commissioner, steckte seine linke Hand in die Tasche und fand den Griff des Dolches.

Er hob die Hand. Es war jetzt so viel leichter. Er zielte aufs Herz. So wie er auf das Herz gezielt hatte, das in die Eiche geschnitzt worden war. Damals hatte das Messer ein Loch gebohrt zwischen die beiden Namen, Meredith und Macbeth.

»Schlaft nicht mehr! Macbeth mordet den Schlaf!«

Macbeth erstarrte. War es der Chief Commissioner gewesen, der Stoff oder er selbst, der diese Worte gesprochen hatte?

Er schaute hinab auf Duncans Gesicht. Nein, die Augen waren immer noch geschlossen, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Aber dann bemerkte er, wie sich Duncans Augen öffneten. Ihn ruhig ansahen. »Macbeth?« Der Blick des Chief Commissioners wanderte zum Dolch.

»Ich dachte, ich hätte G-g-geräusche aus diesem Zimmer gehört«, sagte Macbeth. »Ich sehe lieber mal nach.«

»Meine Leibwächter …«

»D-d-d-die hab ich schnarchen hören.«

Duncan lauschte einen Augenblick. Dann gähnte er. »Gut. Lass sie schlafen. Ich bin hier sicher, das weiß ich. Danke, Macbeth.«

»Keine Ursache, Sir.«

Macbeth ging zur Tür. Jetzt schwebte er nicht mehr. Ein Gefühl der Erleichterung, ja, von Glück sogar, breitete sich in seinem Körper aus. Er war gerettet. Der Chief Commissioner hatte ihn befreit. Lady konnte tun und sagen, was sie wollte, aber diese Geschichte hörte hier auf. Fünf Schritte. Er griff mit seiner freien Hand nach dem Türknauf.

Dann eine Bewegung, die sich in dem polierten Messing spiegelte.

Im Licht aus dem Badezimmer sah er wie in einem Vexierspiegel, wie in einem absurden, verzerrten Film, dass der Chief Commissioner etwas unter seinem Kopfkissen hervorzog und auf seinen Rücken richtete. Eine Waffe. Fünf Schritte. Wurfabstand. Macbeth reagierte instinktiv. Wirbelte herum. Er war aus dem Gleichgewicht, und der Dolch verließ seine Hand, noch mitten in der Bewegung.

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