Kapitel 15

Vor Sonnenuntergang übergab Carpenter das Kommando über den Trawler an Hitchcock und fuhr in dem schnittigen kleinen silbrigen Kajak, das sie als Beiboot benutzten, zur Calamari Maru hinüber. Er nahm Rennett als Begleitung mit.

Der Gestank drang ihm bereits in die Nase, lange bevor er die schimmernde Monofiberleiter hinaufklettern konnte, die sie ihm über die Reling heruntergelassen hatten: ein beißender säuerlich-bitterer Gestank von dichten, fast sichtbaren Miasmen. Das Zeug einzuatmen war, wie wenn man ganz Cleveland mit einem einzigen Schnaufer einatmen würde. Carpenter wünschte, er hätte eine Atemmaske mitgenommen. Doch wer rechnete schon damit, dass man so etwas auf See brauchen könnte, wo die Luft angeblich noch sauber sein sollte?

Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte er entdeckt, dass der Geruch von der Calamari Maru selbst ausging, dass Rumpf und Deck und Aufbauten und alles andere von hässlichen vor Fäulnis pulsierenden Eiterpusteln übersät waren. Tatsächlich aber war sonst alles in Ordnung mit dem Schiff, wenn man von der allgemeinen Vernachlässigung und Schlamperei absah: schwarze Flecken auf dem Deck, überall graue Staubablagerungen, ein paar übel aussehende rostfarbige Ozonnarben, die der Ausbesserung bedurften. Aber der Gestank rührte von den Tintenfischen selbst her.

Der Schiffskern war ein einziger großer Tank, eine große Fischverarbeitungsanlage, die das ganze Mitteldeck einnahm, Carpenter hatte solche Schiffe vor Anker im Hafen von Oakland gesehen – Samurai Industries hatte Dutzende davon laufen –, doch er hatte nie weiter darüber nachgedacht, wie es an Bord eines solchen Kahns sein musste.

In dem Tank erblickte er einen Albtraum von marinen Lebensformen, Bataillone von kräftigen vielarmigen Tintenfischen in Schwärmen, großäugige, perlenbesetzte, knochenlose Phantome, die in Formation schwammen und plötzlich und simultan die Richtung änderten, wie Kalmare das nun einmal tun. Blitzende mechanische Drehmesser bewegten sich zwischen ihnen, griffen zu und schlitzten auf, fanden geschickt das Nervenzentrum und schnitten es heraus und spülten den essbaren Rest zu der Verpackungsanlage am anderen Ende des Tanks. Der Gestank war buchstäblich atemberaubend. Das ganze Ding war eine einzige Verarbeitungsmaschine. Seit die Anbauflächen im Herzen Nordamerikas und im gemäßigten Europa sich in Wüsten verwandelt hatten und die Welternährung so stark von dem dünnen steinigen Boden in Nordkanada und Sibirien abhing, war es überlebenswichtig geworden, die Meere abzuernten. Das begriff Carpenter durchaus. Aber er hatte nicht erwartet, dass ein Kalmarschiff so grässlich riechen würde. Er hatte Mühe, sich nicht zu übergeben.

»Man gewöhnt sich daran«, sagte die Frau, die ihn an Bord begrüßte, als er über die Reling kletterte. »In fünf Minuten merkst du es nicht mehr.«

»Wir wollen es hoffen«, sagte er. »Ich bin Captain Carpenter. Mein Maintenance/Ops. Rennett. Wo ist Kovalcik?«

»Ich bin Kovalcik«, sagte die Frau.

Carpenter riss die Augen auf. Das schien die Frau zu amüsieren.

Kovalcik wirkte robust und massiv, für eine Frau überdurchschnittlich groß, starke Wangenknochen, sehr weit auseinanderstehende Augen, der Ausdruck des Gesichts sehr kühl und kontrolliert, doch dahinter sah er deutlich die Anspannung. Sie trug einen sackähnlichen Sportdress aus grobem grauen Material. Carpenter schätzte sie auf etwa dreißig. Die Haare schwarz und kurzgeschoren, die Haut hell, verblüffend hell und mit kaum einer Spur Screen darin. Er sah Anzeichen einer solaren Hautschädigung, Ozonfältchen, rote Verbrennungsflecken. Zwei ihrer Crew standen hinter ihr, ebenfalls Frauen, gleichfalls in Sportanzügen, beide ebenso merkwürdig hellhäutig. Auch ihre Haut sah nicht besonders gesund aus.

