Kapitel 9

Der Forschungssatellit Cornucopia von Kyocera-Merck befand sich nur einen kurzen Sprung von Valparaiso Nuevo entfernt, nur ein paar lächerliche hundert Kilometer. Einer der unzählbaren leuchtenden Punkte, die im Raum in der Nähe von L-5 herumtanzten, eine der Myriaden Glitzerquallen im Ozean der Nacht.

Farkas sollte sich in Cornucopia die Details für seinen nächsten Auftrag holen, und auf jeden Fall wollte er eine Chance bekommen, sich ein bisschen mit Dr. Wu zu unterhalten, ehe er den Satellitengürtel verließ. Er stellte sich vor, dass man ihm das immerhin schuldig sei; doch um sicher zu gehen, formulierte er seinen Wunsch als »dringend nötige Information«, als hätte eine andere Abteilung von K-M ihn gebeten, Dr. Wu zu befragen. Dies schien ihm bessere Erfolgschancen zu haben, als wenn er sein Ansuchen als persönliche Gunst darstellte.

Er wartete einige Tage auf Valparaiso ab, damit sie die Chance hatten, ihre Neuerwerbung dort drüben bequem unterzubringen. Dann buchte er eine Passage auf dem Mittagsshuttle, das täglich im regulären Pendelverkehr die benachbarten Gruppen von Habitaten abklapperte.

Keine Probleme mit Visa dabei. Es waren sowieso nur Befugte zugelassen; man bekam gar nicht erst ein Ticket nach Cornucopia, wenn man nicht nachweislich im Auftrag der Firma reiste und erwartet wurde. Selbst dann durfte man erst von Bord, wenn die Passagierliste geprüft war und die Firma sich offiziell bereit erklärte, jemanden zu empfangen.

In der Andockbucht wartete ein Empfangskomitee auf Farkas: ein kleiner Mann und eine große Frau. Der Mann sah für ihn aus wie eine gelbe Spiralkette um einen invertierten grünen Kegel; die Frau war ein vertikaler Strom eines glattgewebten blauen Stoffes. Er bekam ihre Namen nicht so recht mit, fand aber, das spiele keine Rolle. Der Mann hatte irgend etwas mit Technik zu tun, war aber sichtlich weiter nicht bedeutend, und die Frau stellte sich als Stufe-Zwanzig von der Verwaltung vor. Farkas hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, dass man sich nicht die Mühe zu machen brauchte, sich die Namen von Zwanzigergraden zu merken.

»Auf dich wartet ein Auftragsbescheid, Mr. Farkas«, sagte die Zwanziger sofort. »In deinem Logistikkasten. Du kannst es in deinem Zimmer abrufen.« Es schien ihr Mühe zu bereiten, bei seinem Anblick die Fassung zu wahren.

»Danke. Außerdem verlangte ich ein Gespräch mit Dr. Wu. Hast du dazu irgendwelche Direktiven?«

Die Zwanzigerin sah unsicher zu dem Techniker. »Paolo?«

»Positiv. Dr. Wu soll für eine Unterredung mit Expediter Farkas auf seinen Wunsch hin zur Verfügung stehen.«

»Schön. Also, ich wünsche es. Jetzt.«

Die Zwanzigerin wirkte bestürzt über die rasche Reaktion. »Du möchtest Dr. Wu jetzt gleich sprechen? Noch bevor wir dich in dein Quartier bringen können?«

»Ja. Wenn es geht.«

»Also«, sagte die Zwanzigerin. »Selbstverständlich. Kein Problem, Mr. Farkas. Sie ist aber in einem Sicherheitstrakt, verstehst du. Ich werde einen zusätzlichen Check machen müssen, aber das dauert nur eine Minute.«

Sie, dachte Farkas. Aber ja doch. Für diese Leute war Dr. Wu eine Frau. Er würde seine Vorstellungen, was Wu betraf, umprogrammieren müssen, oder es würde Verwirrung geben, das begriff er.

