31

Lennox stand am Fenster und starrte hinaus. Wog die Granate in seiner Hand. Angus, Angus. Er hatte immer noch niemandem von dem Treffen in der Estex-Fabrik erzählt. Warum, wusste er nicht. Er wusste nur, dass er den ganzen Tag nichts zustande gebracht hatte. Gestern auch nicht. Und vorgestern ebenfalls nicht. Sobald er versuchte, einen Bericht zu lesen, verlor er die Konzentration. Es war, als würden sich die Buchstaben in Bewegung setzen und neue Wörter bilden. Aus Beirat wurde Verrat und aus Tagung Täuschung. Und wenn er zum Telefon griff, wog der Hörer eine Tonne, und er musste ihn sofort wieder auflegen. Er hatte versucht, die Zeitung zu lesen, und herausgefunden, dass sich der alte Zimmermann zum Bürgermeisterkandidaten aufstellen ließ. Zimmermann war weder kontrovers noch charismatisch, man respektierte ihn für seine Kompetenz, so weit diese eben reichte, aber ein ernst zu nehmender Herausforderer für Tourtell war er nicht. Lennox hatte außerdem angefangen, einen Artikel über den wachsenden Umsatz im Drogenhandel zu lesen, der, laut der UN, zum größten Wirtschaftszweig nach dem Waffengeschäft geworden war. Irgendwann wurde ihm allerdings klar, dass er die Sätze nur anschaute und nicht las.

Acht Tage waren vergangen, seit Duff seiner Verhaftung in Capitol entkommen war. Als Lennox und Seyton vor ihm im Büro des Chief Commissioners gestanden hatten, war Macbeth so fuchsteufelswild gewesen, dass ihm tatsächlich Schaum vor dem Mund gestanden hatte. Weiße Speichelblasen sammelten sich in seinen Mundwinkeln, während er sich darüber ereiferte, als was für ein Idiot er jetzt in der Hauptstadt dastand. Und dass all das nie passiert wäre, hätten Lennox und Seyton ihre Arbeit getan und Duff erwischt, solange er noch in der Stadt gewesen war. Trotzdem spürte Lennox eine paradoxe Erleichterung darüber, dass Duff immer noch am Leben und auf freiem Fuß war.

Draußen war es nicht mehr besonders hell, dennoch brannten ihm die Augen. Vielleicht brauchte er heute einen Extraschuss. Er musste bloß durch diesen Tag kommen, morgen würde alles besser sein.

»Ist das wirklich eine Handgranate, oder soll das ein Aschenbecher sein?«

Lennox wandte sich der Stimme an der Tür zu.

Macbeth hatte eine merkwürdige Haltung eingenommen, nach vorn gebeugt und mit den Händen am Körper, als stemme er sich gegen starken Wind. Sein Kopf war gesenkt, die Augen aber standen weit offen und starrten Lennox direkt an.

»Jemand hat sie im Ersten Weltkrieg auf meinen Großvater geworfen.«

»Lügen.« Macbeth grinste, trat ein und schloss hinter sich die Tür. »Das ist eine deutsche M24 Stielhandgranate. Kann nur ein Aschenbecher sein.«

»Ich glaube nicht, dass mein Großvater …«

Macbeth nahm Lennox die Granate aus der Hand, griff nach der Abreißschnur.

»Nicht!«

Macbeth hob eine Augenbraue und betrachtete den Chef der Antikorruptionseinheit, der ängstlich ausstieß: »Sie wird in die Luft gehen!«

»Was? Die Geschichte von Ihrem Großvater?« Macbeth ließ die Schnur los und legte die Handgranate zurück auf den Tisch. »Das können wir ja nicht zulassen, nicht wahr? Also, worüber haben Sie gerade nachgedacht, Inspector?«

»Über Korruption«, sagte Lennox und ließ die Granate rasch in einer Schublade verschwinden. »Und Antikorruption.«

