25

»Das ist unsere allerbeste Wollqualität«, sagte der Verkäufer und strich respektvoll über den Stoff des schwarzen Anzugs auf dem Kleiderbügel.

Vor den Fenstern des Herrenausstatters nieselte es nur noch, und im Fluss hatten sich die Wellen nach den Stürmen der vergangenen Tage gelegt.

»Was meinen Sie, Bonus?«, sagte Hecate. »Würde der Macbeth passen?«

»Ich dachte, Sie hatten ein Smokingjackett im Sinn und keinen dunklen Anzug.«

»Wie Sie wissen, trägt man in der Kirche niemals ein Smokingjackett, und Macbeth wird in dieser Woche an jeder Menge Beerdigungen teilnehmen.«

»Also heute kein Smokingjackett?«, fragte der Verkäufer.

»Wir brauchen beides, Al.«

»Darf ich mir eine Bemerkung erlauben? Wenn es um das Gala-Bankett geht, ist der Frack de rigueur, Sir.«

»Vielen Dank, Al, aber wir gehen nicht in den königlichen Palast, bloß ins Rathaus. Was sagen Sie, Bonus, ist ein Frack nicht doch ein bisschen …«, Hecate schnalzte mit der Zunge, »…prätentiös?«

»Finde ich auch«, sagte Bonus. »Wenn die Neureichen sich kleiden wie der alte Geldadel, sehen sie aus wie Clowns.«

»Gut, ein dunkler Anzug und ein Smokingjackett. Schicken Sie bitte einen Schneider ins Inverness, Al? Und setzen Sie alles auf meine Rechnung.«

»Selbstverständlich, Sir.«

»Und dann benötigen wir noch ein Smokingjackett für diesen Herrn hier.«

»Für mich?«, sagte Bonus überrascht. »Aber ich besitze bereits ein wunder…«

»Danke schön, ich habe es gesehen, und glauben Sie mir, Sie brauchen ein neues.«

»Ach ja?«

»Ihre Position macht ein tadelloses Auftreten erforderlich, Bonus, außerdem arbeiten Sie für mich, das kommt noch hinzu.«

Bonus antwortete nicht.

»Holen Sie mir rasch noch ein paar Smokingjacketts, Al?«

»Unverzüglich«, sagte der Verkäufer und stürmte einige o-beinige Schritte die Treppe hinab in den Laden.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Hecate. »Und ich gebe zu, dass ich meine Macht zur Schau stelle, so wie ein König, der seine Soldaten und Diener einkleidet. Aber was soll ich sagen? Es macht mir einfach Spaß.«

Bonus war sich nie ganz sicher gewesen, ob die ungewöhnlich weißen, gleichmäßigen Zähne im Lächeln des alten Mannes allesamt echt waren. Wenn es sich um ein Gebiss handelte, war es jedoch recht exzentrisch, da drei große goldene Kronen dazugehörten.

»Apropos zur Schau gestellte Macht«, sagte Hecate. »Der attraktive Junge, der bei dem Essen im Inverness anwesend war, heißt der zufällig Kasi?«

»Ja.«

»Wie alt ist er?«

»Fünfzehneinhalb«, sagte Bonus.

»Hhm. Das ist jung.«

»Alter ist …«

»Ich hege keinerlei moralische Skrupel, teile allerdings auch nicht Ihre Schwäche für junge Knaben, Bonus. Ich möchte bloß darauf hinweisen, dass dies ein illegales Alter ist. Und dass es möglicherweise großen Schaden anrichten könnte. Aber ich merke, dass Sie das Thema verlegen macht, also wechseln wir es. Lady ist krank, habe ich gehört?«

»Das sagt zumindest der Psychiater. Ernsthafte Psychose. Das kann dauern. Er fürchtet, sie könnte selbstmordgefährdet sein.«

»Legen Ärzte nicht diesen Eid ab?«

»Dr. Alsaker könnte demnächst vielleicht auch ein neues Smokingjackett gebrauchen.«

Hecate lachte. »Schicken Sie mir einfach die Rechnung. Kann er sie heilen?«

»Nicht, ohne sie stationär einzuweisen, sagt er. Aber das wollen wir doch nicht, oder?«

»Na, warten wir mal ab. Ich glaube, es ist doch allgemein bekannt, dass Lady zu den wichtigsten Beratern des Chief Commissioners gehört, und in diesen schweren Tagen hätte es gewiss unangenehme Folgen, wenn öffentlich bekannt würde, dass sie den Verstand verloren hat.«

»Eine Psychose bedeutet also …?«

»Ja?«

Bonus schluckte. »Nichts.« Was hatte Hecate nur an sich, dass er sich in seiner Gegenwart stets wie ein bibbernder Teenager vorkam? Es war mehr als die Zurschaustellung wahrer Macht, da war noch etwas anderes, etwas, das Bonus schrecklich ängstigte, das er aber nicht in Worte fassen konnte. Es war nicht das, was er in Hecates Augen sah, eher das, was er nicht sehen konnte. Es war das Nichts in ihnen, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, diese Einöde, diese betäubend kalte Nacht.