Kovalcik sagte: »Wir sind sehr dankbar, dass ihr rüberkommt. Wir haben großen Ärger an Bord dieses Schiffs.« Ihre Stimme klang flach. Nur eine Spur eines europäischen Akzents, kaum einzuordnen, von irgendwo östlich von Wien, aber nicht lokalisierbar.

»Wir werden euch aushelfen, wenn wir können«, sagte Carpenter zu ihr.

Nun sah er auch, dass sie einen Brocken von seinem Berg herausgeschnitten und an Deck gehievt hatten, wo er jetzt in drei große Aluminiumtanks abschmolz. Es konnte sich um nicht einmal ein Millionstel des Volumens des ganzen Eisbergs handeln, ja nicht einmal um das Zehntel eines Millionstels, aber als er das Eis da vor sich sah, verspürte er einen kleinen flüchtigen Stich von besitzerhafter Verärgerung und merkte, dass ein Muskel in seiner Wange zuckte. Diese Reaktion blieb ebenfalls nicht unbemerkt. Kovalcik sagte hastig: »Ja, Wasser ist eins von unseren Problemen. Wir mussten unsere Vorräte auf diese Weise ergänzen. Es gab in letzter Zeit ein paar Materialpannen. Wollen wir jetzt ins Kapitänslogis gehen? Wir müssen besprechen, was geschehen ist und was jetzt getan werden muss.«

Sie führte ihn über das Deck, und Rennett und die anderen zwei Frauen folgten ihnen.

Die Calamari Maru war recht beeindruckend. Sie war groß und lang und schnittig, irgendwie erinnerte sie an die Konstruktion eines Kalmars: Jetstrahlantrieb, der Wasser in kolossale Kompressoren saugte und hinten wieder ausstieß. Es war eine der vielen Lösungen, im maritimen Verkehr Transportprobleme mit niedrigem Brennstoffverbrauch zu arbeiten, um in diesen bedrängten Zeiten die CO2-Belastung zu reduzieren. Riesenhafte Dinger wie Strebebögen verliefen zu beiden Seiten des Decks. Es seien, erklärte ihm Kovalcik, Kalmarköderanlagen, die von bioluminiszenten Photophoren bedeckt seien: Man ließ sie zu Wasser, und sie strahlten ein Licht aus, das das Leuchten der Tintenfischkörper imitierte, und die glitschigen armen Tentakelkerle kamen aus großer Entfernung herangejettet, weil sie sich eine Riesenfete erwarteten, und landeten statt dessen im Fangnetz.

»Ganz beachtlicher Schlachthausbetrieb, was ihr hier habt«, sagte Carpenter.

Ein wenig kurz angebunden sagte Kovalcik: »Wir produzieren nicht nur Fleisch. Natürlich haben unsere Fänge einen hohen Nahrungswert, aber wir schälen auch die Nervenstränge heraus, die Axone, und bringen sie an Land, wo sie in allen möglichen biosensorischen Bereichen Anwendung finden. Diese Nervenfasern sind sehr groß, hundertmal dicker als bei uns Menschen, die größten auf der Welt, das massivste Signalsystem der ganzen Tierwelt. Sie sind wie Einkammerncomputer, diese Tintenfischaxone. An Bord deines Schiffs sind tausend Prozessoren, die mit Tintenfischgewebe arbeiten, wusstest du das? Hier entlang jetzt, bitte.«

Sie stiegen einen schmalen Niedergang hinab. Carpenter hörte stampfende und zischende Geräusche hinter den Wänden. Ein Schott war eingebeult und stark zerkratzt. Die Beleuchtung hier unten war trüber als normal, und die Fassungen summten bedrohlich. Und es roch hier nach etwas anderem, irgendwie chemisch, süßlich, aber nicht angenehm, eher ein wenig süßlich-verbrannt, ein Geruch, der sich scharf von dem Kalmargestank abhob, wie etwa eine Pikkoloflöte über dem Dröhnen von Trommeln. Rennet warf ihm einen düsteren Blick zu. Dieses Schiff war wirklich ein Saustall.