Die Zwanzigerin trat ein paar Schritte beiseite und tippte eifrig Codes in ein Terminal. Es dauerte aber dann doch etwas länger, als sie versprochen hatte, bis die Erlaubnis, Wu zu sprechen, zustande kam. Offensichtlich gab es da Komplikationen. Schließlich aber bekam sie das Okay.

»Wenn du bitte mitkommen würdest, Mr. Farkas …«

Cornucopia war völlig anders als Valparaiso: kahl, funktional, reine Industriestruktur, Unmengen von unverkleideten Trägern und Streben und dergleichen. Sogar Farkas fühlte und ›sah‹ die Unterschiede sofort. Hier gab es keine Brunnen, keine Kaskaden, keine üppigen Reben oder Bananenstauden, sondern nur nüchterne nackte Firmenfunktionalität. Und hier oben wurden alle möglichen Forschungsprojekte durchgeführt. Es war billiger, einen ganzen Raumsatelliten hier draußen aufzubauen, als auf der Erde zu versuchen, ein richtig steriles Labor zu errichten. Wissenschaftliche Forschung erforderte nun einmal saubere sterile Luft- und Wasserbedingungen. Außerdem bestand in einem Satelliten natürlich die Möglichkeit, unter variabler Schwerkraft zu arbeiten, ein Vorteil, so hatte Farkas gehört, der in bestimmten wissenschaftlichen Sektoren höchst nützlich war.

Paolo und die Zwanzigerin geleiteten ihn durch mehrere Sicherheitsschleusen und tonnenförmige Gänge und schließlich in eine Art Vorzimmer, wo ein Android Farkas um ein Tröpfchen Blut bat, um sein Serummuster mit dem im Firmenarchiv zu vergleichen, anscheinend um sicherzustellen, dass er die Person war, die zu sein er behauptete, und nicht irgendein Betrüger, der sich die Augen wegoperieren ließ, um an einen Ort zu gelangen, wo er nichts zu suchen hatte. Den Androiden kümmerte es nicht die Spur, dass so etwas höchst unwahrscheinlich, oder dass Farkas ein Neuner war und Prestigeträger. Er hatte seine Befehle. Reich mir deinen Finger, Sir …

Verdammt, also schön. Farkas streckte ihm den Finger entgegen. Er war es gewohnt, sein Blut für Identifizierungszwecke zu vergeuden. Die normale Regelprozedur der Firma war ein Retinalscanning zur Feststellung der Identität. Aber bei ihm war das ja nun leider nicht möglich.

Der Android zapfte ihm den Blutstropfen ab, grob und sachlich, und führte ihn unter einen Scanner.

»Identifikation bestätigt«, sagte er dann. »Du darfst jetzt hinein, Expediter Farkas.«

Wu befand sich in einem abgeschlossenen Bereich in einem Raum, der etwas bequemer wirkte als eine Gefängniszelle und etwas weniger angenehm als ein Hotelzimmer. Als Farkas eintrat, blieb die Frau reglos an dem Tisch am anderen Ende des Raums sitzen.

Farkas wandte sich zu der Zwanzigerin, die mit dem Techniker Paolo dicht hinter ihm stand.

»Ich möchte privat mit Dr. Wu sprechen.«

»Es tut mir leid, Expediter Farkas. Eine private Unterhaltung wurde nicht genehmigt.«

»Ach?«

»Wir haben Anweisung, während des Gesprächs dabei zu sein. Es tut mir leid, Expediter Farkas.«

»Ich beabsichtige nicht, ihn umzubringen. Sie, meine ich natürlich.«

»Wenn du wünschst, könnten wir ein formelles Gesuch einreichen und um eine Ausnahmegenehmigung bitten, doch das würde eventuell einige Zeit …«

»Vergessen wir's«, sagte Farkas. Verdammt, sollen sie doch zuhören. Er wandte sich Wu zu. »Hallo, schon wieder mal, Doktor.«

»Was willst du von mir?«, fragte Wu. Es klang nicht übermäßig erfreut.