»Wie auch immer«, sagte Hecate, »ich wollte mit Ihnen über Macbeth sprechen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Er hat sich verändert.«

»Wirklich?«

»Ich fürchte, er kommt nicht mehr los. Wenig verwunderlich, nehme ich an, wenn man bedenkt, dass keine andere Droge der Welt so schnell abhängig macht.«

»Power, meinen Sie?«

»Ja, aber nicht die Art, die wir in Pulverform anbieten. Die reale Macht. Ich hätte nicht gedacht, dass er ihr so rasch verfallen würde. Er hat es bereits geschafft, sich von allen Gefühlsregungen loszusagen, die ihn an jede Form menschlicher Moral binden könnten. Die Macht ist jetzt seine neue und einzige Geliebte. Sie haben doch sein Radiointerview neulich gehört. Der verzogene Bengel will Bürgermeister werden.«

»In der Praxis hat der Chief Commissioner doch sowieso mehr Macht.«

»Als Chief Commissioner wird er natürlich dafür Sorge tragen, dass die wahre Macht ans Rathaus zurückgeht, bevor er das Amt des Bürgermeisters übernimmt. Wahrhaftig, Macbeth träumt davon, die Stadt vollständig zu beherrschen. Er glaubt, er wäre jetzt unbesiegbar – und könnte auch mich herausfordern.«

Bonus schaute Hecate verblüfft an. Er hatte seine Hände über dem goldenen Griff seines Stockes gefaltet und musterte sein Spiegelbild.

»Ja, Bonus, es müsste genau andersherum sein: Sie sollten derjenige sein, der mir sagt, dass Macbeth es auf mich abgesehen hat. Dafür bezahle ich Sie. Und jetzt überlegt Ihr kleines Flundergehirn, wie ich das wissen kann. Tja, fragen Sie mich einfach.«

»Ich … ähm … Woher wissen Sie es?«

»Weil er es in der Radiosendung gesagt hat, die Sie auch gehört haben.«

»Ich dachte, er hätte genau das Gegenteil gesagt. Dass die Jagd auf Hecate bei ihm nicht die gleiche Priorität hat wie noch unter Duncan.«

»Und wann haben Sie das letzte Mal jemanden mit politischen Ambitionen im Radio etwas darüber sagen hören, was er nicht für die Wählerschaft tun will? Er hätte sagen können, dass er Hecate verhaften und Jobs schaffen will. Nüchterne Politiker versprechen grundsätzlich das Blaue vom Himmel. Aber was er gesagt hat, war nicht an die Wähler gerichtet, sondern an mich, Bonus. Er hatte es nicht nötig, und doch hat er sich öffentlich verpflichtet und mir nach dem Mund geredet. Und wenn die Leute anfangen, einem nach dem Mund zu reden, muss man auf der Hut sein.«

»Sie glauben, er will Ihr Vertrauen gewinnen …« Bonus schaute Hecate an, um zu sehen, ob er auf der richtigen Spur war. »Weil er hofft, dass Sie ihn in Ihre Nähe lassen werden und er Sie dann abservieren kann?«

Hecate zupfte ein schwarzes Haar aus einer Warze auf seiner Wange und musterte es. »Ich könnte Macbeth jederzeit ausradieren. Aber ich habe viel investiert, um ihn dorthin zu bekommen, wo er jetzt ist, und wenn es etwas gibt, was ich hasse, dann ist es eine schlechte Investition, Bonus. Deshalb möchte ich, dass Sie Ihre Augen und Ohren offen halten und herausfinden, was er vorhat.« Hecate breitete die Arme aus. »Ah! Schauen Sie, da kommt Al mit weiteren Jacketts. Dann wollen wir mal schauen, ob Ihre langen Tentakelarme in eins davon hineinpassen.«

Bonus schluckte. »Und wenn ich nichts herausfinde?«

»Dann habe Sie keinen Nutzen mehr für mich, lieber Bonus.«

Er hatte es ganz beiläufig gesagt, und sein Lächeln ließ den Satz noch harmloser klingen. Bonus’ Augen versuchten, dahinterzuschauen. Aber er fand nichts, nur Nacht und Kälte.


»Schauen Sie die Uhr an«, befahl Dr. Alsaker und ließ seine Taschenuhr vor dem Gesicht der Patientin hin und her baumeln. »Sie entspannen sich, ihre Arme und Beine werden schwer, Sie schlafen ein. Und Sie wachen erst wieder auf, wenn ich das Wort Kastanie sage.«

Es war leicht, sie zu hypnotisieren. So leicht, dass Alsaker mehrere Male überprüfen musste, ob sie ihm nicht bloß etwas vorspielte. Immer, wenn er ins Inverness kam, folgte ihm der Rezeptionist, Jack, hinauf in die Suite. Dort saß sie dann in ihrem Morgenmantel – sie weigerte sich, irgendetwas anderes zu tragen. Ihre Hände waren rot, weil sie sie täglich zwanghaft schrubbte, und auch wenn sie felsenfest behauptete, nichts zu nehmen, konnte er an ihren Pupillen erkennen, dass sie unter dem Einfluss der einen oder anderen Droge stand. Eine Folge davon, dass es ihm nicht gestattet war, sie in eine psychiatrische Abteilung einzuweisen. Dort hätte er leicht ihre Medikamente, ihren Schlaf und ihre Mahlzeiten im Auge behalten und ihr Verhalten beobachten können.