Macbeth zog sich den Besucherstuhl heran. »Was genau ist eigentlich Korruption, Lennox? Ist es Korruption, wenn ein von seiner Sache überzeugter Revoluzzer Geld dafür annimmt, unseren Staatsapparat zu unterwandern? Oder ist es Korruption, wenn ein gehorsamer, aber passiver Diener sein reguläres, aber doch ungewöhnlich hohes Gehalt empfängt – in einem System, von dem er weiß, dass es auf Korruption basiert?«

»Es gibt viele Grauzonen, Chief Commissioner. Im Grunde weiß man doch nur von sich selbst immer genau, ob man korrupt ist oder nicht.«

»Sie meinen, es ist eine reine Gefühlssache?« Macbeth setzte sich, und Lennox folgte seinem Beispiel, um ihn nicht zu überragen.

»Wenn man sich also nicht korrupt fühlt, ist man auch nicht korrupt? Weil zum Beispiel die Familie, für die man sorgen muss, von dem Geld abhängt, das man mit nach Hause bringt? Wenn das Motiv anständig ist – wenn es um das Wohl der Familie oder der Stadt geht –, können wir das Wort Korruption also durch ein anderes ersetzen, durch Realpolitik zum Beispiel?«

»Ich glaube, es ist genau andersherum«, sagte Lennox. »Nur wenn man weiß, dass einen eigentlich die Gier antreibt, muss man sich solche Umschreibungen ausdenken. Moralisch zu rechtfertigende Verbrechen brauchen keine Umschreibungen. Wir können damit leben, sie bei ihrem wahren Namen zu nennen: Korruption, Raub, Mord.«

»Das machen Sie also? Sie sitzen hier und denken nach«, sagte Macbeth und griff sich ans Kinn. »Fragen sich, ob Sie korrupt sind oder nicht.«

»Ich?« Lennox stieß ein kurzes Lachen aus. »Ich rede selbstverständlich von den Leuten, gegen die wir ermitteln.«

»Und doch sprechen wir immer über uns selbst. Und ich würde trotzdem dabei bleiben: Verzweifelte Situationen treiben die Menschen dazu, ihrer Korruption andere Namen zu geben. Dann ist auch Geld, das man einstreicht, damit andere von einem profitieren, kein Bestechungsgeld, sondern eine Hilfeleistung. Es ermöglicht Leben. Das Leben der Familie etwa. Verstehen Sie?«

»Ich weiß nicht …«, sagte Lennox.

»Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben«, sagte Macbeth. »Ein Radioreporter, der für seine Integrität bekannt ist, wird von einem jungen Polizeibeamten kontaktiert, der glaubt, eine Story zu haben, die einen Chief Commissioner stürzen könnte. Was dieser heimtückische Beamte, nennen wir ihn Angus, nicht weiß, ist, dass dieser Radioreporter eine gewisse … Beziehung zum Chief Commissioner pflegt. Der Reporter fürchtet, aus gutem Grund, um seine Familie, wenn er nicht tut, was der Chief Commissioner von ihm verlangt. Also informiert der Reporter besagten Chief Commissioner über die aufrührerischen Pläne des Beamten. Der Reporter verspricht, sich wieder bei dem jungen Polizisten zu melden, und der Chief Commissioner sagt dem Reporter, dass er den Polizisten an einem Ort treffen soll, wo ihn niemand sehen oder hören kann. Wo der Chief oder seine Leute in der Lage sind … nun, Sie wissen schon.«

Lennox antwortete nicht. Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab.

»Der Chief ist also in Sicherheit. Aber nachvollziehbarerweise fragt er sich nun, wer hier die korrupte Person ist: der junge Beamte, der Radioreporter oder … oder wer, Lennox?«

Lennox räusperte sich, zögerte. »Der Chief Commissioner?«

»Nein, nein, nein.« Macbeth schüttelte den Kopf. »Die dritte Person. Derjenige, der den Chief Commissioner hätte von Anfang an informieren sollen. Der Dritte, der von Angus’ Plänen wusste. Noch ist er kein Mitverschwörer, aber indirekt eben doch, solange er es nicht schafft, zu seinem Chef zu gehen und ihn zu retten. Was er immer noch nicht getan hat. Weil er nachdenken muss. Und weiter nachdenken muss. Und während er nachdenkt, wird er selbst korrupt, oder sehen Sie das anders?«

Lennox versuchte, Macbeths Blick zu begegnen. Aber es war, als würde man in die Sonne starren.