»Nur ein kleiner freundschaftlicher Besuch. Ich habe um die Erlaubnis gebeten, ein paar Worte mit dir sprechen zu dürfen.«

»Bitte. Ich bin jetzt Angehöriger der Firma Kyocera-Merck. Ich habe das Recht auf Ungestörtheit außerhalb meiner Dienststunden.«

Farkas setzte sich auf eine Art niederes Sofa neben dem Tisch. Er sagte ruhig: »Ich fürchte, Dr. Wu, es bleibt dir keine Wahl. Ich habe offiziell um dieses Treffen gebeten, und mein Ersuchen wurde positiv bewertet. Aber ich wünsche, dass dies hier ein freundschaftlicher Besuch bleibt.«

»Freundschaftlich?«

»Genau. Ich meine es ganz ehrlich. Wir sind keine Feinde. Wie du gerade sagtest, wir sind im Dienst der Firma.«

»Was willst du also von mir?«, fragte Wu erneut.

»Das sagte ich doch schon. Nur ein Höflichkeitsbesuch. Das Vergangene ist vorbei, verstehst du, was ich damit sagen will?«

Wu gab keine Antwort.

Farkas sprach weiter: »Also, sag mir, wie es dir in deiner neuen Umgebung gefällt? Alles zu deiner Zufriedenheit? Was hältst du von dem Labor, das man für dich eingerichtet hat?«

»Die Umstände sind so, wie du es hier siehst. Ich habe an schlimmeren Orten gelebt – und an besseren. Was das Laboratorium betrifft, das ist sehr gut. Die meisten Apparate übersteigen zwar mein Verständnis.« Wus Stimme klang flach, dumpf, eintönig und tot, als würde es ihn/sie zuviel Kraft kosten, den Stimmton ein wenig zu modulieren.

»Du wirst damit umgehen lernen«, sagte Farkas.

»Möglich. Vielleicht auch nicht. Meine Fachkenntnisse sind seit Jahren überholt. Seit Jahrzehnten. Es gibt keine Garantie, dass ich fähig sein werde, die Arbeit auszuführen, die ihr Leute von mir erwartet.«

»Da mach dir mal keine Gedanken«, sagte Farkas. »Du bist hier. Und hier wirst du bleiben, bequem und gut versorgt, bis du was Brauchbares produzierst, oder bis die Firma entscheidet, dass du wirklich nichts Brauchbares bringst. Ich vermute aber, sobald du dich mit den Gegebenheiten in deinem neuen Lab vertraut machst, werden dich die Fortschritte begeistern, die auf deinem Gebiet gemacht wurden, seit du ausgeschieden bist, und du wirst sehr rasch deine frühere Geschicklichkeit wiedergewinnen und auch sämtliche neuen Techniken erlernen. Außerdem, Doktor, es gibt ja hier für dich keinerlei Risiko, nicht wahr? Deine Arbeit wird absolut legal sein.«

»Meine Arbeit war stets absolut legal«, sagte Wu mit der gleichen monotonen Roboterstimme.

»Ach. Ach ja, genau darüber wollte ich auch mit dir sprechen.«

Wu schwieg.

Farkas fragte: »Ist dir jemals der Gedanke gekommen, Dr. Wu, dass die Versuchspersonen bei deinen Experimenten in dem Loboratorium in Taschkent nicht unbedingt ihr Genmaterial verändert zu haben wünschten?«

»Es besteht für mich keine Notwendigkeit, das zu diskutieren. Du sagtest, Vergangenes sollte vergangen sein.«

»Eine Notwendigkeit, nein, die besteht nicht. Aber ich möchte, dass du mit mir darüber sprichst. Ich empfinde keinerlei Rachegefühle, aber doch eine starke Wissbegier. Nein, eigentlich eine sehr starke Neugier. Es gibt Dinge, die ich von dir unbedingt über dich selbst erfahren möchte.«

