14

Macbeth fuhr auf der dreckigen Straße zwischen den alten Fabriken hindurch. Die Wolken hingen so tief und montagsgrau über den Schornsteinen, dass schwer zu erkennen war, welcher von beiden rauchte, aber an einigen der Türen hingen GESCHLOSSEN-Schilder oder ihnen waren Ketten vorgelegt, die absurderweise aussahen wie Smokingfliegen.

Die Pressekonferenz war eine schmerzlose Angelegenheit gewesen. Schmerzlos, weil er zu high gewesen war, um irgendetwas zu empfinden. Er hatte sich darauf konzentriert, sich entspannt und mit verschränkten Armen zurückzulehnen und die Beantwortung der Fragen Lennox und Caithness zu überlassen. Abgesehen von denen, die an ihn persönlich gerichtet gewesen waren und die er mit einem »Das können wir zurzeit nicht kommentieren« abgefertigt hatte. Dazu ein Gesichtsausdruck, der deutlich machen sollte, dass sie bei der Polizei bereits über ausreichend Informationen verfügten und alles unter Kontrolle hatten. Ruhig und selbstsicher. Diesen Eindruck hatte er zu erwecken gehofft. Ein Interims-Chief-Commissioner, der sich von der allgemeinen Hysterie nicht anstecken ließ und mit resigniertem, nachsichtigem Lächeln die schrillen Fragen der Journalisten entgegennahm: »Hat denn die Öffentlichkeit kein Recht darauf, informiert zu werden?«

Allerdings hatte Kite, der Reporter mit den gerollten Rs, in seiner Radiosendung direkt nach der Pressekonferenz berichtet, der vorläufige Chief Commissioner habe oft gegähnt, einen gleichgültigen Eindruck gemacht und immer wieder auf die Uhr gesehen. Aber zur Hölle mit Kite. Die Kollegen vom Streifendienst fanden den neuen Chief Commissioner ganz gewiss nicht gleichgültig, schließlich war er persönlich vorbeigekommen und hatte die Streifenwagen aus dem westlichen Distrikt 2 zum östlichen Distrikt 1 beordert. Er hatte ihnen erklärt, es sei an der Zeit, auch in den Vierteln Streife zu fahren, in denen die ganz normalen Leute lebten. Es gehe darum, ein wichtiges Signal zu senden: Die Polizei gab keineswegs den wohlhabenden, einflussreichen Vierteln den Vorzug. Kite mochte unzufrieden gewesen sein, dafür hatte sich Banquo sehr über eine Einladung zum Abendessen gefreut, zu dem er unbedingt auch Fleance mitbringen sollte.

»Ist gut für den Jungen, wenn er sich dran gewöhnt, mit wichtigen Leuten zusammenzukommen«, hatte Macbeth gesagt. »Außerdem hab ich mir überlegt, dass du dir selbst aussuchen solltest, was du in Zukunft machen willst. Ob du das SWAT-Team übernimmst, das Dezernat für Organisierte Kriminalität oder ob du Deputy Chief Commissioner wirst.«

»Ich?«

»Mach dir jetzt keinen Stress deswegen. Überleg es dir einfach in Ruhe, okay?«

Banquo hatte leise aufgelacht und den Kopf geschüttelt. Sanft wie immer. Als habe er keinen einzigen bösen Gedanken in seinem Kopf. Oder zumindest keinerlei schlechtes Gewissen deswegen.

Nun, heute Nacht würde der Verräter seinem Schöpfer gegenübertreten. Und seinem Vernichter.

Niemand stand am Tor zum Clubhaus der Norse Riders. Sie hatten wahrscheinlich niemanden mehr, der Wache halten konnte.

Macbeth stieg aus seinem Wagen und ging in den Clubraum. Blieb im Türrahmen stehen und schaute sich um. Eine merkwürdig lange Zeit schien vergangen zu sein, seit er genau hier neben Duff gestanden und den Raum in Augenschein genommen hatte. Nun war die lange Tafel verschwunden, und an der Bar standen drei in Leder gekleidete Männer mit tief hängenden Wampen und zwei Frauen mit hochgezurrten Brüsten. Eine trug ein Baby auf dem muskulösen Arm, auf den der Name SEAN tätowiert war.

»Colin, ist das nicht der …?«, flüsterte sie.