»Das Treffen bei Estex, Lennox. Ich weiß nicht, wann Sie vorgehabt haben, mir davon zu berichten.«

Lennox konnte nicht aufhören zu blinzeln. »Ich … ich habe darüber nachgedacht.«

»Ja, ist schwer, damit aufzuhören. Gedanken kommen einem einfach, nicht wahr? Und ganz gleich, für wie frei wir unseren Willen halten, er wird doch von unseren Gedanken beherrscht, von den erwünschten und den unerwünschten. Sagen Sie mir, wer zu Ihnen kam, Lennox.«

»Diese Person …«

»Sagen Sie mir den Namen.«

»Er ist …«

»Sagen Sie den Namen!«

Lennox atmete tief ein. »Police Officer Angus.«

»Weiter.«

»Sie kennen Angus. Er ist jung. Impulsiv. Und bei allem, was in letzter Zeit passiert ist, könnte jeder mal irrational reagieren. Ich dachte, bevor ich mit derart schwerwiegenden Anschuldigungen zu Ihnen komme, sollte ich versuchen, ihn erst mal wieder zur Vernunft zu bringen. Abwarten, bis er sich ein bisschen beruhigt hat.«

»Und mich in der Zwischenzeit im Ungewissen lassen? Weil Sie davon ausgingen, dass Sie die Situation besser einschätzen können als ich? Dass ich Angus, den ich selbst zu den SWATs geholt habe, keine zweite Chance geben würde? Dass ich ihm sofort seinen überhitzten, aber ansonsten unschuldigen Kopf abreißen würde?«

»Ich …« Lennox suchte nach Worten, um seinen Satz zu beenden.

»Aber Sie täuschen sich, Lennox. Ich gebe meinen Untergebenen immer eine zweite Chance. Und diese Regel gilt sowohl für Angus als auch für Sie.«

»Das freut mich zu hören.«

»Ich glaube an Großmut. Deshalb hätte ich die ganze Angelegenheit auch auf sich beruhen lassen, wenn Angus Zeichen des Bedauerns gezeigt und sich geweigert hätte, mit dem Reporter ein weiteres Mal zu sprechen, als dieser ihn anrief, um ein zweites Treffen zu vereinbaren. Ich hätte keinen weiteren Gedanken daran verschwendet. Das Leben wäre einfach weitergegangen. Unglücklicherweise hat sich Angus nicht so verhalten. Und eine dritte Wange kann ich nicht hinhalten.«

Macbeth stand auf und ging zum Fenster hinüber.

»Was mich zu Ihrer zweiten Chance bringt, Lennox. Mein Reporter ist darüber informiert worden, dass Sie und Seyton ebenfalls an dem Treffen teilnehmen werden. Es wird heute Abend in der Estex-Fabrik stattfinden, wo Angus zudem noch einen Fotografen erwartet, der Bilder von einem Brennofen machen soll, weil er glaubt, dort wäre die Leiche eines Kindes verbrannt worden. Und dort werden Sie persönlich den Verräter bestrafen.«

»Bestrafen?«

»Ich überlasse das Strafmaß Ihrer eigenen Diskretion. Meine einzige Forderung ist, dass der Ausgang tödlich sein soll.« Macbeth wandte sich Lennox zu, der durch den Mund atmete.

»Anschließend wird Seyton Ihnen dabei helfen, die Leiche loszuwerden.«

»Aber …«

»Es kann ja durchaus sein, dass es dritte Chancen gibt. Im Himmel. Wie geht es übrigens Ihrer Familie?«

Ein undeutlicher Laut brach aus Lennox’ Mund hervor.