»Machen wir da weiter, wo wir letztes Mal aufgehört haben«, sagte Alsaker und warf einen Blick auf seine Aufzeichnungen. Nicht, dass er sie gebraucht hätte, um sich zu erinnern; die Details waren derart grausig, dass sie sich in sein Gedächtnis geradezu eingebrannt hatten. Er brauchte seine Notizen, um zu glauben, was sie ihm erzählt hatte. Der Anfang war nicht ungewöhnlich, im Gegenteil. Er kannte die Gegebenheiten aus vielen ähnlich gelagerten Fällen. »Sie haben mir von Ihrem arbeitslosen, alkoholabhängigen Vater erzählt und von Ihrer depressiven und gewalttätigen Mutter. Von der Kindheit in der Hütte am Fluss, die man im wahrsten Sinn des Wortes als Rattenloch bezeichnen konnte. Sie haben mir gesagt, das Erste, woran Sie sich erinnern können, ist, wie sie die Ratten beobachtet haben, die aufs Haus zugeschwommen kamen, wenn die Sonne unterging, und wie Sie immer gedacht haben, das Haus würde den Ratten gehören. Sie hatten im Bett der Ratten geschlafen, ihr Essen gegessen, und deshalb verstanden Sie auch, warum sie nachts zu Ihnen kamen und Sie bissen.«

Ihre Stimme war leise und sanft. »Sie wollten nur, was ihnen zustand.«

»Und Ihr Vater sagte dasselbe, wenn er zu Ihnen ins Bett kam.«

»Er wollte nur, was ihm zustand.«

Alsaker überflog seine Notizen. Es war nicht der erste Missbrauchsfall, den er behandelte, aber dieser beinhaltete Einzelheiten, die er besonders verstörend fand.

»Mit dreizehn wurden Sie schwanger und brachten ein Kind zur Welt. Ihre Mutter nannte Sie eine Hure. Sie sagte, Sie sollten das uneheliche Kind in den Fluss werfen, aber Sie haben sich geweigert.«

»Ich wollte nur, was mir zustand.«

»Sie und das Kind wurden also zu Hause rausgeworfen, und die nächste Nacht haben Sie mit dem ersten Mann verbracht, der Ihnen über den Weg gelaufen war.«

»Er sagte, er würde das Baby umbringen, wenn es nicht zu schreien aufhört, also hab ich es mit ins Bett geholt. Aber dann meinte er, er könne sich nicht konzentrieren, weil es zuschauen würde.«

»Und während er schlief, haben Sie ihm Geld aus den Taschen gestohlen und etwas zu essen aus seiner Küche.«

»Ich habe nur genommen, was mir zustand.«

»Und was stand Ihnen zu?«

»Was alle andern auch haben.«

»Was ist dann passiert?«

»Der Fluss ist ausgetrocknet.«

»Na, kommen Sie, Lady, was ist dann passiert?«

»Noch mehr Fabriken wurden gebaut. Mehr Arbeiter kamen in die Stadt. Ich habe etwas mehr Geld verdient. Mum kam mich besuchen und erzählte mir, dass Dad gestorben war. Seine Lungen. Es war ein schmerzvoller Tod gewesen. Ich habe ihr gesagt, dass ich gern dabei gewesen wäre, um seine Schmerzen zu sehen.«

»Weichen Sie nicht aus, Lady. Kommen Sie zum Punkt. Was ist mit dem Baby passiert?«

»Haben Sie schon mal gesehen, wie schnell sich die Gesichter von Babys verändern, beinahe von einem Tag zum anderen? Na ja, eines Tages hatte es plötzlich sein Gesicht.«

»Das von Ihrem Vater.«

»Ja.«

»Und was haben Sie daraufhin getan?«

»Ich habe ihm besonders viel Milch gegeben, damit es mich friedlich anschaut beim Einschlafen. Und als es eingeschlafen war, hab ich seinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Ein Kopf geht ganz leicht kaputt, wissen Sie? Wie zerbrechlich so ein menschliches Leben ist.«

Alsaker schluckte und räusperte sich. »Haben Sie es getan, weil das Gesicht des Kindes wie das Ihres Vaters aussah?«

»Nein. Aber das hat es endlich möglich gemacht.«

»Heißt das, Sie hatten bereits eine Weile darüber nachgedacht?«

»Ja, natürlich.«

»Können Sie mir erklären, warum Sie natürlich sagen?«

Sie blieb für einen Augenblick stumm. Alsaker sah, wie ihre Pupillen zuckten, und das erinnerte ihn an etwas. Froschlaich. Eine Kaulquappe, die versucht, aus einem klebrigen Ei auszubrechen.

