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»Kommt mit!«, schrie Macbeth.

Die beiden Jungs starrten mit großen Augen den Mann an, der plötzlich in der Tür der Penthousesuite aufgetaucht war. Einer von ihnen hielt eine Flasche Champagner in den Händen und hatte gerade begonnen, den Draht am Korken abzuwickeln.

»Sofort!«, brüllte Macbeth.

»Sir, wir …«

»Ihr habt dreißig Sekunden, wenn ihr hier nicht sterben wollt!«

»Beruhigen Sie sich, Sir.«

Macbeth schnappte sich den Sektkühler und schleuderte ihn Richtung Fenster. Die Eiswürfel kullerten knackend über den Parkettboden. In der darauf folgenden Stille senkte er seine Stimme: »Hier wird eine Bombe hochgehen, in fünfundzwanzig Sekunden.«

Dann drehte er sich um und rannte los. Die Treppe hinunter. Mit dem Klappern von Schritten hinter sich. Sprintete am Fahrstuhl vorbei. Hielt den beiden Jungs die Tür zum Treppenhaus auf.

»Lauft! Lauft!«

Schloss die Tür hinter ihnen und stürmte ihnen nach.

Fünfzehn Sekunden. Macbeth hatte keine Ahnung, wie groß die Explosion sein würde, aber wenn die Bombe gebaut worden war, um ein Gebäude zu zerstören, so massiv wie das Inverness, mussten sie so weit wie möglich weg sein. Sechzehnter Stock. Er spürte, wie sein Kopf zu schmerzen begann, als würde er bereits den Druck der Explosion auf seinem Trommelfell, auf seinen Augäpfeln, in seinem Mund spüren. Vierzehnter Stock. Er schaute auf seine Uhr. Es war schon fünfzehn Sekunden drüber.

Elfter Stock. Immer noch nichts. Der Countdown-Mechanismus war womöglich nicht ganz akkurat eingestellt, oder es war absichtlich eine Verzögerung eingebaut worden. Die beiden Jungs vor ihm begannen langsamer zu werden. Macbeth brüllte sie an, und sie beeilten sich wieder.

Im achten Stock stießen sie eine Feuerschutztür auf und rannten in einen Korridor, aber Macbeth lief weiter die Haupttreppe hinunter. Der Fahrstuhl war eine Todesfalle. Als er im Erdgeschoss ankam, war die Bombe beinahe drei Minuten überfällig.

Er betrat die Empfangshalle. Dieselben Angestellten waren noch da, machten sich hinter der Rezeption zu schaffen, als wäre nichts passiert, nahmen ihn gar nicht zur Kenntnis. Er ging hinaus in den Regen. Schaute auf. Stand so da, bis ihm der Nacken wehtat. Dann marschierte er über den verlassenen Platz auf Seyton und den geparkten Wagen zu. Was zur Hölle war geschehen? Oder eher: Was war nicht geschehen? War die Bombe im Keller des Polizeihauptquartiers feucht geworden? Hatte es jemand geschafft, den Countdown anzuhalten, nachdem er die Penthousesuite verlassen hatte? Oder war sie detoniert, aber mit sehr viel weniger Kraft, als es ihn der Sprengstoffexperte des SWAT-Teams hatte glauben lassen? Und was jetzt? Er blieb stehen. Was, wenn Hecate oder seine Leute in die Suite gingen und feststellten, dass er eine Bombe dort zurückgelassen hatte? Er musste zurück und den Koffer holen.

Macbeth drehte sich um. Machte zwei Schritte. Sah den Umriss seines Schattens auf dem Kopfsteinpflaster und hörte einen dumpfen Knall, wie ferner Donner. Einen Augenblick lang hielt er es für Hagel. Weiße Körnchen trafen ihn im Gesicht und an den Händen, prasselten auf den Boden um ihn herum und tanzten auf den parkenden Wagen. Ein Duschkopf traf wenige Meter von ihm entfernt auf. Er warf einen Blick nach oben, wurde aber schon im nächsten Augenblick umgerissen und hörte neben sich einen dröhnenden Knall. Macbeth hob die Arme, um sich zu schützen, aber der Mann, der ihn zu Boden gerissen hatte, war bereits wieder aufgesprungen, hatte seinen grauen Mantel abgeklopft und war davongerannt. Macbeth sah einen zerschellten braunen Kühlschrank genau dort, wo er vor einer Sekunde noch gestanden hatte.

Er ließ seinen Kopf auf den kühlen Pflastersteinen liegen.

Flammen stiegen von der Spitze des Obelisken auf, und schwarzer Rauch kräuselte sich in den Himmel. Etwas kam über die Pflastersteine auf ihn zugehüpft und blieb neben seinem Kopf liegen. Er hob es auf. Es steckte immer noch in seinem Drahtkäfig.


»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte Seyton, als Macbeth in den Wagen gestiegen war.

»Tourtell«, sagte Macbeth. »Er hat Hecate gewarnt. Fahren Sie los.«

»Tourtell?«, wiederholte Seyton und lenkte den Wagen auf die Fahrbahn, während die Scheibenwischer winzige Glasscherben von der Windschutzscheibe fegten.