»Gut«, sagte Macbeth. »Seyton wird Sie um sechs abholen. Je nachdem, welche Bestrafung Sie wählen, sollte alles innerhalb von anderthalb Stunden erledigt sein. Daher schlage ich vor, dass Sie Ihre charmante Gattin anrufen und ihr mitteilen, dass Sie heute etwas später zum Tee kommen werden. Man hat mir gesagt, ihre Einkäufe deuten darauf hin, dass sie Ihnen heute Blutwurst servieren wird.«

Macbeth verließ den Raum und schloss leise hinter sich die Tür.

Lennox legte seinen Kopf in die Hände. Eine Molluske. Eine Kreatur ohne einen einzigen Knochen im Körper.

Ein Schuss. Er brauchte unbedingt einen Schuss.


Macbeth ließ seine Absätze auf den Boden knallen, während er den Gang entlangschritt, um die Stimme in seinem Kopf zu übertönen, die ihm zuschrie, dass er eine Dosis Power brauchte. Oder Brew. Irgendwas. Er hatte es jetzt geschafft, länger als eine Woche clean zu bleiben. Es würde schlimmer werden, bevor es besser wurde, aber es würde besser werden. Er hatte es schon einmal geschafft und würde es wieder schaffen. Wenn nur nicht dieser schreckliche Schweiß gewesen wäre – er stank, stank nach Unbehagen, Angst und Schmerz. Aber das würde vergehen. Alles würde vergehen. Musste vergehen. Er trat ins Vorzimmer zu seinem Büro.

»Chief Commissioner …«

»Keine Nachrichten, keine Telefonate, Priscilla.«

»Aber …«

»Nicht jetzt. Später.«

»Sie haben Besuch.«

Macbeth bremste scharf ab. »Sie haben jemanden da hineingelassen?« Er zeigte auf seine Bürotür.

»Sie hat darauf bestanden.«

Macbeth schaute in Priscillas verzweifeltes Gesicht.

»Es ist Ihre Frau.«

»Was?«, stieß er verblüfft aus. Er schloss den obersten Knopf seiner Uniform und ging in sein Büro.

Sie stand hinter dem Schreibtisch und musterte eindringlich das Gemälde an der Wand. »Liebling! Du musst dringend was an der Kunstauswahl hier drin ändern.«

Macbeth starrte Lady ungläubig an. Sie trug ein schlichtes, elegantes Kleid unter einem Pelzmantel; offenbar war sie direkt vom Friseur hierhergekommen, sah entspannt und energisch zugleich aus. Er näherte sich ihr mit Vorsicht. »Wie … geht’s dir, mein Schatz?«

»Hervorragend«, sagte sie. »Ich verstehe schon, dass dieses Bild Propaganda sein soll, aber was will es uns eigentlich sagen?«

Macbeth konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Wo war die Wahnsinnige, die er gestern noch vor sich gehabt hatte? Verschwunden.

»Liebster?«

Macbeth schaute das Gemälde an. Sah die primitiven Gesichter der Arbeiter. »Das hat jemand anders hier aufgehängt. Ich lasse es austauschen. Ich freue mich so, dass es dir besser geht. Hast du … deine Medizin genommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Keine Medizin. Ich habe damit aufgehört. Ganz und gar.«

»Weil keine mehr da ist?«

Sie lächelte flüchtig. »Ich habe gesehen, dass die Schublade leer war. Du hast auch aufgehört.« Sie setzte sich auf seinen Stuhl. »Es ist ein bisschen … eng hier, oder?«

»Vielleicht.« Macbeth setzte sich auf einen der Besucherstühle. Vielleicht war ihr Wahnsinn ja nur ein Labyrinth gewesen, und sie hatte den Weg hinaus gefunden.