»Wenn man seine Ziele erreichen will, muss man das aufgeben können, was man liebt. Wenn die Person, mit der man auf den Gipfel steigt, schwach wird, muss man sie entweder weitertreiben oder das Seil durchtrennen.«

»Warum?«

»Warum? Wenn sie abstürzt, zieht sie einen mit hinab. Wenn du überleben willst, muss deine Hand tun, wozu dein Herz sich weigert.«

»Den Menschen töten, den man liebt?«

»So wie Abraham seinen Sohn geopfert hat. Lass das Blut fließen. Amen.«

Alsaker erschauderte und schrieb sich etwas auf. »Was ist denn da oben auf dem Gipfel, was Sie haben wollen?«

»Der Gipfel ist die Spitze. Dann ist man oben. Höher als alles und alle.«

»Müssen Sie dort hinauf?«

»Nein. Man kann auch unten im Flachland rumkriechen. Auf der Müllhalde. Im schlammigen Flussbett. Aber wenn man einmal mit dem Klettern angefangen hat, gibt es kein Zurück mehr. Dann heißt es, Gipfel oder Abgrund.«

Alsaker legte seinen Stift ab. »Und für diesen Gipfel sind Sie bereit, alles zu opfern – auch das, was Sie lieben? Ist Überleben wichtiger als die Liebe?«

»Natürlich. Seit Kurzem weiß ich, dass man ohne Liebe leben kann. Das ganze Überleben wird also mein Tod sein, Doktor.«

Ihre Augen zeigten eine plötzliche Klarheit, und für einen Moment glaubte Alsaker, dass sie gar nicht psychotisch sei. Aber es konnte auch an der Hypnose liegen, oder sie war kurzzeitig erwacht. Alsaker hatte das schon oft erlebt. Wie ein Patient in tiefer Psychose oder Depression plötzlich zu sich zu kommen schien, wie ein Ertrinkender, der es mit großer Willenskraft noch einmal an die Oberfläche schafft, was sowohl den Angehörigen als auch unerfahrenen Psychiatern Hoffnung geben konnte. Manchmal schafften es die Patienten, sich für mehrere Tage über Wasser zu halten, nur um diese letzte Willensanstrengung dann doch für das zu nutzen, was sie angedroht hatten, oder um wieder in tiefste Dunkelheit abzusinken. Aber nein, es musste mit der Hypnose zu tun gehabt haben, denn nun lag die Froschlaich-Membran wieder über ihren Augen.


»Hier steht, dass die Bürger nach Ihrem Radiointerview von Ihnen erwarten, dass Sie sich für die Bürgermeisterwahl aufstellen lassen«, sagte Seyton. Er hatte die Zeitung auf einem Kaffeetisch ausgebreitet und schnitt sich darüber die Fingernägel.

»Sollen sie doch schreiben«, sagte Macbeth mit einem Blick auf seine Uhr. »Tourtell wollte schon vor zehn Minuten hier sein.«

»Aber haben Sie das vor, Sir?« Es gab ein lautes, klares Knacken, als der lange, spitze Nagel seines Zeigefingers abgeschnitten wurde.

Macbeth zuckte mit den Schultern. »Über so was muss man in Ruhe nachdenken. Wer weiß? Mit der Zeit fühlt sich die Idee vielleicht anders an.«

Die Tür knarrte. In der schmalen Öffnung tauchte Priscillas süßes, übertrieben stark geschminktes Gesicht auf. »Er ist hier, Sir.«

»Gut. Lassen Sie ihn rein.« Macbeth stand auf. »Und bringen Sie uns Kaffee.«

Priscilla lächelte. Erst verschwanden ihre Augen hinter ihren properen Wangen, dann verschwand sie selbst.

»Soll ich gehen?«, fragte Seyton und machte Anstalten, sich vom Sofa zu erheben.

»Sie bleiben«, entgegnete Macbeth.

Seyton wandte sich wieder seinen Nägeln zu.

»Aber stehen Sie auf.«

Seyton erhob sich.

Die Tür öffnete sich weit. »Macbeth, mein Freund!«, polterte Tourtell, und einen Augenblick lang fragte sich Macbeth, ob die Tür breit genug sein würde. Oder seine eigenen Rippen kräftig genug, als ihm der Bürgermeister seine fleischige Hand auf den Rücken knallte.

»Sie haben hier ja wirklich was in Gang gebracht, Macbeth.«

»Vielen Dank. Nehmen Sie doch Platz.«

Tourtell nickte Seyton kurz zu und setzte sich. »Vielen Dank. Und ebenso herzlichen Dank, Chief Commissioner, dafür, dass Sie mich so kurzfristig empfangen.«

»Sie sind mein Arbeitgeber, ich sollte also derjenige sein, der sich geehrt fühlt, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Vor allem da Sie hierherkommen, statt andersherum.«

»Ach, das. Ich gebe den Leuten ungern das Gefühl, vorgeladen zu werden.«

»Heißt das, Sie wollten mich vorladen?«

Der Bürgermeister lachte. »Keineswegs, Macbeth. Ich wollte nur mal sehen, wie hier alles läuft. Ob Sie bereits Fuß gefasst haben. Ich meine, es ist ja schon eine Umstellung. Und bei allem, was in den letzten Tagen passiert ist …« Tourtell verdrehte die Augen. »Das hätte ja im völligen Chaos enden können.«

»Meinen Sie, dass es das war? Ein völliges Chaos?«

»Nein, nein, nein. Überhaupt nicht. Ich finde, Sie haben die Sache hervorragend in die Hand genommen und alle Erwartungen übertroffen. Schließlich sind Sie neu in dem Spiel.«

»Neu in dem Spiel.«

»Ja. Alles geht so furchtbar schnell. Sie müssen von jetzt auf gleich reagieren. Kommentare abgeben. Und dann sagt man schon mal Dinge, die man womöglich gar nicht sagen wollte.«

Priscilla kam herein und stellte ein Tablett auf den Tisch. Dann schenkte sie Kaffee ein, machte einen verlegenen Knicks und ging wieder hinaus.

