6

Lady und Macbeth hatten sich an einem späten Sommerabend vor vier Jahren kennengelernt. Es war einer jener seltenen Tage gewesen, an denen die Sonne von einem wolkenlosen Himmel schien, und Lady war sich sicher gewesen, dass sie morgens einen Vogel singen gehört hatte. Doch als die Sonne untergegangen war und die Nachtschicht ihren Dienst angetreten hatte, war ein böser Mond über dem Inverness aufgegangen. Sie hatte bereits vor dem Haupteingang gewartet, im Mondlicht, als er in einem gepanzerten SWAT-Wagen vorgefahren war.

»Lady?«, fragte er und schaute ihr direkt in die Augen. Was sah sie? Kraft und Entschlossenheit? Vielleicht. Vielleicht war es auch nur das, was sie in diesem Augenblick sehen wollte.

Sie nickte. Er kam ihr ein bisschen zu jung vor. Der Mann hinter ihm, ein älterer Typ mit weißen Haaren und ruhigen Augen, sah geeigneter aus für den Job.

»Ich bin Inspector Macbeth. Hat sich die Situation schon irgendwie verändert, Ma’am?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Okay, gibt es eine Stelle, von der aus wir sie sehen können?«

»Die Empore.«

»Banquo, ruf du die Männer zusammen, dann gehe ich mal auf Erkundungstour.«

Bevor sie die Treppe zur Empore hinaufstiegen, flüsterte der junge Inspector ihr zu, dass sie ihre hochhackigen Schuhe ausziehen solle, um weniger Lärm zu machen. Das bedeutete, dass sie nicht mehr größer war als er. Auf der Empore blieben sie zuerst im hinteren Teil, bei den Fenstern, die auf den Worker’s Square wiesen, sodass man sie unten vom Spielsaal aus nicht sehen konnte. Ganz langsam bewegten sie sich auf die Balustrade zu. Zum Teil wurden sie vom Seil des zentralen Kronleuchters und der Rüstung aus der Zeit Kaiser Maximilians im sechzehnten Jahrhundert verdeckt, die sie bei einer Auktion in Augsburg erstanden hatte. Der Gedanke dahinter war, dass sich die Spieler, wenn sie das Ding dort oben stehen sahen, beschützt oder beobachtet fühlen sollten, je nachdem, wie schlecht ihr Gewissen war. Lady und der Polizist kauerten sich hin und schauten auf den Raum hinab, aus dem zwanzig Minuten zuvor Gäste und Angestellte in Panik geflohen waren. Lady hatte oben auf dem Dach gestanden und das Unheil instinktiv gespürt, als sie von unten den Knall und die Schreie gehört hatte. Sie war hinuntergegangen, hatte sich einen ihrer flüchtenden Kellner geschnappt, und der hatte ihr erzählt, dass ein Typ auf den Kronleuchter geschossen und Jack als Geisel genommen hatte.

Sie hatte die Kosten für einen neuen Kronleuchter bereits berechnet, aber die waren ein Witz gegen das, was es sie kosten würde, wenn die Waffe – die in diesem Moment an den Kopf ihres besten Croupiers, Jack, gehalten wurde – noch einmal abgefeuert würde. Schließlich versprach ihr Casino den Leuten ungefährliche Aufregung und Entspannung; eine Weile musste man hier nicht über die Verbrechen auf der Straße nachdenken. Wenn der Eindruck entstand, dass das Inverness dies nicht mehr zu bieten hatte, würde der Spielsaal bald immer so leer sein wie in diesem Augenblick. Die zwei Leute, die noch übrig geblieben waren, saßen am Black-Jack-Tisch unter der Empore auf der anderen Seite. Der arme Jack war steif wie ein Brett und weiß wie ein Laken.

Direkt hinter ihm saß der Gast mit der Pistole in der Hand.