»Freut mich, dass du das auch so siehst. Ich habe heute Morgen mit Jack geplaudert. Über den Plan, den ihr wegen der Bürgermeisterwahlen geschmiedet habt.«

»Ja. Und – was hältst du davon?«

Sie zog einen Schmollmund und wiegte den Kopf. »Du hast dir das zurechtgelegt, so gut du konntest, aber eines hast du nicht bedacht.«

»Und das wäre?«

»Du denkst, wir sollten die Informationen über Tourtells Beziehung zu diesem Jungen kurz vor der Wahl an die Öffentlichkeit geben. Und dann würdest du, der Sweno-Vollstrecker, das Vakuum füllen, bevor die Leute an die Wahlurnen gehen.«

»Ja?«, sagte Macbeth voller Enthusiasmus.

»Das Problem ist, das Vakuum wurde bereits gefüllt, als Zimmermann seine Kandidatur bekannt gegeben hat.«

»Der Langweiler? Niemand interessiert sich für den.«

»Zimmermann wirkt nicht besonders attraktiv, das ist wahr, aber die Leute kennen ihn und wissen, was sie erwartet. Deshalb fühlen sie sich sicher mit ihm. Und es ist wichtig für die Leute, dass sie sich in diesen dramatischen Zeiten sicher fühlen können. Deshalb wird Tourtell auch wiedergewählt werden.«

»Glaubst du wirklich, dass Zimmermann mich schlagen könnte?«

»Ja«, sagte Lady. »Es sei denn, du wirst offiziell von einem Tourtell unterstützt, der nicht von einem Skandal beschädigt wurde, und hast Hecate zur Strecke gebracht. Wenn du diese beiden Dinge erreichst, bist du unschlagbar.«

Macbeth spürte eine erschöpfte Erleichterung. Sie war aus dem Labyrinth heraus. Sie war wieder hier, zurück bei ihm.

»Schön, aber wie?«

»Indem du Tourtell ein Ultimatum stellst. Entweder er zieht seine Kandidatur freiwillig zurück, indem er sein fortgeschrittenes Alter und gesundheitliche Gründe vorschiebt, und sichert dir offiziell seine uneingeschränkte Unterstützung zu. Oder wir zwingen ihn zum Rücktritt, indem wir drohen, ihn als das perverse Schwein zu demaskieren, das er ist. Daraufhin würde er verhaftet und ins Gefängnis geworfen werden, und er weiß ja, was da mit Päderasten passiert. Die Entscheidung dürfte ihm nicht schwerfallen.«

»Hm.« Macbeth kratzte seinen Bart. »Dann haben wir uns einen Feind gemacht.«

»Tourtell? Ganz im Gegenteil. Er versteht Machtkämpfe und wird dankbar sein, dass wir ihm eine gnädige Alternative einräumen.«

»Lass mich darüber nachdenken.«

»Nicht nötig, Liebling. Es gibt nichts zu bedenken. Dann ist da noch der Puppenspieler, Hecate. Es wird Zeit, dass wir ihn loswerden.«

»Ich bin mir nicht so sicher, ob das wirklich klug ist, mein Schatz. Denk dran, er ist unser Gewährsmann und wird uns unterstützen, wenn wir uns seine Gegner vornehmen.«

»Hecate hat immer noch nichts eingefordert dafür, dass er dich zum Chief Commissioner gemacht hat«, sagte Lady. »Aber der Tag der Abrechnung wird bald kommen. Und dann wirst du das hier tun.« Sie hob einen Ellbogen, als würde er von einem Faden nach oben gezogen. »Und dies.« Ein Fuß schoss nach vorn. »Willst du Hecates Marionette sein, Liebster? Die öffentliche Jagd auf ihn einzuschränken, wird nicht genügen, er wird mehr und immer mehr von dir verlangen und am Ende alles – so sind Menschen wie er. Die Frage lautet also, ob du willst, dass Hecate die Stadt durch dich kontrolliert? Oder …«, sie stützte ihre Ellbogen auf den Schreibtisch, »… willst du selbst der Puppenspieler sein? Der Held, der Hecate geschnappt hat und zum Bürgermeister gewählt wurde?«

Macbeth schaute sie eindringlich an. Dann nickte er langsam.