Macbeth nippte an seinem Kaffee. »Hm. Soll das eine Anspielung auf mein Radiointerview sein?«

Tourtell griff nach der Schale mit Zuckerstückchen, nahm drei heraus und steckte sie sich in den Mund. »Einiges von dem, was Sie gesagt haben, könnte man als Kritik am Stadtrat und an mir interpretieren. Das ist wunderbar – wir wissen einen Chief Commissioner zu schätzen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Bei uns bekommt niemand einen Maulkorb verpasst. Die Frage ist natürlich, ob die Kritik ein wenig harscher geklungen hat, als sie gemeint war.«

Macbeth legte sich den Zeigefinger ans Kinn und starrte nachdenklich vor sich hin. »Ich fand es nicht besonders harsch.«

»Na bitte. Genau das habe ich mir gedacht. Sie wollten nicht harsch wirken. Sie und ich haben dasselbe im Sinn, Macbeth. Das, was für die Stadt am besten ist. Wir wollen die Räder in Gang bringen, die Arbeitslosigkeit senken. Aus Erfahrung wissen wir, dass eine geringere Arbeitslosenquote die Kriminalität vermindert, was sich wiederum auf den Drogenhandel auswirkt und die Beschaffungskriminalität reduziert. Bald gibt es deutlich weniger Insassen in den Gefängnissen, und alle fragen sich, wie Chief Commissioner Macbeth das geschafft hat, was keinem seiner Vorgänger gelungen ist. Wie Sie wissen, kann ein Bürgermeister nur für zwei Legislaturperioden im Amt bleiben. Wenn ich also hoffentlich wiedergewählt werde und meine zweite Amtszeit hinter mir habe, ist jemand anderer dran. Und dann hat die Stadt vielleicht das Gefühl, dass sie jemanden braucht, der als Chief Commissioner echte Resultate erzielt hat.«

»Noch Kaffee?« Macbeth schüttete die braune Flüssigkeit in Tourtells volle Tasse, bis sie über den Rand in die Untertasse lief. »Wissen Sie, was mein Freund Banquo immer gesagt hat? Du musst das Mädchen küssen, solange es verliebt ist.«

»Und das soll heißen?« Tourtell starrte seine Untertasse an.

»Gefühle ändern sich. Die Stadt liebt mich jetzt, und vier Jahre sind eine lange Zeit.«

»Vielleicht. Aber Sie müssen Ihre Schlachten wählen, Macbeth. Sich entscheiden, ob Sie den amtierenden Bürgermeister herausfordern wollen – was in der Vergangenheit selten von Erfolg gekrönt war – oder ob Sie lieber vier Jahre warten und dann vom scheidenden Bürgermeister unterstützt werden. Was in der Vergangenheit sehr oft zum Erfolg geführt hat.«

»Ein Versprechen dieser Art ist leicht gemacht und noch leichter gebrochen.«

Tourtell schüttelte den Kopf. »Meine lange politische Karriere habe ich auf strategischen Allianzen und Kooperationen aufgebaut, Macbeth. Kenneth hat dafür gesorgt, dass der Chief Commissioner so viele zusätzliche Befugnisse bekommt, damit ich als Bürgermeister von seinem Wohlwollen vollkommen abhängig war – bin. Glauben Sie mir, ein gebrochenes Versprechen würde mich teuer zu stehen kommen. Sie sind ein intelligenter Mann und lernen schnell, Macbeth, aber Ihnen fehlt die Erfahrung in dem komplizierten taktischen Spiel namens Politik. Aktuelle Popularität und ein paar markige Sprüche im Radio sind nicht genug. Meine Unterstützung genügt ebenfalls nicht, aber mit ihr können Sie mehr erreichen, als wenn Sie allein dastehen.«

»Sie kommen extra hierher, nur um mich zu überreden, bei der anstehenden Wahl nicht zu kandidieren? Das bedeutet, dass Sie mich für einen ernst zu nehmenden Herausforderer halten.«

»Das denken Sie vielleicht«, sagte Tourtell, »weil Sie immer noch nicht genug Erfahrung in der Politik haben, um das Gesamtbild zu sehen. Wenn ich in den nächsten vier Jahren als Bürgermeister weitermache und Sie als Chief Commissioner, wäre es nicht gut für die Stadt, wenn ihre beiden mächtigsten Männer einen kräftezehrenden Wahlkampf hinter sich haben, der die Zusammenarbeit erschwert. Außerdem könnte ich unmöglich Ihre spätere Kandidatur unterstützen. Ich bin sicher, dass Sie das verstehen.«

Ich bin sicher, dass Sie das verstehen. Nur eine Spur von Herablassung. Macbeth öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber der Gedanke, der die Worte formen sollte, stellte sich nicht ein.