»Hier ist das Kapitänslogis.« Kovalcik stieß eine Tür auf, die schief in den Angeln hing. »Wir erst nehmen einen Drink, ja?«

Die Ausmaße der Kabine verblüfften Carpenter nach all den Wochen, die er eingesperrt in seinem engen Loch zugebracht hatte. Der Raum war fast eine Turnhalle. Es gab einen Tisch, einen Schreibtisch, Regale, eine bequeme Koje, Ablageborde, eine Hygienezelle, sogar einen Unterhaltungsvisor, alles hübsch großzügig verteilt, so dass man tatsächlich im Raum Platz hatte, herumzugehen. Der Visor war zertrümmert. Kovalcik holte eine Flasche peruanischen Schnaps aus einem Schrank, und als Carpenter nickte, goss sie drei große Gläser bis zum Rand voll. Sie tranken schweigend.

Der Fischgestank war hier drin nicht so schlimm, oder aber er gewöhnte sich tatsächlich schon daran, wie sie gesagt hatte. Doch trotz der Geräumigkeit war die Luft hier stickig und dumpf, eine dicke klebrige Suppe, die das Atmen schwer machte. Mit der Ventilation stimmt auch was nicht, dachte Carpenter.

»Du siehst unsere Schwierigkeiten«, sagte Kovalcik.

»Ja, ich merke, dass es da Ärger gab.«

»Das ist nur ein Teil. Du solltest erst den Kommandoraum sehen. Hier, trink noch einen Schluck, dann bringe ich dich hin.«

»Lassen wir den Drink«, sagte Carpenter. »Wie wär's denn, wenn du mir einfach sagen würdest, was auf diesem Schiff los war?«

»Erst komm mit, Kommandoraum ansehen«, sagte Kovalcik.


Der Kommandoraum lag ein Deck tiefer als die Kapitänskajüte. Und hier herrschte das absolute Chaos.

Der Raum war fast ausgebrannt. Auf allen Flächen waren Lasernarben und klaffende Wunden in der Deckenverschalung. Aus den Datenschränken hingen schimmernde Elektrodenbündel wie zerrissene Halsketten, wie hervorquellende Gedärme. Überall Anzeichen von einem furchtbaren Kampf, einem monströsen wahnsinnigen internen Krieg, der in den empfindlichsten Bereichen der Denkzentrale des Schiffs getobt haben musste.

»Es ist alles kaputt«, sagte Kovalcik. »Nichts läuft mehr, außer dem Kalmarverarbeitungsprogramm, und ihr habt ja gesehen, dass die großartig funktionieren. Sie machen immer weiter, die Netze, die Seziermesser, Shredder und so. Aber sonst ist alles beschädigt. Unser Wassersynthesizer, die Ventilatoren, die Navigationsinstrumente und noch vieles mehr. Wir führen Reparaturen durch, aber es geht sehr langsam.«

»Das denke ich mir. Ihr habt hier wohl eine verdammt turbulente Party gefeiert, was?«

»Es gab einen Kampf. Von Deck zu Deck, von Kabine zu Kabine. Es erwies sich als nötig, Captain Kohlberg in Gewahrsam zu nehmen, und er und einige der anderen Offiziere widersetzten sich.«

Carpenter blinzelte und hielt den Atem an.

»Verdammt, was sagst du da? Dass ihr hier an Bord eine Meuterei hattet?«

Eine Sekunde lang hing das schwerbelastete Wort zwischen ihnen wie ein wirbelndes Schwert.

Dann sagte Kovalcik mit der gewohnten ausdruckslosen Stimme: »Als wir eine Weile auf See waren, begann er sich zu betragen wie ein Verrückter. Die Hitze machte ihm zu schaffen, die Sonne, vielleicht die Luft. Er verlangte unmögliche Sachen. Er wollte auf keine Vernunftgründe mehr hören. Also musste er von seinem Kommando abgelöst werden, um die Sicherheit aller zu gewährleisten. Es gab ein Meeting, und er wurde festgesetzt. Einige seiner Offiziere erhoben Einwände, und so mussten auch sie festgesetzt werden.«

Verdammte Scheiße, dachte Carpenter. Ihm war ein wenig übel. In was bin ich da reingelatscht!

»Für mich klingt das ganz nach Meuterei«, sagte nun Rennett.

Carpenter verwies sie mit einem Blick zum Schweigen. Kovalcik begann sichtlich die Haare zu sträuben, und es war nicht abzusehen, wann ihre eisige Starre sich in einen vulkanischen Wutausbruch verwandeln konnte. Zweifellos war sie extrem gefährlich, wenn es ihr gelungen war, ihren Captain und die meisten Mitoffiziere gefangen zu setzen. Eine Meuterei war auch heutzutage noch eine ernste Sache. Der Fall erforderte Fingerspitzengefühl.