»Ich werde Tourtell zu einer privaten Partie Black Jack einladen«, sagte Lady und stand auf. »Und du schickst Hecate eine Nachricht, dass du ihn von Angesicht zu Angesicht sprechen willst.«

»Und warum, glaubst du, sollte er sich darauf einlassen?«

»Weil du ihm einen Koffer voller Gold überreichen wirst, als Dank dafür, dass er uns den Posten des Chief Commissioners besorgt hat.«

»Und den Köder wird er schlucken, meinst du?«

»Manche Menschen lassen sich blenden von Macht, andere von Geld. Hecate gehört zur letzteren Kategorie. Die Einzelheiten nenne ich dir später.«

Macbeth begleitete sie zur Tür. »Liebste«, sagte er, legte ihr eine Hand auf den Rücken und strich über den dicken Pelzmantel. »Es ist so schön, dass du wieder da bist.«

»Ebenso«, sagte sie und ließ ihn ihre Wange küssen. »Sei stark. Wir wollen einander stark machen.«

Er schaute ihr nach, wie sie durch das Vorzimmer glitt, und fragte sich, ob er jemals wirklich verstehen würde, wer sie war. Oder ob er das wirklich wollte. War es nicht gerade das, was sie für ihn so unwiderstehlich machte?


Lennox und Seyton hatten auf der Straße gegenüber der Estex-Fabrik geparkt. Es war so dunkel, dass Lennox den leichten Regen nicht sehen konnte; er hörte ihn nur als Flüstern auf dem Wagendach und der Windschutzscheibe.

»Da ist der Reporter«, sagte Seyton.

Das Licht eines Fahrrads zuckte über die Straße. Bog durch das Tor und war verschwunden.

»Geben wir ihm zwei Minuten«, sagte Seyton und überprüfte seine Maschinenpistole.

Lennox gähnte. Zum Glück hatte er es geschafft, sich noch einen Schuss zu setzen.

»Jetzt«, sagte Seyton.

Sie stiegen aus, liefen durch die Dunkelheit, durchs Tor und in das Fabrikgebäude hinein.

Aus dem erhöhten Vorarbeiterbüro drangen Stimmen.

Seyton schnupperte. Dann deutete er auf die Stahltreppe.

Sie schlichen hinauf. Lennox spürte eine wunderbare Leere im Kopf, und der Stahl des Geländers war so kalt, dass ihm die Handflächen zu gefrieren schienen. Direkt vor der Tür blieben sie stehen. Da er high war, hatte er das Gefühl, in einem warmen, sicheren Raum zu sitzen und sich selbst zu beobachten. Das Brummen der Stimmen im Inneren erinnerte ihn daran, wie er als Kind im Bett gelegen und seine Eltern im Wohnzimmer gehört hatte.

»Wann wird das alles denn nun gedruckt?« Das war Angus’ Stimme.

Die Antwort kam mit hörbarer Arroganz und besonders lang gerollten Rs: »Abgesehen davon, dass wir beim Radio nichts drucken, hoffe ich …«

Als Seyton die Tür öffnete, war es, als hätte jemand die Stopptaste auf einem Kassettenrekorder gedrückt. Walt Kites Augen sahen riesig aus hinter seiner Brille. Vor Angst. Aufregung. Erleichterung? Jedenfalls nicht vor Überraschung. Lennox und Seyton waren pünktlich erschienen.

»Guten Abend«, sagte Lennox und spürte, wie sich ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

Angus stieß beim Aufstehen seinen Stuhl um und griff nach etwas in seiner Jacke. Aber als er Seytons Maschinenpistole erblickte, erstarrte er.

In der darauffolgenden Stille knöpfte Kite seine gelbe Öljacke zu. Es war wie auf der Herrentoilette: Keine Blicke wurden getauscht, nichts gesagt. Er verließ nur rasch den Raum, ohne den Kopf zu heben. Er hatte sein Geschäft erledigt und ließ die anderen mit dem Gestank zurück.