»Und weshalb sollte ich mich dir gegenüber verantworten?«

»Weil du mir etwas Ungeheuerliches angetan hast«, sagte Farkas mit immer noch leiser Stimme, in der aber jetzt scharf wie eine Peitschenschnur eine Schärfe hörbar wurde. »Das gibt mir immerhin doch das Recht, ein paar Antworten aus dir herauszuholen. Sag mir was, aus bloßem menschlichen Mitgefühl. Du bist doch ein Mensch, oder nicht, Dr. Wu? Nicht ein seelenloses Ding, eine Art intelligenter Android?«

»Du wirst mich umbringen, nicht wahr, wenn ich meine Arbeit hier beendet habe.«

»Werde ich das? Ich weiß nicht. Ich sehe nicht, dass es mir was Gutes bringen könnte, und es erscheint mir als ziemlich erbärmlich unwesentlich. Aber falls du natürlich wünschen solltest, dass ich dich töte …«

»Nein. Nein!«

»Also dann?« Farkas lächelte. »Wenn ich dich wirklich töten wollte, Dr. Wu, dann hätte ich es in Valparaiso Nuevo getan. Ich bin nicht dermaßen absolut eine Kreatur von Kyocera-Merck, dass ich die Interessen der Firma so weit über meine eigenen Bedürfnisse stellen würde. Es ist also doch offensichtlich, dass ich es nicht nötig fand, dich zu töten, als ich die Chance dazu hatte. Ich begnügte mich vielmehr damit, den Auftrag auszuführen, zu dem ich dorthin gesandt wurde, und das war eben, dich nach Cornucopia zu liefern, damit du hier für die Firma gewisse Forschungen durchführst, für die du einzigartig qualifiziert bist.«

»Du hast deinen Auftrag ausgeführt. Ja. Es bedeutet dir sehr viel, ja, deine Arbeit zu machen. Und wenn die Firma mit mir fertig ist, dann wirst du mich töten. Das weiß ich, Farkas. Wozu sollte ich mit dir sprechen?«

»Um mir Gründe zu liefern, warum ich dich nicht töten sollte, sobald die Firma dich nicht mehr braucht.«

»Wie könnte ich das denn?«

»Also, sehen wir es uns doch mal an, ja?«, sagte Farkas. »Wenn es mir vielleicht gelänge, deine Seite damals bei dieser Sache etwas besser zu verstehen, wäre ich möglicherweise etwas geneigter, barmherzig zu sein. Zum Beispiel: Was hast du, während du deine Experimente in Taschkent an den Ungeborenen durchführtest, überhaupt gespürt, da drinnen, in deinem Herzen, was du da in deiner Arbeit getan hast?«

»Aber das ist alles schon so lange her.«

»Fast vierzig Jahre, ja. Einige deiner damaligen Versuchsföten sind inzwischen zu augenlosen erwachsenen Menschen geworden. Aber du musst dich doch noch ein wenig erinnern können, Doktor. Sag es mir, hast du irgendwann einmal kurz gezögert, hattest du irgendwelche Bedenken, als du dich daran gemacht hast, an mir im Bauch meiner Mutter herumzuexperimentieren? Eine Spur von ethischen Hemmungen? Oder Mitgefühl? Sag!«

Wu sagte dumpf: »Ich spürte nur eine ungeheure wissenschaftliche Neugier. Ich versuchte, etwas zu lernen, was zu entdecken wichtig schien. Man lernt, indem man tut.«

»Und verwendet dazu menschliche Versuchskaninchen.«

»Menschliche Versuchspersonen, ja. Es war nötig. Das menschliche Genom unterscheidet sich von dem der Tiere.«

»Ach, das ist doch gar nicht wahr. Nicht wirklich. Du hättest mit Schimpansenföten experimentieren können, dabei hättest du so ziemlich die gleiche Genstruktur gehabt. Das weißt du doch genau, Doktor.«