»Lassen Sie mich einen Vorschlag machen«, sagte Tourtell. »Sie kandidieren nicht, dann müssen Sie auch keine vier Jahre auf meine Unterstützung warten.«

»So?«

»Ja. An dem Tag, an dem Sie Hecate verhaften – was ein großer Sieg für uns beide sein wird –, werde ich an die Öffentlichkeit gehen und meine Hoffnung aussprechen, dass Sie in vier Jahren mein Nachfolger werden. Was sagen Sie dazu, Macbeth?«

»Ich glaube, ich habe bereits im Radio deutlich gemacht, dass wir unsere Priorität nicht auf Hecate richten.«

»Ich habe es gehört. Und ich interpretiere das so, dass Sie den Druck nicht wollen, den Duncan sich selbst und der Polizei mit einem derart optimistischen Versprechen auferlegt hat. Der Tag, an dem Sie ihn verhaften, soll nur ein Bonus sein. So haben Sie sich das gedacht, nicht wahr?«

»Natürlich«, sagte Macbeth. »Hecate kann man nicht so einfach verhaften. Aber falls die Gelegenheit sich bieten sollte …«

»Ich fürchte, meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass sich Gelegenheiten nicht einfach bieten«, entgegnete Tourtell. »Man muss sie selbst schaffen und dann beim Schopfe packen. Wie sieht denn nun Ihr Plan aus, um Hecate zu verhaften?«

Macbeth räusperte sich und hantierte mit seiner Kaffeetasse herum. Versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Ihm war aufgefallen, dass ihm das in letzter Zeit ganz plötzlich Schwierigkeiten bereiten konnte: Es waren zu viele Bälle, die er gleichzeitig in der Luft halten musste. Wenn einer abstürzte, fielen auch alle anderen zu Boden, und er musste ganz von vorn anfangen. Nahm er zu viel Power? Oder zu wenig? Macbeth suchte Seytons Blick, der sich auch an den Kaffeetisch gesetzt hatte, aber von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Natürlich nicht. Nur sie konnte ihm helfen. Lady. Er würde die Drogen aufgeben, mit ihr reden müssen. Nur sie konnte den Nebel vertreiben, seine Gedanken klären.

»Ich will ihn in eine Falle locken«, sagte Macbeth.

»Was für eine Art Falle?«

»Die Einzelheiten haben wir noch nicht ausgearbeitet.«

»Wir reden über den Hauptfeind der Stadt, ich würde es also zu schätzen wissen, wenn Sie mich über Ihre weiteren Schritte informierten.« Tourtell stand auf. »Vielleicht können Sie mir Ihren Plan morgen auf Duncans Beerdigung in groben Zügen umreißen? Und mir Ihre Entscheidung wegen der Bürgermeisterwahl mitteilen.«

Macbeth schüttelte Tourtells ausgestreckte Hand, ohne sich zu erheben. Tourtell nickte der Wand hinter ihm zu. »Dieses Bild habe ich immer gemocht, Macbeth. Ich finde schon selber raus.«

Macbeth musterte ihn. Tourtell schien jedes Mal, wenn er ihn sah, ein weiteres Stück gewachsen zu sein. Seinen Kaffee hatte er nicht angerührt. Macbeth drehte sich auf seinem Platz, um das Gemälde betrachten zu können. Es war groß und zeigte einen Mann und eine Frau, beide als Arbeiter gekleidet, die Hand in Hand auf den Betrachter zugingen. Ihnen folgte eine Prozession von Kindern, und im Hintergrund stand die Sonne tief am Himmel. Das Gesamtbild. Er nahm an, dass Duncan es aufgehängt hatte; Kenneth hätte vermutlich ein Porträt seiner selbst gewählt. Macbeth legte den Kopf schief, konnte aber immer noch nicht begreifen, was es zu bedeuten hatte.

»Sagen Sie mir, Seyton, was meinen Sie?«

»Was ich meine? Zur Hölle mit Tourtell. Sie sind viel beliebter als er.«

Macbeth nickte. Seyton war wie er, auch kein Mann mit einem Blick fürs Gesamtbild. Nur sie hatte den.


Lady hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Macbeth.

Keine Antwort.

»Liebling.«

»Es ist das Kind«, sagte Jack.

Macbeth wandte sich zu ihm um.

»Ich habe es ihr weggenommen. Es fing an zu riechen, und ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Aber sie glaubt, Sie hätten mir befohlen, es zu holen.«

»Gut gemacht, Jack. Es ist nur so, dass ich in einem Fall Ladys Rat brauche und … na ja …«

»Sie kann Ihnen in ihrem derzeitigen Zustand schwerlich den Rat geben, den Sie brauchen, Sir. Darf ich fragen … nein. Entschuldigen Sie, ich habe mich vergessen. Sie sind nicht Lady, Sir.«

»Was meinen Sie?«

»Nein, ich dachte nur … Lady lässt mich oft an ihren Gedanken teilhaben, und dann helfe ich, so gut ich kann. Nicht, dass ich viel anzubieten hätte, aber manchmal klären sich Dinge schon, wenn man sie einfach mal ausspricht.«

»Hm. Machen Sie uns eine Tasse Kaffee, Jack.«

»Sofort, Sir.«

Macbeth ging auf die Empore hinauf. Schaute in den Spielsaal hinab. Es war ein ruhiger Abend. Er sah keines der üblichen Gesichter. Wo steckten die Leute nur?

»Im Obelisken«, sagte Jack und reichte Macbeth eine dampfende Tasse Kaffee.