»Worauf warten Sie, Lennox?«, fragte Angus.

Lennox wurde bewusst, dass er seinen Arm ausgestreckt hatte und an dessen Ende die Waffe in der Hand hielt. »Darauf, dass der Reporter so weit weg ist, dass er den Schuss nicht mehr hört.«

Angus’ Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Sie werden mich also erschießen?«

»Es sei denn, Sie haben einen anderen Vorschlag. Ich habe freie Hand bekommen, wie das hier ablaufen soll.«

»Okay.«

»Okay? Heißt das: Ich verstehe. Oder: Ja, ich will erschossen werden?«

»Es heißt …«

Lennox drückte ab. In dem engen Raum spürte er den physischen Druck der Explosion auf seinem Trommelfell. Er öffnete wieder die Augen. Angus stand noch immer vor ihm, jetzt mit offenem Mund. In dem Aktenschrank hinter ihm klaffte ein Loch.

»Entschuldigung«, sagte Lennox und trat zwei Schritte näher. »Ich dachte, ein unangekündigter Schuss in den Kopf wäre die menschlichste Lösung. Aber Köpfe sind ziemlich klein. Stehen Sie bitte still …« Ein unwillkürliches Kichern entschlüpfte seinen Lippen.

»Inspector Lennox, ohne …«

Der zweite Schuss traf das Ziel. Der dritte auch.

»Ohne Sie kritisieren zu wollen«, sagte Seyton und schaute auf den Toten hinab. »Es wäre doch praktischer gewesen, wenn Sie ihn zu den Brennöfen runtergeschickt und es dort erledigt hätten. Jetzt werden wir ihn tragen müssen.«

Lennox antwortete nicht. Er musterte die wachsende Blutlache, die aus dem Körper des jungen Mannes auf ihn zufloss. Die Farbe und die Form hatten eine eigentümliche Schönheit an sich, das glitzernde Rot, das sich in alle Richtungen ausbreitete, als würde ein roter Luftballon aufgeblasen. Sie trugen Angus hinunter in die Fabrikhalle, dann sammelten sie die leeren Patronenhülsen ein, wischten den Boden auf und zogen die erste Kugel aus der Wand. Unten nahmen sie ihm seine Uhr und eine Kette mit goldenem Kreuz ab. Sie verfrachteten die Leiche in einen der Öfen, schlossen und befeuerten ihn. Warteten. Lennox starrte die Rinne an, die vom Boden des Ofens zu einer Wanne auf dem Boden führte. Aus dem Ofen kam ein tiefes Zischen.

»Was passiert mit …«

»Es verdampft«, sagte Seyton. »Alles verdampft oder wird zu Asche, wenn die Temperatur über tausend Grad erreicht. Außer Metall, das schmilzt einfach nur.«

Lennox nickte. Er konnte den Blick nicht von der Abflussrinne wenden. Ein grauer, zitternder Tropfen tauchte auf, mit einer feinen Membran darüber.

»Blei«, sagte Seyton. »Schmilzt bei dreihundertfünfzig Grad.«

Sie warteten. Das Zischen im Inneren hatte aufgehört.

Dann kam ein goldener Tropfen.

»Wir haben die tausend jetzt erreicht«, sagte Seyton.

»Was … was ist das?«

»Gold.«

»Aber wir haben doch seine Uhr …«

»Zähne. Warten Sie, bis es über tausendsechshundert geht, für den Fall, dass sich noch Stahl in seinem Körper befindet. Danach müssen wir bloß noch die Asche aufsaugen. Hey, geht’s Ihnen gut?«

Lennox nickte. »Bisschen schwindelig. Ich habe … ähm … noch nie jemanden erschossen. Sie ja schon. Sie erinnern sich also bestimmt noch, wie es sich beim ersten Mal anfühlt.«

»Ja«, sagte Seyton leise.

Lennox wollte gerade fragen, wie es sich für ihn angefühlt hatte, aber als er das Funkeln in Seytons Augen sah, überlegte er es sich anders.

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