»Ja«, sagte der glatzköpfige Mann mit dem Walrossschnäuzer leise. »Das ist der, der Sean erwischt hat.«

Macbeth erinnerte sich an den Namen aus dem Bericht. Komischerweise vergaß er ständig die Namen von Leuten, die er persönlich getroffen hatte, aber nie die Namen, die in den Berichten auftauchten. Sean. Das war derjenige, der am Tor Wache gestanden hatte, dem Macbeth das Messer in die Schulter geschleudert und den sie als Geisel benutzt hatten. Einer von denen, die immer noch in Haft saßen.

Der Mann funkelte den Polizeibeamten vor sich mit offenem Mund an. Macbeth atmete tief ein. Es war so still, dass er die Bodendielen unter seinen Schuhen knarren hörte, als er zur Bar hinüberging. Er wandte sich an die Lederjacke hinterm Tresen und ertappte sich bei dem Gedanken, dass er die letzte Linie lieber nicht hätte durchziehen sollen, bevor er im Hauptquartier aufgebrochen war. Brew hatte die Angewohnheit, ihn unverschämt zu machen. Und seine Sorge bestätigte sich auch, als er sich sagen hörte: »Hallo. Ist ja nicht viel los hier, wo sind denn alle? Ach ja, stimmt. Im Knast. Oder im Leichenschauhaus. Einen Glendoran, bitte.«

Macbeth sah, wie der Blick des Barkeepers zur Seite huschte, wusste, dass ihm ein Angriff von links bevorstand, und hatte immer noch massenhaft Zeit. Macbeth hatte immer gute Reflexe gehabt, aber mit Brew im Blut war er wie eine Fliege – er konnte gähnen, sich den Rücken kratzen, einen ausgiebigen Blick auf den unfassbar langsamen Sekundenzeiger seiner Armbanduhr werfen, während eine Faust in seine Richtung unterwegs war. Aber als Colin mit dem Walrossschnäuzer schon meinte, er habe so gut wie getroffen, wich Macbeth aus, und die Faust, deren Ziel seine frisch gestutzten Schläfen gewesen waren, schoss ins Nichts. Macbeth hob seinen Ellenbogen und stieß damit zu. Er spürte kaum den Einschlag, hörte nur ein Stöhnen, das Knacken von Knorpeln, taumelnde Schritte und umstürzende Barhocker.

»Auf Eis«, sagte Macbeth.

Dann drehte er sich gerade noch rechtzeitig zu dem Mann hinter ihm um, der seine rechte Hand zur Faust geballt und weit ausgeholt hatte, um damit zuzuschlagen. Macbeth hob die Hand und fing Colins Faust auf halber Strecke ab. Aber statt des erwarteten Knackens von Knochen auf Knochen ertönte das weiche Geräusch, das Stahl verursacht, der in Fleisch eindringt, gefolgt von einem dumpfen Schlag, als Colins Knöchel auf den Griff auftrafen. Dann sein langer Schrei, als er sah, dass der Dolch durch seine zur Faust geballte Hand bis zum Unterarm durchgedrungen war. Macbeth zog ihn mit einem Ruck heraus.

»… und ein Spritzer Soda.«

Der Mann mit dem Walrossschnäuzer ging auf die Knie.

»Was zur Hölle ist hier los?«, fragte eine Stimme.

Sie kam von der Tür, die zur Garage führte. Der Mann trug einen langen Bart und eine Lederjacke mit drei Streifen auf jeder Schulter. Sowie eine abgesägte Schrotflinte in beiden Händen.

»Ich möchte was bestellen«, sagte Macbeth und wandte sich wieder an den Barkeeper, der sich noch immer nicht gerührt hatte.

»Was wollen Sie bestellen?«, fragte der Mann und kam näher.

»Whiskey. Unter anderem.«

»Und was sonst noch?«

»Sie sind der Sergeant. Sie schmeißen den Laden hier, wenn Sweno nicht da ist, oder? Apropos, wo versteckt er sich denn diesmal?«

»Sagen Sie, was Sie sagen wollten, und dann verschwinden Sie hier, Bullenabschaum.«

»Ich lasse ja nichts auf Ihren Laden kommen, aber der Service könnte wirklich schneller und freundlicher sein. Wie wär’s, wenn wir beide das ganz entspannt in einem Hinterzimmer besprechen, Sergeant?«

Der Mann schaute Macbeth eine Weile an. Dann senkte er den Gewehrlauf. »Mehr Schaden können Sie hier sowieso nicht mehr anrichten.«

»Stimmt. Und Sweno wird meine Bestellung gefallen, das garantier ich Ihnen.«

Im kleinen Büro des Sergeant hingen Poster von Motorrädern an den Wänden, und auf den Regalen lagen kleine Maschinenteile. Es gab einen Tisch, ein Telefon, eine Papierablage und einen Stuhl für Besucher.