»Es wird schwer, aus dieser Entfernung einen Schuss abzugeben, solange er sich hinter Ihrem Croupier versteckt«, flüsterte Macbeth und holte ein kleines Fernrohr aus seiner schwarzen Uniform. »Wir müssen näher ran. Wer ist der Kerl, und was will er?«

»Ernest Collum. Er sagt, er bringt meinen Croupier um, wenn wir ihm nicht alles wiedergeben, was er im Casino verloren hat.«

»Und ist das viel?«

»Mehr als wir in bar hier haben. Collum ist einer von den Süchtigen. Ein Ingenieur, ziemliches Zahlengenie, er kennt also das Risiko und die Gewinnquoten. Das sind die schlimmsten. Ich habe ihm gesagt, wir würden versuchen, das Geld für ihn aufzutreiben, aber die Banken haben zu, es könnte also eine Weile dauern.«

»Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich gehe rein.«

»Woher wissen Sie das?«

Macbeth rückte von der Balustrade ab und steckte sich das Fernglas zurück in die Uniform. »Seine Pupillen. Er ist high und wird schießen.« Er drückte auf einen Knopf seines Funkgeräts. »Code Vier Sechs. Jetzt. Übernimm das Kommando, Banquo. Over.«

»Habe verstanden. Over.«

»Ich komme mit Ihnen«, sagte Lady und folgte Macbeth.

»Ich glaube nicht …«

»Dies ist mein Casino. Mein Jack.«

»Hören Sie, Ma’am …«

»Collum kennt mich, und von Frauen lässt er sich beruhigen.«

»Das ist Sache der Polizei«, sagte Macbeth und eilte die Treppe hinunter.

»Ich komme mit«, sagte Lady und lief hinter ihm her.

Macbeth blieb vor ihr stehen.

»Sehen Sie mich an«, sagte er.

»Nein, Sie sehen mich an«, entgegnete sie. »Sehe ich aus, als würde ich nicht mit Ihnen gehen? Er erwartet, dass ich ihm das Geld bringe.«

Er schaute sie an. Er hatte einen guten Blick. Sah sie an, wie auch schon andere Männer sie angesehen hatten. Aber auch, wie es noch nie jemand getan hatte, weder Männer noch Frauen. Für gewöhnlich lag Angst oder Bewunderung in den Blicken, Respekt oder Begehren, Hass, Liebe oder Unterwürfigkeit. Die Leute maßen sie mit den Augen, aber schätzten sie falsch ein. Dieser junge Mann jedoch sah sie an, als hätte er endlich etwas gefunden. Etwas, das er wiedererkannte. Nach dem er lange gesucht hatte.

»Na schön, kommen Sie«, sagte er. »Aber halten Sie den Mund, Ma’am.«

Der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte, als sie den Raum betraten.

Der Tisch, an dem die beiden Männer saßen, war wegen des zerstörten Kronleuchters weniger hell beleuchtet als sonst. Jacks Gesicht, das vor Schock zur Maske erstarrt war, änderte sich nicht, als er sah, wie Lady und Macbeth auf sie zukamen. Lady bemerkte, dass der Abzug der Waffe gespannt wurde.

»Wer sind Sie?« Collums Stimme klang belegt.

»Ich bin Inspector Macbeth vom SWAT-Team«, sagte der Polizist, zog einen Stuhl hervor und setzte sich darauf. Legte beide Handflächen auf den Tisch, sodass sie gut sichtbar waren. »Meine Aufgabe ist es, mit Ihnen zu verhandeln.«

»Es gibt nichts zu verhandeln, Inspector. Ich bin von diesem verdammten Casino jahrelang betrogen worden. Es hat mich ruiniert. Hier werden die Karten gezinkt. Sie zinkt die Karten.«

»Und zu diesem Schluss sind Sie gekommen, nachdem Sie Brew genommen haben?«, fragte Macbeth und tippte lautlos mit den Fingern auf den Stoffbezug des Tisches. »Es verzerrt die Realität, wissen Sie.«

»Die Realität, Inspector, ist, dass ich eine Waffe habe und klarer sehe als je zuvor. Wenn Sie mir das Geld nicht geben, erschieße ich erst unseren Jack hier, dann Sie. Sie werden versuchen, Ihre Waffe zu ziehen, und unsere sogenannte Lady wird entweder versuchen, zu fliehen oder mich zu überwältigen, aber es wird für Sie beide zu spät sein. Dann erschieße ich wahrscheinlich mich selbst, aber mal sehen, vielleicht bin ich ja in besserer Stimmung, wenn ich Sie drei in die Hölle geschickt und diesen ganzen Laden in die Luft gesprengt habe.« Er kicherte. »Ich sehe kein Geld, und damit sind die Verhandlungen beendet. Fangen wir also an …«

Der Abzug hob sich weiter. Lady verzog unwillkürlich das Gesicht und wartete auf den Knall.