»Aber die Schimpansen hätten uns nicht verbal mitteilen können, welche Wahrnehmungserweiterung sie durch das Blindsehen gewonnen haben.«

»Ich verstehe. Das konnten nur menschliche Versuchstiere.«

»Genau.«

»Und während der chaotischen Zustände damals in Taschkent stand dir ja reichlich menschliches Versuchsmaterial zur Verfügung: Ungeborene Menschen im Mutterleib, äußerst gut geeignet für Genexperimente. Du konntest deine intensive wissenschaftliche Wissbegier befriedigen und warst dabei sehr glücklich. Trotzdem wäre es aber doch wohl ethisch korrekt gewesen, die Mütter dieser Ungeborenen um ihre Einwilligung in die Operation zu bitten, oder? Meine Mutter etwa hat nicht nur nicht eingewilligt, sondern sie war auch Ausländerin, noch dazu eine, die diplomatische Immunität genoss. Und trotzdem …«

»Was soll ich dazu sagen?«, jammerte Wu. »Dass ich dir etwas Furchtbares angetan habe? Ja. Ja, ich gebe es zu, ich habe etwas Entsetzliches getan. Ich habe im Krieg hilflose Menschen benutzt und missbraucht. Du willst, dass ich bekenne, dass ich böse bin? Dass ich meine Verbrechen bereue? Dass ich bereit bin, mich von dir töten zu lassen, für das Verbrechen, das ich an dir verübt habe? Ja. Ich gestehe, dass ich böse bin. Ich zerknirsche mich in Gewissensbissen. Ich fühle eine unerträgliche Schuld auf mir lasten, und ich weiß, dass ich Strafe verdient habe. Worauf wartest du also? Töte mich doch, gleich jetzt und hier! Los, Farkas, brich mir mein elendes Genick, damit es endlich vorbei ist!«

Die Zwanzigerin sagte unsicher von der Wand neben der Tür her: »Mister Farkas, es ist vielleicht nicht so gut, wenn diese Unterredung weiter fortgesetzt wird. Vielleicht sollten wir jetzt lieber gehen. Ich kann dich zu deiner Unterkunft bringen und …«

»Noch eine Minute«, sagte Farkas. Er wandte sich wieder Wu zu, der/die wieder in dumpfem Schweigen in sich zusammengesunken dasaß. »Kein Wort davon war dir ernst, nicht wahr, Doktor? Du bist bis zum heutigen Tag fest davon überzeugt, dass das, was du mir und den anderen damals in Taschkent angetan hast, im geheiligten Namen der Wissenschaft völlig gerechtfertigt war. Und du fühlst auch nicht einen Hauch von Bedauern in dir, stimmt es nicht?«

»Es stimmt. Und ich würde es wieder tun, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte«, sagte Wu.

»Aha. Ja, das dachte ich mir.«

»Also, nun weißt du, was du bereits wusstest. Willst du mich jetzt umbringen? Ich glaube, deine Leute von Kyocera-Merck wären nicht sehr erfreut, wenn du das tust.«

»Nein«, sagte Farkas. »Und ich werde dich auch nicht töten, nicht jetzt und nicht später. Ich wollte dich nur sagen hören, was du da gerade gesagt hast. Und nun will ich noch etwas von dir hören: Hat das, was du getan hast, dich irgendwie lustvoll befriedigt?«

»Lust? Befriedigung?« Wu sagte es höchst verblüfft. »Aber das habe ich doch nicht zu meinem Vergnügen getan. Lustgefühle hatten da nie etwas zu suchen. Es ging um Forschung, verstehst du nicht? Ich tat es, weil ich herausfinden musste, ob es möglich sein würde. Aber Lust? Das Wort ist hier fehl am Platze.«

»Ein reiner Techniker. Ein leidenschaftsfreier Sucher nach der Wahrheit!«

»Man kann mich nicht zwingen, mir deinen Spott anzuhören. Ich werde darum bitten, dass man dich von hier entfernt.«

»Aber ich verspotte dich ja gar nicht«, sagte Farkas. »Du bist wirklich integer, Doktor, wie? Sofern man Integrität definiert als Einzelkonsistenz, als unvermischte Substanz, als geschlossene Einheit. Du bist komplett und total, was du bist. Das ist gut. Ich verstehe dich jetzt sehr viel besser.«

Wu verhielt sich völlig bewegungslos, schien fast nicht zu atmen. Schimmernder schwarzmetallischer Kubus über einer kupferroten pyramidenförmigen Basis.