»Machen Sie es sich nicht zu gemütlich, Bulle.«

»Ich würde gerne einen Mord in Auftrag geben.«

Wenn der Sergeant geschockt war, zeigte er es nicht. »Falsche Adresse. Wir machen solche Sachen nicht mehr für Bullen.«

»Dann stimmt das Gerücht also? Ihr habt für Kenneths Leute früher solche Jobs erledigt?«

»Wenn das alles war …«

»Nur dass es diesmal kein Mitbewerber wäre, den ihr ins Jenseits befördern sollt«, sagte Macbeth und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Es sind zwei Cops. Und die Bezahlung wäre, dass eure Norse Riders anschließend unverzüglich auf freien Fuß gesetzt und alle Anklagen fallen gelassen werden.«

Der Sergeant hob eine Augenbraue. »Und wie sollten Sie das anstellen?«

»Verfahrensfehler. Unsaubere Beweisführung. Die Scheiße passiert andauernd. Und wenn der Chief Commissioner sagt, dass wir nicht genügend Anhaltspunkte haben, ist der Fall gestorben.«

Der Sergeant verschränkte die Arme. »Sprechen Sie weiter.«

»Die Person, die ausgeschaltet werden muss, ist derjenige, der dafür gesorgt hat, dass der Stoff, mit dem ihr euch bis ans Lebensende gesundstoßen wolltet, im Fluss gelandet ist. Inspector Banquo.« Macbeth sah, wie der Sergeant langsam nickte. »Der andere ist ein Polizeianfänger, der im selben Wagen sitzen wird.«

»Und warum sollen sie die Reise antreten?«

»Ist das wichtig?«

»Normalerweise würde ich nicht fragen, aber wir reden hier von Polizisten, und das bedeutet, es wird jede Menge Ärger geben.«

»Nicht bei diesen beiden. Wir wissen, dass Inspector Banquo für Hecate arbeitet. Wir können es bloß nicht beweisen, also müssen wir ihn auf andere Weise loswerden. Aus unserer Sicht ist das die beste Option.«

Der Sergeant nickte erneut. Macbeth hatte fest damit gerechnet, dass ihm das einleuchten würde.

»Woher sollen wir wissen, dass Sie Ihren Teil eines möglichen Abkommens einhalten?«

»Nun«, sagte Macbeth und schielte zu dem Kalendermädchen über dem Kopf des Sergeant hinauf. »Wir haben fünf Zeugen hier in der Bar, die beeiden können, dass Interims-Chief-Commissioner Macbeth persönlich hier war und Ihnen einen Auftrag gegeben hat. Sie glauben doch nicht, dass ich Ihnen einen Grund geben will, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, oder?«

Der Sergeant lehnte sich mit seinem Stuhl so weit zurück, dass er die Wand berührte, und musterte Macbeth, während er einige knurrende Laute von sich gab und an seinem Bart zupfte. »Und wann und wo würde dieser Job theoretisch über die Bühne gehen?«

»Heute Abend. Sie kennen doch Gallows Hill im Distrikt 2 West?«

»Da haben sie meinen Ururgroßvater aufgehängt.«

»Auf der Hauptstraße oberhalb der kleinen Gassen, in denen die Leute aus dem West End einkaufen gehen, gibt es eine große Kreuzung.«

»Ich weiß, welche Sie meinen.«

»Sie werden in einem schwarzen Volvo irgendwann zwischen halb sieben und zehn vor sieben an der Ampel stehen. Vermutlich ziemlich genau um Viertel vor. Banquo ist ein pünktlicher Mann.«

»Hm. Da sind immer ziemlich viele Streifenwagen unterwegs.«

Macbeth lächelte. »Nicht heute Nacht.«

»Ach, wirklich? Ich denke darüber nach und gebe Ihnen meine Antwort um vier.«

Macbeth lachte. »Sweno wird darüber nachdenken, meinen Sie. Großartig. Dann schreiben Sie sich mal meine Telefonnummer und das Kennzeichen des Wagens auf. Und noch etwas.«

»Aha?«

»Ich will ihre Köpfe.«

»Wessen?«

»Die von den zwei Cops. Ich will ihre Köpfe. Lieferung bis zur Haustür.«

Der Sergeant starrte Macbeth an, als hielte er ihn für verrückt.