»Das Doppelte oder nichts«, sagte Macbeth.

»Wie bitte?«, sagte Collum. Tadellose Aussprache. Tadellose Rasur und ein tadelloser Abendanzug mit gebügeltem weißem Hemd. Lady vermutete, dass er auch saubere Unterwäsche trug. Er hatte gewusst, dass dies wohl nicht damit enden würde, dass er das Casino mit einem Koffer voller Geld verließ. Er würde hier genauso bankrott rausgetragen werden, wie er gekommen war. Aber davon abgesehen eben in tadellosem Zustand.

»Sie und ich spielen eine Runde Black Jack. Wenn Sie gewinnen, bekommen Sie alles Geld zurück, was Sie hier verloren haben – mal zwei. Wenn ich gewinne, bekomme ich Ihre Waffe mit sämtlichen Kugeln, und Sie lassen Ihre Forderungen fallen.«

Collum lachte. »Sie bluffen!«

»Der Koffer mit dem Geld, das Sie gefordert haben, ist angekommen und befindet sich draußen in unserem Dienstfahrzeug. Die Besitzerin des Casinos hat sich bereit erklärt, den Betrag zu verdoppeln, wenn wir uns einigen. Denn wir wissen, dass hier tatsächlich nicht mit sauberen Karten gespielt wird. Gerecht ist gerecht. Was meinen Sie, Ernest?«

Lady schaute Collum an, sein linkes Auge, denn nur das war hinter Jacks Kopf sichtbar. Ernest Collum war kein dummer Mann, ganz im Gegenteil. Er glaubte die Geschichte mit dem Koffer nicht. Und doch. Manchmal waren es die intelligentesten Gäste, die sich weigerten, der Unausweichlichkeit des Zufalls ins Auge zu blicken. Über kurz oder lang war jeder dazu verdammt, gegen das Casino zu verlieren.

»Warum sollten Sie das tun?«, fragte Collum.

»Also?«, sagte Macbeth.

Collum blinzelte zweimal. »Wir spielen gegeneinander«, sagte er. »Sie gibt die Karten.«

Lady schaute Macbeth an, und dieser nickte. Sie nahm das Spiel, mischte, legte vor Macbeth zwei Karten ab und deckte sie auf.

Eine Sechs. Und die Herzkönigin.

»Süße Sechzehn.« Collum grinste.

Lady legte zwei Karten vor Collum, deckte eine auf. Kreuzass.

»Noch eine«, sagte Macbeth und streckte die Hand aus.

Lady gab ihm die oberste Karte vom Stapel. Macbeth hielt sie sich gegen die Brust, hob sie an, riskierte einen Blick. Schaute dann auf zu Collum.

»Wie’s aussieht, haben Sie den Kürzeren gezogen, Süße Sechzehn«, sagte Collum. »Ich will sehen.«

»Oh, ich bin mit meiner Hand ganz glücklich.« Macbeth lächelte Collum an. Dann warf er die Karten ab, nach rechts, wo der Tisch im Halbschatten lag. Unwillkürlich beugte Collum sich ein winziges Stückchen vor, um sie besser erkennen zu können.

Alles Weitere geschah so schnell, dass es Lady später vorkam wie ein Blitz. Der Blitz einer sich bewegenden Hand, der Blitz von Stahl, in dem sich das Licht brach, als er über den Tisch schoss, der Blitz von Collums einem Auge, das sie anstarrte, weit offen und in wütendem Protest, das schimmernde Licht in einem Schwall von Blut, das von beiden Seiten der Klinge aufspritzte, die seine Halsschlagader aufschlitzte. Dann die Geräusche. Der dumpfe Aufschlag der Waffe auf dem dicken, viel zu teuren Teppich. Das Aufklatschen des Blutes auf dem Tisch. Collums tiefes Gurgeln, als sein linkes Auge verlöschte. Jacks kurzes, zitterndes Schluchzen.

Und sie erinnerte sich an die Karten. Nicht an das Ass, nicht an die Sechs. Aber an den Herzkönig. Und, halb im Schatten, an die Pikdame. Beide besudelt mit Ernest Collums Blut.