Er fragte Kovalcik: »Sie leben aber noch, der Kapitän, die Offiziere?«

»Ja. Ich kann sie dir vorführen.«

»Das wäre vielleicht eine gute Idee. Aber erst solltest du mir vielleicht etwas ausführlicher über die Beschwerden berichten, die ihr hattet.«

»Das spielt doch jetzt keine Rolle, oder?«

»Für mich schon. Ich muss wissen, womit du die Absetzung eines Kapitäns rechtfertigst.«

Sie schaute etwas ärgerlich drein. »Es waren viele Dinge, manche bedeutend, manche geringfügig. Arbeitspläne, Teamzuteilung, die Proviantierung. Alles wurde von Woche zu Woche schlimmer für uns. Wie ein Tyrann, so war der. Ein Cäsar. Anfangs nicht, aber nach und nach die Verwandlung bei ihm. Es war eine Sonnenvergiftung, was der hatte, der Wahnsinn, der von zu großer Erhitzung des Gehirns kommt. Er fürchtete sich davor, zuviel Screen zu verwenden, verstehst du, hatte Angst, wir würden am Ende der Fahrt nichts mehr davon übrig haben, also ließ er das ganz strikt rationieren, nicht bloß für uns, auch für sich selber. Und das war eins von unseren größten Problemen, der Screen.« Kovalcik berührte sich an den Wangen, den Armen und Handgelenken, wo die Haut rot und wund war. »Siehst du, wie ich aussehe? So sind wir alle. Kohlberg setzte uns auf die halbe Dosis, dann kürzte er sie noch mal um die Hälfte. Die Sonne fing an uns zu zerfressen. Das Ozon. Wie Rasierklingen vom Himmel herunter. Wir waren ungeschützt, verstehst du? Er hatte so große Angst, dass später kein Screen mehr übrig wird sein, dass er uns nur an jedem Tag ganz wenig gibt, und wir litten, und er litt auch, und er wurde immer verrückter, wie die Sonne auf ihn wirkte, und es gab immer weniger Screen. Er hatte es versteckt, glaube ich. Wir haben es noch nicht gefunden. Wir sind immer noch auf der Vierteldosis.«

Carpenter versuchte sich vorzustellen, wie das sein müsste, ohne Körperschutzmantel unter dem erbarmungslosen Himmel dieser tropischen Breiten zu fahren. Die tägliche Injektion wurde ihnen versagt, und die ungeschützte Haut dieser Menschen war der ganzen wütenden Wucht des Treibhausklimas ausgesetzt – der peitschenden Sonnenstrahlung angesichts der beschädigten Ozonschicht. Konnte dieser Kohlberg tatsächlich so verblödet gewesen sein, oder dermaßen verrückt? Aber die offenen Verbrennungsflecken auf Kovalciks Haut waren nicht zu leugnen.

»Ihr möchtet also, dass wir euch eine bestimmte Menge Screen abgeben?«, fragte er besorgt.

»Nein. Das würden wir von euch nicht erwarten. Wir werden irgendwann bald das Versteck finden, wo Kohlberg es hingetan hat.«

»Aber was wollt ihr dann von uns?«

»Kommt mit«, sagte Kovalcik. »Jetzt ich zeige euch die Offiziere.«


Die Meuterer hatten ihre Gefangenen in der Sanitätsstation verstaut, einem dumpfigen feuchten Raum tief unter Deck mit drei Zweierreihen von Kojen an der Wand und dazwischen einige nichtarbeitende medizinische Geräte. Außer einer Koje lag auf jeder ein schweißglänzender Mann mit einem Wochenbart. Sie waren bei Bewusstsein, aber nicht übermäßig. Sie waren an den Handgelenken gefesselt.