»Was?«

»Unsere Stammgäste. Sie sind im Obelisken. Das haben Sie sich doch gefragt, oder?«

»Vielleicht.«

»Ich war gestern dort und habe fünf von ihnen gezählt. Mit zweien habe ich auch gesprochen. Wie’s aussieht, bin ich nicht der Einzige, der spioniert. Die vom Obelisken haben hier auch ihre Leute. Sie haben herausbekommen, wer unsere Stammgäste sind, und ihnen bessere Angebote gemacht.«

»Bessere Angebote?«

»Kredite.«

»Das ist illegal.«

»Inoffiziell natürlich. Das wird in keinem einzigen Kassenbuch des Obelisken auftauchen, und wenn man sie damit konfrontiert, werden sie Stein und Bein schwören, dass sie keine Kredite einräumen.«

»Dann sollten wir wohl dasselbe anbieten.«

»Ich glaube, das Problem geht tiefer, Sir. Sehen Sie, wie wenig Gäste in der Bar sitzen? Im Obelisken stehen die Leute Schlange. Bier und Cocktails kosten dreißig Prozent weniger, und das erhöht nicht nur die Zahl der Gäste und den Umsatz an der Bar, es enthemmt die Leute auch an den Spieltischen.«

»Lady meint, wir würden uns an ein anderes, qualitätsbewussteres Klientel richten.«

»Die Menschen, die in dieser Stadt die Casinos aufsuchen, lassen sich grob in drei Kategorien einteilen, Sir. Sie haben die besessenen Spieler, denen die Qualität der Teppiche und teure Cognacs egal sind. Die wollen einen effizienten Croupier, einen Pokertisch, an dem sie unwissenden Besuchern aus der Provinz das Geld abknöpfen können, und – wenn möglich – Kredit. Der Obelisk bedient diese Gruppe. Dann gibt es die Leute vom Land, die ich schon erwähnt habe, die meistens zu uns kommen, weil wir den Ruf haben, das wahre Casino zu sein. Aber die haben jetzt auch festgestellt, dass ihnen die einfachere, sündigere Atmosphäre im Obelisken viel besser gefällt. Das sind die Leute, die man eher beim Bingo trifft als in der Oper.«

»Und wir sind die Oper?«

»Die haben es auf billiges Bier und billige Frauen abgesehen. Wozu soll ein Ausflug in die Stadt sonst gut sein?«

»Und die letzte Kategorie?«

Jack zeigte auf den Saal hinunter. »Die Leute aus den Westvierteln. Diejenigen, die sich nicht mit dem Abschaum abgeben wollen. Unsere letzten treuen Gäste. Bis jetzt. Der Obelisk plant, einen neuen Spielsaal mit Kleiderordnung, höheren Minimaleinsätzen und teureren Cognac-Marken an der Bar zu eröffnen.«

»Hm. Und was schlagen Sie vor, was sollen wir tun?«

»Ich?« Jack lachte. »Ich bin doch bloß Rezeptionist, Sir.«

»Und Croupier.« Macbeth blickte auf den Black-Jack-Tisch hinunter, an dem er, Lady und Jack sich zum ersten Mal begegnet waren. »Ich würde Sie gerne um Rat bitten, Jack.«

»Ein Croupier beobachtet nur Leute dabei, wie sie ihre Einsätze platzieren, Sir. Sie geben niemals Rat.«

»Schön. Dann müssen Sie einfach zuhören. Tourtell hat mich aufgesucht und mir gesagt, dass er nicht will, dass ich als Bürgermeister kandidiere.«

»Hatten Sie das denn geplant, Sir?«

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hab ich mal kurz darüber nachgedacht und es dann verworfen und dann wieder kurz drüber nachgedacht. Vor allem, nachdem Tourtell mir so herablassend erklären wollte, worum es in der Politik wirklich geht. Was meinen Sie?«

»Oh, ich bin sicher, Sie wären ein großartiger Bürgermeister, Sir. Denken Sie nur an all die Dinge, die Sie und Lady für die Stadt tun könnten!«

Macbeth musterte Jacks strahlendes Gesicht – seine unverfälschte Freude, seinen naiven Optimismus. Wie ein Spiegelbild des Menschen, der er selbst einmal gewesen war. Ein seltsamer Gedanke überfiel ihn: Er wünschte, er wäre Jack, der Rezeptionist.

»Aber ich habe auch viel zu verlieren«, sagte Macbeth. »Wenn ich mich jetzt nicht zur Wahl stelle, wird Tourtell mich beim nächsten Mal unterstützen. Und er hat recht, wenn er sagt, dass der amtierende Bürgermeister in der Regel wiedergewählt wird.«

»Hm.« Jack kratzte sich am Kopf. »Es sei denn, es gäbe einen Skandal unmittelbar vor der Wahl. Ein Skandal, der Tourtell derartig stark beschädigt, dass ihn die Stadt unmöglich im Amt lassen kann.«

»Zum Beispiel?«

»Lady hatte mich gebeten, Informationen über den Jungen einzuholen, den Tourtell damals zum Essen mitgebracht hat. Meine Quellen sagen, dass Tourtells Frau in das gemeinsame Sommerhaus in Fife gezogen ist, weil er den Jungen bei sich aufgenommen hat. Und er ist noch minderjährig. Wir bräuchten nur noch Beweise für sexuell unangemessenes Verhalten. Von Angestellten im Haus des Bürgermeisters zum Beispiel.«