»Der Kunde erbittet eine Quittung«, sagte Macbeth. »Als ich das letzte Mal einen vergleichbaren Job in Auftrag gegeben habe, hab ich keine Quittung verlangt, und das war ein Fehler. Ich habe nicht bekommen, was ich bestellt hatte.«


Spät am Nachmittag traf Duff eine Entscheidung.

Er hatte die Gedanken stundenlang in seinem Kopf gewälzt, doch sein Gehirn schien ebenso verstopft wie die Straße vor ihm, und es gab zu viele mögliche Abzweigungen. Man hatte das Geländer auf der Kenneth-Brücke immer noch nicht erneuert, also wurde der Verkehr in Richtung Osten über die alte Brücke umgeleitet, und die Schlange reichte bis hinauf zum Distrikt 2, wo sich Duffs Wagen im Schneckentempo von Kreuzung zu Kreuzung schob. Jede warf eine weitere Frage auf: nach links, nach rechts, geradeaus – wie ging es am schnellsten?

Duff befand sich aber auch an einem persönlichen Scheideweg: Sollte er Macbeth und den anderen erzählen, was er am Kai herausgefunden hatte? Sollte er es für sich behalten? Aber angenommen, der einäugige Junge sagte nicht die Wahrheit oder Banquo wäre in der Lage, die Vorwürfe zu entkräften? Was wären die Konsequenzen für Duff, wenn er in dieser chaotischen Gesamtsituation falsche Anschuldigungen gegen Banquo erhob? Schließlich war der zusammen mit Macbeth plötzlich zu einer mächtigen Figur geworden.

Duff konnte die Informationen natürlich einfach genauso weitergeben, wie er sie selbst erhalten hatte, und es Lennox und Macbeth überlassen, sie auszuwerten. Damit aber würde ihm die Chance entgehen, einen bitter nötigen persönlichen Triumph einzufahren, indem er Banquo eigenhändig demaskierte und verhaftete.

Andererseits konnte er sich nach seinem Einsatz am Hafen keinen weiteren Reinfall leisten. Damit hatte er die Leitung des neuen Dezernats verspielt; ein weiteres Versagen konnte ihn leicht den Job kosten.

Noch eine Kreuzung: Das Dezernat für Organisierte Kriminalität würde wieder zur Verfügung stehen, wenn Macbeth Chief Commissioner wurde. Wenn Duff nun die Gelegenheit ergriff, wenn er etwas wagte und gewann, konnte die Abteilung doch noch an ihn übergehen.

Er hatte überlegt, ob er Caithness um Rat fragen sollte, aber dann wäre die Katze aus dem Sack. Er könnte nicht mehr unschuldig tun und wäre gezwungen, irgendetwas zu unternehmen. Ein Risiko einzugehen.

Bei dem Weg, für den er sich schließlich entschied, riskierte er wenig, am Ende aber, wenn alles lief wie erhofft, würde er den ganzen Ruhm einstreichen.

Duff bog von der kleinen Bahnbrücke ab und auf den Hof vor dem bescheidenen Backsteingebäude auf der anderen Seite. Er hatte mehr als eine Dreiviertelstunde gebraucht, um die kurze Strecke vom Polizeihauptquartier bis zu Banquo zurückzulegen.

»Duff«, sagte Banquo, der Sekunden, nachdem Duff geklingelt hatte, bereits die Tür öffnete. »Was gibt’s?«

»Eine Party, wie’s aussieht«, entgegnete Duff.

»Ja, und deshalb kann ich mich auch nicht entscheiden, ob ich das hier mitnehmen soll oder nicht.« Banquo hob das Holster mit seiner Dienstwaffe hoch.

»Lass sie hier. Sie wird nur deinen Anzug ausbeulen. Aber dein Krawattenknoten ist nicht gut.«

»Nicht?« Banquo presste das Kinn auf seinen weißen Hemdkragen, als könnte er den Knoten so in Augenschein nehmen. »Fünfzig Jahre lang ist der gut genug gewesen, seit meiner Konfirmation.«

»Das ist ein Arme-Leute-Knoten, Banquo. Komm, ich zeig dir mal, wie’s geht …«

Banquo wehrte Duffs Hilfe ab, indem er seine Hand über den Knoten legte. »Ich gehöre zu den armen Leuten, Duff. Und ich nehme an, du bist hier, weil du Unterstützung brauchst, nicht, weil du sie gewähren willst.«

»Das stimmt allerdings, Banquo. Darf ich reinkommen?«

»Ich würde dir ja gern Hilfe und Kaffee anbieten, aber ich fürchte, wir sind schon auf dem Sprung.« Banquo legte das Waffenholster auf die Hutablage hinter sich und rief die Treppe hinauf: »Fleance!«

»Komme!«, ertönte als Antwort.