Sie betraten den Raum rasch, geräuschlos, in ihren schwarzen Uniformen, und gehorchten jedem Zeichen, das er ihnen gab. Sie berührten Collum nicht, führten nur den schluchzenden Jack hinaus. Auch ihr wollten sie helfen, aber sie wehrte ab. Saß nur da und schaute den jungen Leiter des SWAT-Teams an, der sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und recht zufrieden aussah. Wie jemand, der glaubte, er habe als Letzter gelacht.

»Collum wird als Letzter lachen«, sagte sie.

»Was?«

»Wenn wir sie nicht finden.«

»Was finden?«

»Haben Sie nicht gehört, was er gesagt hat? Wenn ich Sie drei in die Hölle geschickt und diesen ganzen Laden in die Luft gesprengt habe.«

Er starrte sie einige Sekunden lang an, zuerst voller Überraschung, dann mit etwas anderem im Blick. Anerkennung. Respekt. Dann brüllte er: »Ricardo! Es gibt eine Bombe hier!«

Ricardo war ein Polizist, in dessen Blick, Bewegungen und leise gesprochenen Anweisungen ruhige Selbstgewissheit lag. Seine Haut war so schwarz, dass Lady glaubte, sich in ihr spiegeln zu können. Ricardo und seine Männer brauchten vier Minuten, um in einer verschlossenen Toilettenkabine fündig zu werden. Ein Koffer mit Zebrastreifen-Optik, den Collum mit hereingebracht hatte, nachdem der Inhalt vom Türsteher überprüft worden war. Collum hatte ihm erklärt, dass es sich um vier Goldbarren handelte. Er habe vorgehabt, sie als Einsatz am Pokertisch zu verwenden. Bevor die Spielbankenaufsicht es verboten hatte, waren im Casino nicht nur Bargeld, sondern auch Armbanduhren, Eheringe, Hypotheken, Autoschlüssel und überhaupt so ziemlich alles akzeptiert worden, wenn es die Spieler so gewollt hatten. Doch hinter den mit Goldfarbe bemalten Eisenstangen hatte Collum, Ingenieur und Zahlengenie, eine selbst gebastelte Zeitbombe platziert, die der Sprengstoffexperte des SWAT-Teams später als feines Stück Arbeit lobte. Daran, wie viele Minuten auf der Zeitschaltuhr noch übrig waren, konnte sich Lady nicht mehr erinnern. Aber an die Karten erinnerte sie sich.

Der Herzkönig und die Pikdame. An diesem Abend begegneten sie einander unter einem bösen Mond.


Am nächsten Abend lud Lady ihn ins Casino zum Abendessen ein. Die Einladung nahm er an, den Aperitif lehnte er ab. Keinen Wein bitte, gerne Wasser. Sie hatte den Tisch auf der Empore decken lassen, mit Blick auf den Worker’s Square, auf den der Regen herabfiel und über das Kopfsteinpflaster leise vom Bahnhof hinab zum Inverness rann. Die Architekten hatten den Bahnhof einige Meter erhöht gebaut, da sie geglaubt hatten, das Gewicht des ganzen Marmors und schwerer Züge wie Bertha würde mit der Zeit den Boden in den stets feuchten, sumpfigen Untergrund der Stadt absinken lassen.

Sie redeten über dies und das, vermieden aber alles, was zu persönlich gewesen wäre. Auch das, was am Abend zuvor passiert war. Kurz gesagt: Sie hatten einen schönen Abend. Macbeth war vielleicht nicht besonders höflich, dafür überaus charmant und witzig. Zudem ungewöhnlich attraktiv in seinem grauen, etwas zu engen Anzug, den ihm, wie er sagte, sein älterer Kollege Banquo geliehen hatte. Sie hörte zu, wie er vom Waisenhaus erzählte, von einem Freund namens Duff und einem Wanderzirkus, dem er sich als Junge einen Sommer lang angeschlossen hatte. Von dem nervösen, immer erkälteten Löwendompteur erzählte er, von den dünnen Schwestern, die als Trapezartistinnen arbeiteten und ausschließlich längliche Sachen aßen, von dem Zauberer, der Leute aus dem Publikum dazu aufforderte, in die Manege zu steigen, wo er ihre Schlüssel, Uhren oder Eheringe vor ihren Augen in der Luft schweben ließ. Und er hörte interessiert zu, wie Lady vom Casino erzählte, das sie aus dem Nichts aufgebaut hatte. Und schließlich, als sie glaubte, ihm alles erzählt zu haben, was sie ihm erzählen konnte, hob sie ihr Weinglas und fragte: »Warum, glauben Sie, hat er es getan?«