»Aber, Jack, das ist ja fantastisch!« Der Gedanke, Tourtell fertigmachen zu können, trieb eine freudige Hitze in Macbeths Wangen. »Wir besorgen uns die Beweise, und ich bringe Kite dazu, live eine Wahldebatte zu übertragen. Dann kann ich Tourtell die Wahrheit über seine sittenwidrige Beziehung direkt ins Gesicht knallen. Darauf wird er nicht vorbereitet sein. Wie wäre es damit?«

»Vielleicht.«

»Vielleicht? Wie meinen Sie das?«

»Ich habe nur gerade gedacht, Sir, dass Sie selbst mit fünfzehn ins Haus eines kinderlosen Mannes gezogen sind. Der Bürgermeister könnte den Spieß leicht herumdrehen.«

Macbeth spürte, wie ihm erneut das Blut ins Gesicht schoss. »Was? Banquo und ich …?«

»Tourtell wird nicht zögern, wenn Sie den ersten Stein werfen, Sir. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Außerdem würde es nicht gut aussehen, wenn der Eindruck entstünde, dass Sie Ihre Position ausnutzen, um in Tourtells Privatleben herumzuspionieren.«

»Hm, Sie haben recht. Wie würden Sie es anstellen?«

»Lassen Sie mich darüber nachdenken.« Jack nahm einen Schluck Kaffee. Und noch einen. Dann stellte er die Tasse wieder auf den Tisch. »Die Informationen über den Jungen müssen ganz zufällig an die Öffentlichkeit kommen. Aber wenn Sie gegen Tourtell antreten, wird man Sie immer noch verdächtigen, dahinterzustecken. Daher müsste es öffentlich werden, bevor Sie Ihre Kandidatur bekannt geben. Um jeden Verdacht zu vermeiden, sollten Sie vielleicht sogar verlauten lassen, dass Sie nicht vorhaben anzutreten, zumindest nicht für die kommenden vier Jahre. Sie haben sich erst einmal um Ihren Job als Chief Commissioner zu kümmern. Und dann, wenn der Skandal Tourtell aus dem Rennen geworfen hat, können Sie sich eher widerwillig zur Verfügung stellen, da die Stadt eben ganz kurzfristig einen Mann an der Spitze braucht. Sie weigern sich, den Tourtell-Skandal zu kommentieren, wenn Journalisten Sie danach fragen, zeigen, dass Sie über diese Art von Verhalten erhaben sind, und konzentrieren sich bloß darauf, dass diese Stadt … ähm … Sie haben im Radio so eine treffende Formulierung gewählt, wie lautete sie noch gleich?«

»Wieder auf die Füße kommt«, sagte Macbeth. »Jetzt verstehe ich, warum Lady Sie zu ihrem Berater gemacht hat, Jack.«

»Herzlichen Dank, Sir, aber bitte überbewerten Sie meine Bedeutung nicht.«

»Das tue ich nicht, aber Sie haben ein ungewöhnlich scharfes Auge für diese Dinge.«

»Vielleicht ist es einfacher, ein Croupier und Beobachter zu sein, als selbst mitzuspielen, wenn all die Risiken und starken Gefühle hinzukommen, Sir.«

»Und ich glaube, Sie sind ein höllisch guter Croupier, Jack.«

»Als Croupier gebe ich Ihnen den Rat, noch einmal zu überprüfen, ob Sie Ihre Karten nicht noch besser ausspielen können.«

»Ach ja?«

»Tourtell hat Ihnen seine Unterstützung bei der nächsten Wahl zugesagt, wenn Sie jetzt nicht antreten, aber das wird nicht viel wert sein, wenn alle wissen, dass er ein Pädophiler ist, nicht wahr?«

Macbeth strich sich über den Bart. »Das ist wohl wahr.«

»Deshalb sollten Sie eine andere Forderung stellen. Sagen Sie Tourtell, dass Sie nicht einmal sicher sind, ob Sie sich für die nächste Wahl aufstellen lassen wollen. Und dass Sie von ihm lieber etwas Konkreteres haben wollen.«

»Zum Beispiel?«

»Was hätten Sie denn gerne, Sir?«

»Was ich gerne hätte …?« Macbeth sah, wie Jack auf den Spielsaal deutete. »Ähm … mehr Gäste?«

»Ja, das Klientel vom Obelisken. Aber als Chief Commissioner haben Sie nicht die Befugnis, den Obelisken zu schließen, selbst wenn Sie Beweise dafür hätten, dass dort illegale Kredite gewährt werden.«

»Nicht?«

»Zufällig weiß ich, dass die Polizei einzelne Individuen strafverfolgen kann, aber nur die Spielbankenaufsicht ist befugt, ein ganzes Casino schließen zu lassen, Sir. Und die steht wiederum unter der Kontrolle des …«

»Des Rathauses. Tourtell.«

Macbeth sah es jetzt ganz klar. Er brauchte die Droge nicht mehr; er sollte den Rest des Pulvers im Klo hinunterspülen. Irgendwo klingelte eine Glocke.

»Wie’s aussieht, haben wir Gäste, Sir.« Jack stand auf.

Macbeth hielt ihn am Arm fest. »Warten Sie nur, bis Lady erfährt, was wir ausgeheckt haben. Ich bin mir sicher, es wird ihr in Nullkommanichts besser gehen. Wie können wir Ihnen nur danken, Jack?«

»Nicht nötig, Sir.« Jack lächelte trocken. »Es genügt, dass Sie mir das Leben gerettet haben.«

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