»Wir können solange rausgehen«, sagte Banquo und knöpfte sich den Mantel zu.

Sie standen auf den weißen Stufen unter dem kleinen Vordach. Fröhlich gurgelte der Regen aus den Rinnen, während Banquo Duff eine Zigarette anbot. Als der Inspector dankend ablehnte, zündete er sich selber eine an.

»Ich war heute noch mal im Containerhafen«, sagte Duff. »Ich habe da einen Jungen getroffen, einen unserer jungen Abhängigen, der mit mir reden wollte. Er hat nur ein Auge. Er hat mir erzählt, wie er das andere verloren hat.«

»Mhm.«

»Er hatte wahnsinnigen Druck, war aber pleite. Unten im Hauptbahnhof hat er einen alten Mann getroffen und ihn um etwas Geld angebettelt. Der alte Mann hatte einen Gehstock mit goldener Spitze.«

»Hecate?«

»Der alte Mann blieb stehen, holte einen Beutel hervor, den er vor dem Jungen baumeln ließ, und behauptete, es handele sich um erstklassiges Brew, direkt aus dem Kessel. Der Junge könne es haben, wenn er zwei Dinge für ihn tun würde. Zuerst sollte er ihm folgende Frage beantworten: Welchen deiner Sinne zu verlieren würde dir am meisten Angst machen? Als der Junge antwortete, es wäre sein Augenlicht, sagte der alte Mann, er wolle eins seiner Augen haben.«

»Das war Hecate.«

»Als der Junge den alten Mann fragte, warum er sein Auge haben wolle, antwortete Hecate, dass er sowieso schon alles besitze. Ihm bleibe also nur das, was für den Kunden am wertvollsten sei, nicht für ihn selbst. Außerdem gehe es ja nur um sein halbes Augenlicht, ach, nicht einmal das. Er solle nur daran denken, wie wertvoll sein zweites Auge anschließend wäre. Verlust und Gewinn wären geradezu gleichwertig.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Tja, aber so sind manche Menschen eben. Sie begehren die Macht selbst mehr als das, was sie ihnen verschaffen könnte. Sie besitzen lieber einen wertlosen Baum als die Frucht, die an ihm wächst. Nur, damit sie darauf zeigen und sagen können: Der gehört mir. Und dann fällen sie ihn.«

Banquo stieß eine Rauchwolke aus. »Wofür hat der Junge sich entschieden?«

»Ein Mannweib, das bei dem alten Mann war, half ihm dabei, das Auge herauszunehmen. Und als er anschließend seinen Schuss bekam, war aller Schmerz, den er jemals erlitten hatte, verschwunden – alle Narben wurden davon geglättet, alle schlimmen Erinnerungen ausgelöscht. Der Junge sagte, es sei so wundervoll gewesen, dass er es bis heute nicht bereuen könne. Er jagt ihm immer noch hinterher, diesem perfekten Schuss.«

»Und worauf hatte er es heute abgesehen, als du ihn getroffen hast?«

»Dasselbe. Außerdem auf denjenigen, der ihm sein Auge genommen hat, bloß weil er es konnte.«

»Bei all den Leuten, die Hecate erwischen wollen, wird er sich hinten anstellen müssen.«

»Er hatte eher daran gedacht, uns dabei zu helfen, Hecate zu erwischen.«

»Und wie sollte ein armer Junkie das tun?«

»Malcolms sogenannter Selbstmordbrief versucht, die Norse Riders vors Loch zu schieben. Der Junge meint aber, dass Hecate hinter alledem steckt. Und dass Hecate mit Malcolm gemeinsame Sache macht. Und vielleicht noch mit anderen bei uns in der Truppe.«

»Eine beliebte Theorie heutzutage.« Banquo schnippte die Asche von seiner Zigarette und schaute auf seine Uhr. »Hat er Geld dafür bekommen?«

»Nein«, sagte Duff. »Geld hat er erst bekommen, als er mir gesagt hat, dass er Malcolm unten am Kai gesehen hat, bevor er verschwunden ist. Und dass er dort mit dir zusammen war.«