»Tourtell ist der Einzige, der von unserem Plan wusste. Er muss Hecate informiert haben in der Hoffnung, dass er mich umbringen würde.«

»Und Hecate hat nicht versucht, Sie umzubringen?«

»Nein. Ganz im Gegenteil. Er hat mich gerettet.«

»Wieso das?«

»Er braucht seine Marionetten.«

»Was?«

»Nichts, Seyton. Fahren Sie zum Inverness.«

Macbeth ließ seinen Blick über den Gehsteig wandern, über die Leute, die entsetzt aufschauten. Er suchte nach grauen Mänteln. Wie viele gab es von ihnen? Trugen sie alle graue Mäntel oder nur manche von ihnen? Waren sie immer da? Er schloss die Augen. Unsterblich. So unsterblich wie eine hölzerne Puppe. Der Druck in seinem Kopf wurde schlimmer. Und ein seltsamer Gedanke wirbelte hindurch. Hecates Versprechen, ihn unverwundbar zu machen, war kein Segen, sondern ein Fluch. Er spürte den Draht an seiner Haut, als er den Korken aus der Champagnerflasche in seiner Hand schraubte und die erste Polizeisirene hörte.

Seyton hatte vor dem Inverness gehalten, und Macbeth wollte gerade aussteigen, als er Tourtells Stimme hörte.

»Drehen Sie das Radio lauter«, sagte Macbeth und setzte sich wieder hin.

»… um den Gerüchten entgegenzuwirken und aus Respekt vor Ihnen, meine lieben Mitbürger. Weil Sie außerdem das Recht haben, über die von Ihnen gewählten Vertreter informiert zu sein, habe ich mich heute dazu entschlossen, Ihnen mitzuteilen, dass ich vor fünfzehn Jahren eine kurze außereheliche Affäre hatte, die zur Geburt eines Sohnes geführt hat. Im Einvernehmen mit allen Beteiligten – das heißt, mit der Mutter meines Sohnes und mit meiner Ehefrau – wurde damals beschlossen, dies aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Ich bin immer in engem Kontakt mit meinem Sohn und seiner Mutter geblieben und habe sie im Rahmen meiner Möglichkeiten nach besten Kräften unterstützt. Damals nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, war eine Entscheidung, die verschiedene Interessen berücksichtigt hat. Um die Stadt ging es damals noch nicht, da ich noch nicht im Amt war und niemandem Rechenschaft ablegen musste, außer den mir Nahestehenden und mir selbst. Nun allerdings liegen die Dinge anders, und heute ist der richtige Zeitpunkt, um offen über diese Dinge zu sprechen. Die Mutter meines Sohnes ist ernsthaft erkrankt, und mit ihrem Einverständnis ist er vor zwei Monaten zu mir gezogen, um bei seinem Vater zu leben. Seitdem habe ich Kasi mit zu öffentlichen Anlässen genommen, wo ich ihn auch als meinen Sohn vorgestellt habe. Doch wie es aussieht, hat meine Ehrlichkeit paradoxerweise zu anderen Gerüchten geführt. Wie wir wissen, wird die Wahrheit stets als Letztes geglaubt. Ich bin nicht stolz darauf, vor fünfzehn Jahren untreu gewesen zu sein, aber abgesehen davon, dass ich seinerzeit die Vergebung der mir Nahestehenden gesucht habe, kann ich dagegen nun wenig tun. So wenig ich auch gegen Menschen tun kann, die meine Fähigkeiten als Politiker nach meinem Privatleben beurteilen. Ich kann nur eines tun: Sie um Ihr Vertrauen bitten, so wie ich nun Ihnen vertraue, indem ich Details aus meinem Leben öffentlich mache, die äußerst schmerzlich für mich sind. Ich habe mich vielleicht nicht immer so verhalten, dass ich Grund hatte, stolz auf mich zu sein, umso stolzer aber bin ich auf Kasi, meinen fünfzehnjährigen Sohn. Gestern Abend habe ich ein langes Gespräch mit ihm geführt, und er sagte mir, ich solle tun, was ich jetzt tue. Der ganzen Stadt erzählen, dass ich sein Vater bin.« Tourtell atmete tief ein, bevor er mit deutlichem Vibrato in der Stimme fortfuhr: »Und dass er mein Sohn ist.« Er räusperte sich. »Und dass ich die anstehenden Bürgermeisterwahlen gewinnen soll.«

Pause. Eine Frauenstimme, ebenfalls deutlich bewegt.

»Sie hörten eine Stellungnahme von Bürgermeister Tourtell. Nun zurück zu den Nachrichten. Im Distrikt 4 ist es zu einer schweren Explosion gekommen, genauer gesagt, in den oberen Stockwerken des Obelisk-Casinos. Bisher sind uns keine Todesfälle oder Verletzten bekannt, aber …«

Macbeth schaltete das Radio aus.

»Verdammt«, sagte er. Dann brach er in lautes Gelächter aus.

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