»Es ist uns sehr unangenehm, dass wir sie so festhalten müssen«, sagte Kovalcik. »Aber was sollen wir sonst machen? Dies ist Captain Kohlberg.« Der Kapitän war ein untersetzter teutonisch wirkender Mann mit glasigem Blick. »Er ist jetzt ruhig. Aber nur, weil wir ihn unter Sedation halten«, erklärte Kovalcik. »Wir halten sie alle ruhig, fünfzig Kubik Omnipax pro Tag. Aber die ständige Betäubung könnte eine Gefahr für ihre Gesundheit werden. Und außerdem, die Droge, sie ist bald zu Ende. In ein paar Tagen haben wir keine mehr übrig, und es wird schwieriger sein, sie in Schach zu halten, und wenn sie ausbrechen, gibt es wieder einen Kampf auf diesem Schiff.«

»Ich bin nicht sicher, ob wir überhaupt Omnipax bei uns an Bord haben«, sagte Carpenter. »Ganz bestimmt nicht so viel, dass es euch viel weiterhelfen könnte.«

»Auch darum bitten wir dich nicht«, sagte Kovalcik.

»Ja also, was wollt ihr denn dann?«

»Diese fünf Männer da, sie gefährden die Sicherheit aller. Sie haben den Anspruch auf Befehlsgewalt verloren. Das könnte ich dir mit Aufzeichnungen aus der Zeit der Kämpfe auf dem Schiff beweisen. Nimm sie mit!«

»Was?«

Kovalcik blickte ihn plötzlich seltsam intensiv an, wild, bedrohlich, beunruhigend.

»Nimm sie mit auf dein Schiff. Sie dürfen nicht hier bleiben. Das sind verrückte Männer. Wir müssen uns von ihnen befreien. Damit wir das Schiff in Ruhe reparieren und die Arbeit tun können, für die wir bezahlt werden. Es ist ein Akt der Menschlichkeit, sie uns abzunehmen. Ihr fahrt mit dem Eisberg nach San Francisco zurück. Nimm sie mit, die Störenfriede. Für euch sind sie keine Gefahr. Sie werden dankbar sein für ihre Rettung. Aber hier sind sie wie Bomben, die früher oder später hochgehen müssen.«

Carpenter sah sie an, als wäre sie eine Bombe, die bereits explodiert war. Rennett hatte sich einfach zur Seite gewandt und überspielte mit einem heftigen Husten einen hysterischen Lachanfall.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass er sich bei der Geschichte zum Komplizen machte, bereitwillig einen Haufen Offiziere bei sich an Bord aufnahm, die von Meuterern vertrieben worden waren. Noch dazu Leute von Kyocera-Merck. Dem Hauptkonkurrenten Hilfe und Unterstützung leisten? Der Chefagent von Samurai in Frisco würde bestimmt hellauf begeistert sein, wenn er mit fünf Mann von K-M an Bord in den Hafen getuckert kam. Und besonders gerührt würde er sein, wenn er erfuhr, dass Carpenter aus Gründen der Humanität so gehandelt hatte.

Aber davon abgesehen, er hatte an Bord keinen Platz für diese Männer. Wo, verdammt, sollten die schlafen? An Deck, zwischen den Zapfhahnen? Oder sollte er für sie auf dem Eisberg ein Zelt aufschlagen lassen? Und wie sollte das mit ihrer Verproviantierung klappen, um Himmels willen? Und mit dem Screen? An Bord war doch alles bis zum letzten Molekül genau berechnet.

»Ich glaube, du verstehst unsere Situation nicht«, sagte er vorsichtig. »Von der legalen Seite der Sache mal ganz abgesehen, wir haben keinen Platz für zusätzliche Leute. Wir haben kaum Platz für unsere Besatzung.«

»Es wäre ja nur für eine kurze Zeit, nicht? Ein, zwei Wochen.«

»Ich sage dir doch, jeder Millimeter ist verplant. Falls Gott persönlich als Passagier an Bord kommen wollte, es würde uns verdammt schwer werden, einen Platz für ihn zu finden. Wenn ihr technische Hilfe braucht, um euer Schiff wieder zusammenzuflicken, dann könnten wir euch die zu geben versuchen. Wir können euch sogar etwas von unseren Vorräten abgeben. Aber fünf Mann zu uns an Bord nehmen …«

Kovalciks Blick wurde noch wilder, und sie atmete sehr heftig. »Ihr müsst das für uns tun. Ihr müsst! Sonst …«

Sie sprach nicht weiter.

»Sonst?«, wiederholte Carpenter.

Doch als Antwort erhielt er nur einen trostlosen starren Blick, kein bisschen freundlicher als der grüngemaserte ozonbrüchige Himmel.

»Hilfe!«, stöhnte gerade in diesem Augenblick Kohlberg und bewegte sich unerwartet.

»Was war das?«

»Er deliriert«, sagte Kovalcik.