Macbeth zuckte mit den Schultern. »Hecates Brew macht die Leute verrückt.«

»Wir haben ihn ruiniert, das ist wahr, aber unsere Karten sind nicht gezinkt.«

»Das habe ich auch nicht angenommen.«

»Vor zwei Jahren hatte ich mal zwei Croupiers hier, die am Pokertisch mit einigen Spielern gemeinsame Sache gemacht und andere Gäste bestohlen haben. Ich habe sie natürlich rausgeschmissen, aber anschließend musste ich erfahren, dass sie sich mit einigen Investoren zusammengetan und beim Stadtrat um Genehmigung gebeten hatten, ein neues Casino zu bauen.«

»Den Obelisken? Ja, ich habe die Pläne gesehen.«

»Vielleicht wissen Sie auch, dass einige der Spieler, mit denen sie unter einer Decke gesteckt haben, Politiker waren und Untergebene von Kenneth?«

»Hab ich gehört, ja.«

»Das Casino wird also gebaut werden. Und ich verspreche Ihnen, dort werden Leute wie Ernest Collum sich mit Fug und Recht betrogen fühlen.«

»Ich fürchte, Sie haben recht.«

»Diese Stadt braucht eine neue Führungsriege. Einen Neuanfang.«

»Bertha«, sagte Macbeth und nickte dem Fenster zu, das auf den Worker’s Square wies, wo die alte schwarze Lokomotive auf ihrem Podest neben dem Haupteingang auf acht Metern Originalschienen stand, die früher nach Capitol geführt hatten, und im Regen schimmerte. »Banquo meint, sie müsse wieder in Gang gebracht werden. Wir brauchen neuen, anständigen Tatendrang. Und es gibt durchaus eine gute Energie in dieser Stadt.«

»Wollen wir es hoffen. Aber zurück zu gestern Nacht …« Sie schwenkte ihr Weinglas. Wusste, dass er ihr Dekolleté musterte. Sie war daran gewöhnt, dass Männer das taten, und es löste keinerlei Gefühle in ihr aus; sie wusste nur, dass sie ihre weiblichen Attribute bisweilen einsetzen konnte wie jedes andere Geschäftswerkzeug. Aber dieser Blick war anders. Er war anders. Sie konnte ihn nicht brauchen, er war bloß ein reizender Polizist auf niedriger Rangstufe. Warum also verbrachte sie Zeit mit ihm? Natürlich hätte sie ihm ihre Dankbarkeit auch anders beweisen können, nicht bloß durch ihre Gesellschaft. Sie betrachtete seine Hand, als er nach seinem Wasserglas griff. Die dicken Adern auf der sonnengebräunten Hand. Offenbar verließ er die Stadt, sooft er konnte.

»Was hätten Sie getan, wenn Collum sich nicht bereit erklärt hätte, Black Jack zu spielen?«

»Ich weiß nicht«, sagte er und schaute sie an. Braune Augen. Die Leute in dieser Stadt hatten blaue Augen. Natürlich hatte sie schon andere Männer mit braunen Augen gekannt. Aber die waren anders gewesen. Nicht so … stark. Und doch verletzlich. Mein Gott, verknallte sie sich etwa in ihn? War sie dafür nicht längst zu alt?

»Sie wissen es nicht?«, fragte sie.

»Sie sagten, er wäre ein Süchtiger. Ich habe darauf gesetzt, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, noch ein letztes Mal zu spielen. Mit allem.«

»Sie waren schon in vielen Casinos, das merkt man.«

»Nein.« Er lachte. Ein Jungenlachen. »Ich wusste nicht mal, ob meine Karten irgendwas taugen.«

»Sechzehn gegen ein Ass? Ich würde sagen, nein. Wie konnten Sie dann so sicher wissen, dass er spielen würde? Die Geschichte, die Sie ihm erzählt haben, war nicht gerade überzeugend.«

Er zuckte mit den Schultern. Sie schaute in ihr Weinglas. Es war ihr längst klar. Er wusste, was Sucht bedeutete.