Die Zigarette verharrte auf halbem Weg zu Banquos Mund. Er lachte. »Mit mir? Das glaube ich nicht.«

»Er hat dich und den Wagen beschrieben.«

»Weder ich noch mein Wagen waren da. Und ich finde es schwer zu glauben, dass du Geld aus öffentlichen Kassen rausgehauen hast für solch eine Behauptung. Die Frage ist: Hat der Junge geblufft oder bluffst du gerade?«

Ein kalter Windstoß erreichte sie, und Duff fröstelte. »Der Junge sagt, er hätte Malcolm mit einem älteren Mann beobachtet, den er oft mit Macbeth zusammen gesehen hat. Eine Volvo-Limousine. Und eine Waffe. Hättest du kein Geld auf den Tisch gelegt für solch eine Information, Banquo?«

»Nur, wenn ich sehr verzweifelt gewesen wäre.« Banquo drückte seine Zigarette auf dem Eisengeländer der Treppe aus. »Und nicht mal dann, wenn es einen Kollegen betroffen hätte.«

»Weil Loyalität für dich immer weit oben steht, nicht wahr?«

»Eine Polizeitruppe kann nicht ohne gegenseitige Loyalität der Beamten funktionieren. Das ist eine Grundvoraussetzung.«

»Wie weit geht denn deine Loyalität zur Truppe?«

»Ich bin ein einfacher Mann, und ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Wenn du das mit der Loyalität ernst meinst, musst du uns Malcolm ausliefern. Zum Wohl der Truppe.«

Duff deutete auf die graue Suppe aus Regen und Nebel vor ihnen. »Zum Wohl dieser Stadt. Wo in Capitol versteckt sich Duncans Mörder?«

Banquo pustete den Rest Asche von der Zigarette und steckte sie sich in die Manteltasche. »Ich weiß gar nichts über Malcolm. Fleance! Tut mir leid, Inspector, aber wir haben jetzt eine Verabredung zum Abendessen.«

Duff eilte hinter Banquo her, der bereits die drei Stufen hinuntergegangen und in den Regen hinausgetreten war. »Rede mit mir, Banquo! Ich sehe doch, dass dich das schlechte Gewissen erdrückt. Du bist kein heimtückischer Intrigant. Dich hat bloß einer aus den höheren Rängen dazu verleitet, dem du vertraut hast. Man hat dich betrogen. Er muss verhaftet werden, Banquo!«

»Fleance!«, brüllte Banquo zum Haus hinüber, während er die Wagentür aufschloss.

»Willst du, dass es mit uns immer weiter bergab geht und wir in Chaos und Anarchie versinken, Banquo? Unsere Vorfahren haben Schienen gelegt und Schulen gebaut. Wir bloß Bordelle und Casinos.«

Banquo stieg in den Wagen und drückte zweimal auf die Hupe. Die Haustür öffnete sich. Fleance tauchte im Anzug auf der Treppe auf und versuchte ungelenk, einen Regenschirm aufzuspannen.

Banquo öffnete das Fenster einen Spalt, vermutlich, weil die Scheiben von innen beschlugen. Duff versuchte, die Scheibe mit den Händen weiter hinunterzudrücken, während er durch den engen Schlitz redete. »Hör zu, Banquo. Wenn du gestehst, kann ich nicht viel für dich tun, das weißt du. Aber ich verspreche dir, dass Fleance ungeschoren davonkommt. Er wird nicht wie der Sohn eines Verräters behandelt werden, sondern wie der Sohn eines Mannes, der sich für die Stadt geopfert hat. Es wird seine Aussichten nicht verschlechtern, du hast mein Wort.«

»Hi. Sie sind Inspector Duff, oder?«

Duff richtete sich auf. »Hi, Fleance. Das stimmt. Ich wünsche euch einen schönen Abend.«

»Danke.«

Duff wartete, bis Fleance auf der Beifahrerseite eingestiegen war und Banquo den Motor angelassen hatte. Dann wandte er sich seinem eigenen Wagen zu.

»Duff!«

Er drehte sich um.

Banquo hatte seine Tür geöffnet. »Es ist nicht, wie du glaubst«, rief er.

»Nein?«

»Nein. Komm um Mitternacht zur alten Bertha, wir treffen uns da.«

Duff nickte.

Der Volvo setzte sich in Bewegung, und Vater und Sohn fuhren durch das Tor hinaus in den Nebel.

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