Farkas sagte: »Du warst also in keiner Weise irgendwie emotional beteiligt bei dem, was du mit mir getan hast. Du empfandest dabei keinerlei sadistische Lust. Wie du sagst, war da etwas, das du herausfinden musstest, also hast du ganz einfach getan, was nötig war, um deine Antworten zu finden. Und deshalb besteht kein Grund, weshalb ich die Sache persönlich nehmen sollte. Richtig? Ja? In deinen Augen existierte ich als Person ja niemals. Ich war nur eine Hypothese. Ein biologisches Rechenproblem, das zu lösen war, eine abstrakte intellektuelle Herausforderung. Und wenn ich von dir Rechenschaft fordern oder Rache üben wollte, von so etwas, wie du es bist, dann wäre es, als versuchte ich, mich an einem Wirbelsturm zu rächen, einem Erdbeben, einer Lawine oder einer sonstigen unpersönlichen Naturgewalt. Die treten ja auch einfach auf und machen mit einem, was sie eben tun, aber dabei sind sie völlig unpersönlich, und so gibt es keinen Grund, böse auf sie zu sein, wenn sie dich vernichten. Einem Hurrikan kann man ja auch schlecht verzeihen, oder? Die Erinnerung an das Geschehene bleibt in dir haften. Aber man muss sich eben zusammenreißen, sich den Staub von der Seele schütteln und sich sagen, dass man das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, und einfach mit seinem Leben weitermachen.«

Dies war wohl die längste Rede, die Farkas je von sich gegeben hatte. Und als er zu Ende war, war seine Stimme heiser und rau, und er sehnte sich nach nichts so sehr, wie irgendwohin zu verschwinden und sich ins Bett zu verkriechen.

Wu starrte ihn noch immer wie gelähmt an. Farkas fragte sich, ob Wu ihn verstanden hatte. Ob es ihn überhaupt berührte.

Zu der Zwanzigerin sagte er: »Also. Ich bin hier jetzt fertig. Ihr könnt mich zu meinem Zimmer bringen.«


Das Zimmer war eher eine Kammer, ein luxuriöser Schrank, drei Meter lang, anderthalb hoch, und nur geeignet, sich liegend darin aufzuhalten. Aber das war ja genau das, was er sich im Augenblick wünschte.

Ein Icon blinkte, eine verschlüsselte Nachricht wartete auf ihn im Nachrichtenschlitz. Er nahm sie an und erfuhr, dass er umgehend wieder nach Valparaiso Nuevo zurückbeordert war. Um Gerüchten über einen Staatsstreich zum Sturz des Generalissimo Callaghan auf den Grund zu gehen.

Kein Wort zu irgend jemandem, lautete der Auftrag. Treib dich einfach dort herum, hör zu, was die Leute reden und teil uns mit, was sich tut, sofern sich überhaupt etwas tut.

Die Nachricht enthielt keine Quellenangabe, woher das Gerücht stammte. Am wahrscheinlichsten war wohl Colonel Olmo, der schließlich Top-Verbindungsmann von K-M in dem Satelliten war, aber wieso hatte dann die Firma Farkas nicht angewiesen, die Sache zuerst mit Olmo abzuklären? Vertraute man Olmo nicht mehr, oder war das Gerücht von anderswo zugespielt worden, oder war es nur wieder einmal so, dass die rechte Hand keine Ahnung hatte, was die linke tat? Jedenfalls schien aber Olmos Vermutung, die Firma selbst könnte irgendwie an dem Plan beteiligt sein, nicht sehr plausibel. Die Firma tappte anscheinend ebenso im dunkeln wie Olmo.