»Haben Sie irgendwann befürchtet, dass Sie ihn womöglich nicht aufhalten könnten, bevor er Jack erschießen würde?«

»Ja.«

»Ja?«

Der junge Polizist nippte an seinem Glas. Dieses Gesprächsthema schien ihm nicht besonders zu gefallen. Sollte sie ihn vom Haken lassen? Sie beugte sich über den Tisch. »Erklären Sie es mir, Macbeth.«

Er stellte das Glas ab. »Wenn Sie wollen, dass ein Mann in so einer Situation das Bewusstsein verliert, bevor er den Abzug drücken kann, müssen Sie ihm entweder direkt in den Kopf schießen oder ihm die Halsschlagader durchschneiden. Sie haben es ja gesehen: Wenn man die Halsschlagader durchtrennt, schießt kurz eine gewaltige Menge Blut hervor, der Rest tröpfelt dann nur noch heraus. Der Sauerstoff, den das Gehirn braucht, befindet sich in diesem ersten Schwall, deshalb war er schon bewusstlos, bevor das Blut auch nur den Tisch berührt hat. Es gab zwei Probleme. Erstens beträgt die ideale Entfernung für einen Messerwurf fünf Schritte. Ich saß viel näher, aber zum Glück sind die Dolche, die ich benutze, symmetrisch. Für jemanden, dem die Erfahrung fehlt, sind sie deshalb schwerer zu handhaben, aber für einen erfahrenen Werfer ist es leichter, die Rotation anzupassen. Das zweite Problem bestand darin, dass Collum so saß, dass ich die Arterie nur auf der linken Seite seines Gesichts treffen konnte. Ich musste also mit rechts werfen. Ich bin Linkshänder, wie Sie sehen. Ich brauchte etwas Glück. Und normalerweise hab ich kein Glück. Welche Karte hatte ich denn eigentlich gezogen?«

»Pikdame. Sie hatten verloren.«

»Sehen Sie.«

»Sie haben kein Glück?«

»Eindeutig nicht im Spiel.«

»Und sonst?«

Er dachte darüber nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. In der Liebe auch nicht.«

Sie lachten. Prosteten einander zu und lachten wieder. Lauschten auf den Regen. Und für einen Moment schloss sie die Augen. Sie hatte das Gefühl, in der Bar Eiswürfel klirren zu hören. Das Auftreffen der Kugel auf dem sich drehenden Rouletterad. Ihren eigenen Herzschlag.


»Was?« Er blinzelte im dunklen Schlafzimmer.

Sie wiederholte die Worte: »Du musst Duncan töten.«

Lady hörte den Klang ihrer eigenen Worte, spürte, wie sie in ihrem Mund wuchsen und ihren Herzschlag übertönten.

Macbeth setzte sich im Bett auf, sah sie aufmerksam an. »Bist du wach, mein Schatz, oder sprichst du im Schlaf?«

»Nein. Ich bin wach. Und du weißt, dass es getan werden muss.«

»Du hattest einen schlimmen Traum. Und jetzt …«

»Nein! Denk darüber nach. Es ist logisch. Es heißt, entweder er oder wir.«

»Glaubst du, er wünscht uns irgendwas Schlechtes? Er hat mich doch gerade erst befördert.«

»Auf dem Papier bist du vielleicht Leiter des neuen Dezernats, in Wirklichkeit aber bist du seinen Launen ausgeliefert. Wenn du den Obelisken dichtmachen willst, wenn du die Drogendealer aus der Gegend rund ums Inverness vertreiben und die Polizeipräsenz auf der Straße vergrößern willst, damit sich die Leute wieder sicher fühlen, musst du Chief Commissioner werden. Und das sind nur die Kleinigkeiten. Denk an all die großen Ziele, die wir erreichen könnten, wenn du ganz oben wärst, Liebster.«

Macbeth lachte. »Duncan will auch große Ziele erreichen.«

»Ich zweifele nicht daran, dass er das ernsthaft will, aber um es zu schaffen, muss ein Chief Commissioner breiten Rückhalt in der Bevölkerung haben. Und für die Einwohner dieser Stadt ist Duncan bloß ein Snob, der sich den besten Job unter den Nagel gerissen hat, genau wie Kenneth und wie Tourtell im Rathaus. Mit schönen Worten allein gewinnt man die Menschen nicht, es kommt darauf an, wer du bist. Du und ich, Macbeth, wir gehören zu ihnen. Wir wissen, was sie wissen. Wir wollen, was sie wollen. Hör zu. Aus dem Volk. Für das Volk. Mit dem Volk. Verstehst du? Wir sind die Einzigen, die das wirklich von sich behaupten können.«

»Ich verstehe, aber …«

»Aber was?« Sie strich ihm über den Bauch. »Willst du die Verantwortung nicht? Bist du kein Mann, der an der Spitze stehen möchte? Macht es dich glücklich, den andern die Stiefel zu lecken?«

»Natürlich nicht. Aber wenn wir einfach abwarten, kommen wir schon dahin. Als Leiter des Dezernats für Organisierte Kriminalität bin ich immerhin die Nummer drei.«

»Aber das Büro des Chief Commissioners ist für Leute wie dich nicht vorgesehen, Liebster! Denk mal drüber nach. Du hast diesen Posten bekommen, damit es so aussieht, als wärst du so viel wert wie sie. Den Job an der Spitze werden sie dir niemals geben. Nicht aus eigenem Antrieb. Wir müssen ihn uns nehmen.«

Er drehte sich auf die Seite, kehrte ihr den Rücken zu. »Lass uns das vergessen, Schatz. So wie du offenbar vergessen hast, dass Malcolm automatisch nachrückt, wenn Duncan irgendwas passiert.«

Sie packte seine Schulter, zog ihn wieder herum, zwang ihn, zu ihr hinaufzuschauen.

»Ich habe gar nichts vergessen. Ich habe nicht vergessen, dass Hecate gesagt hat, dass du Chief Commissioner werden wirst. Das bedeutet, er hat einen Plan. Wir kümmern uns um Duncan, dann wird er sich um Malcolm kümmern. Und ich habe auch den Abend nicht vergessen, an dem du Ernest Collum ausgeschaltet hast. Duncan ist Collum, mein Herz. Er hat eine Pistole auf unsere Träume gerichtet. Und du musst den Mut aufbringen, den du an jenem Abend aufgebracht hast. Du musst wieder der Mann sein, der du in dieser Nacht warst, Macbeth. Für mich. Für uns.« Sie legte ihm eine Hand auf die Wange und ließ ihre Stimme weicher klingen. »Leuten wie uns schenkt das Leben nicht allzu viele Gelegenheiten, Liebster. Wir müssen die wenigen beim Schopfe packen.«

Er lag da. Stumm. Sie wartete. Lauschte, aber diesmal übertönten keine Worte ihren Herzschlag. Er hatte Ehrgeiz, Träume und die nötige Willenskraft, das wusste sie. All das hatte ihn aus dem Elend geführt, in dem er feststeckte – all das hatte einen drogensüchtigen Jugendlichen zu einem Polizeikadetten gemacht und später zum Leiter des SWAT-Teams. Das war es, was sie verband: Sie hatten beide etwas erreicht und beide ihren Preis gezahlt. Sollte er jetzt aufgeben, auf halber Strecke, bevor sie die Früchte genießen konnten, den Respekt der anderen und den Platz an der Sonne? Er war mutig, ein rücksichtslos agierender Mann, aber er hatte Schwächen, die sich als fatal erweisen konnten. Ihm fehlte die Bösartigkeit. Die Bösartigkeit, die man brauchte, wenn auch nur in einem einzigen, entschlossenen Moment. In der Sekunde, in der man damit zurechtkommen muss, dass man die allgemeine Moral nicht auf seiner Seite hat, in der man das große Ganze nicht aus den Augen verlieren darf, sich nicht quälen darf mit der Frage, ob man hier und jetzt das Richtige tut. Macbeth liebte das, was er Gerechtigkeit nannte, und seine Loyalität den Gesetzen anderer gegenüber war eine Schwäche, für die sie ihn bisweilen liebte. In Friedenszeiten. Jetzt, da die Kriegsglocken läuteten, verachtete sie ihn dafür. Sie fuhr mit ihrer Hand von der Wange über seinen Hals, langsam hinab über seine Brust und den Bauch. Und wieder hinauf. Lauschte. Sein Atem war gleichmäßig, ruhig. Er schlief.


Macbeth atmete tief, als würde er schlafen. Sie nahm ihre Hand weg. Legte sich hinter seinen Rücken. Auch sie atmete jetzt ruhig. Er versuchte, im Rhythmus mit ihr zu atmen.

Duncan töten? Unmöglich. Natürlich war es unmöglich.

Warum konnte er dann nicht schlafen? Warum gingen ihm ihre Worte nicht aus dem Sinn, warum wirbelten die Gedanken wie Fledermäuse in seinem Kopf herum?