Hi-ho! Am wahrscheinlichsten, dachte er, ist noch, dass es gar keine Umsturzverschwörung gab, sondern nur eine Dunstwolke von Falschinformationen, die durch das System geisterte. Oder aber die Sache ging tatsächlich auf das Konto dieser angeblichen Freibeuter aus Südkalifornien, ohne irgendwelche Firmenbindungen, wie man Olmo berichtet hatte. Nun ja, schön und gut. Eine Irrsinnsidee, zweifellos. Aber falls es klappte, steckten da Milliarden drin.


Farkas nahm das Frühshuttle zurück. Eine Horde eifriger Kuriere umschwärmte ihn nach dem Andocken, doch er schüttelte sie allesamt freundlich ab und fand allein zu dem San Bernardito in Cajamarca zurück, wo man ihm wieder das gleiche Zimmer geben konnte, das er tags zuvor verlassen hatte. Ihm gefiel das Zimmer an der Außenseite, der Blick auf die Sterne. Und die G-1-Schwerkraft im Städtchen Cajamarca war für seine auf diese G-Stärke eingestellte Muskulatur höchst angenehm.

Er duschte genüsslich lange. Dann begab er sich auf einen Spaziergang.

Was für ein hübscher Ort, dachte er. Inzwischen hatte er sich auch allmählich an die Luft gewöhnt. Diese ganz klare, saubere Luft, die einem bei jedem Atemzug einen hinreißenden Sauerstoffkick verpasste. Von solcher Luft konnte man richtig betrunken werden. Er zog die Luft tief in die Lungen, spielte damit, versuchte sie mit den Alveolen zu schmecken, zu analysieren, die einzelnen Moleküle von CO2, Stickstoff und Sauerstoff zu trennen.

Dieses Zeug konnte einen rasch unbrauchbar machen, das wusste er. Es würde nicht einfach werden, wenn er wieder auf die Erde mit ihrer giftigen, ätzenden Luft zurück musste. Die Rückkehr in ein Leben als Dinko, als Schlammkriecher, als Scheißeschnüffler, oder wie sonst die L-5-Leute jene zu nennen pflegten, die gezwungen waren, ihr Leben auf dem unseligen Mutterplaneten verbringen zu müssen. Was ihn selbst anging, schien keiner es besonders eilig zu haben, ihn wieder zurück auf die Erde zu hetzen. Jedenfalls nicht so schnell.

Und das war gut so. Gut. Lass dir Zeit, genieß es, gönn dir einen kleinen Urlaub im Weltraum. Nimm eine besonders sorgfältige Untersuchung über diese angebliche Konspiration gegen die Regierung von Generalissimo Callaghan vor.

Unweit seines Hotels, am oberen Ende von Cajamarca, lag ein freundliches Café. Es war direkt unter einem der Außenfenster, und an diesem Nachmittag war der Blick auf Erde und Mond sagenhaft schön. Farkas setzte sich nach draußen, bestellte sich einen Brandy, lehnte sich zurück und trank langsam und genießerisch. Vielleicht kam ja einer der Verschwörer vorbei und bot ihm ein paar brauchbare Informationen zum Kauf an.

Aber klar. Aber gewiss doch.

Er nippte an seinem Brandy. Er saß da und wartete. Niemand kam, niemand bot ihm irgend etwas an. Nach einiger Zeit kehrte er in sein Hotelzimmer zurück. Wählte sich eine weiche, leise Musik. Nahm die behutsamen mentalen Steuerungen vor, die bei ihm dem Schließen der Augenlider entsprachen. Die letzten paar Tage waren recht hektisch gewesen, und er war wirklich müde. Ein bisschen Ausspannen war angesagt. War durchaus in Ordnung. Ja, wirklich, ein bisschen blaumachen …

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