Leuten wie uns schenkt das Leben nicht allzu viele Gelegenheiten, Liebster. Wir müssen die wenigen beim Schopfe packen. Er dachte an die Gelegenheiten, die das Leben ihm bisher geschenkt hatte. Die eine, in jener Nacht im Waisenhaus, die er nicht ergriffen hatte. Und die, die Banquo ihm gegeben und die er angenommen hatte. Wie ihn die erste beinahe umgebracht und die zweite ihn gerettet hatte. Aber war es nicht so, dass man gewisse Gelegenheiten nicht ergriff, weil sie einen zu ewiger Niedergeschlagenheit verurteilten, weil die Reue einen bis ans Ende des Lebens quälen würde, und zwar gleichgültig, ob man sie angenommen hatte oder nicht? Oh, die entsetzliche Unzufriedenheit, die noch das vollkommenste Glück vergiftete. Und doch. Hatte das Schicksal eine Tür geöffnet, die sich schon bald wieder schließen würde? Ließ ihn sein Mut wieder im Stich, so wie er ihn in jener Nacht im Waisenhaus im Stich gelassen hatte? Er dachte zurück an den Mann in seinem Bett, fest schlafend und arglos. Wehrlos. Und doch ein Mann, der damals zwischen ihm und der Freiheit gestanden hatte, die jeder Mensch verdiente. Zwischen ihm und der Würde, nach der jeder Mensch verlangen sollte. Zwischen Macbeth und der Macht, die er gewinnen würde. Dem Respekt. Und der Liebe.

Der Tag war bereits angebrochen, als er Lady weckte.

»Wenn ich das tun würde …«, sagte er, »hätte Hecate mich in der Hand.«

Sie schlug die Augen auf, als wäre sie die ganze Zeit wach gewesen. »Warum denkst du so was, Liebster? Hecate hat nur prophezeit, dass etwas passieren wird. Du stündest nicht in seiner Schuld.«

»Was hat er denn davon, dass ich Chief Commissioner werde?«

»Das fragst du besser ihn. Aber es ist doch offensichtlich. Er weiß, dass Duncan geschworen hat, nicht eher zu ruhen, bis er ihn verhaftet hat. Und er geht davon aus, dass du deine Priorität auf die gewalttätigen Drogenbanden legen würdest, die sich gegenseitig auf der Straße erschießen.«

»Die Norse Riders, die sowieso schon angeschlagen sind?«

»Oder gegen das Establishment, das brave Leute um ihr Erspartes bringt.«

»Der Obelisk?«

»Zum Beispiel.«

»Hhm. Du hast von den großen Zielen gesprochen, die wir umsetzen könnten. Hattest du dabei an etwas Gutes für die Stadt gedacht?«

»Natürlich. Denk daran, dass es der Chief Commissioner ist, der entscheidet, gegen welche Politiker ermittelt werden soll und gegen welche nicht. Und jeder, der sich auch nur ein bisschen auskennt mit dem Stadtrat, weiß, dass hier alle, die an der Macht sind, gewisse Leute für Dienstleistungen bezahlt haben und selbst auch bezahlt wurden. Unter Kenneth brauchten sie sich nicht die Mühe zu machen, die Korruption zu verbergen, die Beweise waren ja für jeden sichtbar. Wir wissen das, und sie wissen es. Das bedeutet, wir können sie kontrollieren, wie wir wollen, mein Liebster.«

Sie strich ihm mit dem Zeigefinger über die Lippen. In ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte sie ihm gesagt, wie sehr sie seine Lippen liebte. Sie waren so zart und dünnhäutig, dass sie sein Blut schmecken konnte, wenn sie bloß ein klein wenig daran knabberte.

»Man könnte sie dazu zwingen, endlich ihre Versprechen zu halten und Maßnahmen zu ergreifen, die diese Stadt retten können«, flüsterte er.

»Ganz genau.«

»Bertha wieder in Gang bringen.«

»Ja.« Sie kaute auf seiner Unterlippe herum, und er spürte das Zittern, ihres und seines, spürte, wie ihre Herzen pochten.

Er hielt sie fest.

»Ich liebe dich«, flüsterte er.

Macbeth und Lady. Lady und Macbeth. Jetzt atmeten sie im selben Rhythmus.

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