»Hilfe … Hilfe! In Gottes Namen, Hilfe!« Dann in schwerfälligem, stark akzentuiertem Englisch die qualvoll gebildeten Worte: »Help … she … will … kill us all …«

»Delirium?«, sagte Carpenter.

Kovalciks Augen wurden noch eisiger. Sie zog aus einem Wandschrank eine Ultrasonarspritze, drückte sie auf Kohlbergs Arm. Es ertönte ein leises Summen, und Kohlberg versank in Schlaf. Ein röchelndes Schnarchen kam von seinem Bett.

Kovalcik lächelte. Nun, da der Kapitän wieder bewusstlos war, schien sie die Selbstbeherrschung wiederzufinden. »Er ist ein Verrückter. Du siehst doch, was mit meiner Haut ist. Was sein Wahnsinn mir angetan hat, uns allen angetan hat. Falls er frei kommen sollte, diese Fahrt in Gefahr bringen sollte – ja, dann würden wir ihn töten, ja. Wir würden sie alle töten. Es wäre reine Selbstverteidigung, verstehst du? Aber es muss nicht dahin kommen.« Die Stimme war wie Eis. Man hätte eine ganze Stadt damit kühlen können. »Du warst nicht dabei, als die Schwierigkeiten ausbrachen. Du hast keine Ahnung, was wir durchmachen mussten. Und wir werden das nicht noch einmal hinnehmen. Befreit uns von diesen Männern, Captain.«

Sie trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme über der Brust. Auf einmal war es sehr still im Raum, wenn man von dem Knirschen und Poltern aus dem Schiffsbauch absah, von einem gelegentlichen schnarchenden Atemlaut von Kohlberg. Kovalcik war jetzt wieder vollkommen ruhig, die eiskalte Wildheit war verschwunden. Als erklärte sie ihm ganz schlicht: So ist die Lage, du hast alles gehört, jetzt bist du am Zug, Captain Carpenter.

Was für eine eklige stinkige Scheiße, dachte er.

Doch zu seiner großen Verblüffung entdeckte er hinter seiner Gereiztheit darüber, in diese Sache hineingezogen zu sein, eine merkwürdige Traurigkeit, statt des zu erwartenden Zorns.

Und so spürte er, trotz allem, eine ansteigende völlig überraschende Sympathie in sich, Mitleid mit Kovalcik, mit Kohlberg, mit ihnen allen – und für diese ganze beschissene, vergiftete von Überhitzung geplagte Welt, in die sie alle hineingeboren worden waren. Wer hatte sich das ausgesucht – den drückenden grünen Himmel, die brennende Luft, die unabdingliche tägliche Dosis Screen, die millionenfachen aberwitzigen Improvisationen, die es Menschen möglich machen sollten, weiterhin auf dem Planeten Erde zu überleben? Wir waren es nicht! Unsere Ur-Ur-Großeltern waren es, vielleicht, aber wir doch nicht! Leider weilen die nicht mehr unter uns und können nicht sehen, wie es jetzt ist, aber wir sehen es. Sie haben sich einen langen lustig-unbekümmerten Vergewaltigungsrausch auf der Erde herausgenommen und uns dann die Trümmerreste wie Knochen hingeworfen. Und es war ihnen niemals bewusst geworden, was sie da anrichteten. Und hätten sie es erkannt, es wäre ihnen scheißegal gewesen …

Dann war es vorbei. Was konnte er denn, verdammt, tun? Hielt diese Kovalcik ihn für Jesus Christus? Er hatte auf seinem Schiff keinen Platz für diese Leute. Und er hatte auch weder ausreichend Screen oder Proviant. Und die Hauptsache war, das alles ging ihn eigentlich nichts an. San Francisco wartete auf ihn und seinen Eisberg. Und der schmolz weiter ab, während sie hier herumzimperten. Es war Zeit, dass sie sich auf den Weg machten und von hier verschwanden.

»Also«, sagte Carpenter. »Ich verstehe eure Probleme. Ich bin nicht so ganz sicher, ob ich euch helfen kann, aber ich werde tun, was ich kann. Ich werde unsere Vorräte überprüfen und euch dann wissen lassen, was wir tun können. Okay?« Er sah Rennett an, die zeitweilig in eine andere Dimension entwichen zu sein schien. Jetzt war Rennett wieder vorhanden. Sie sah Carpenter seltsam starr an, als versuchte sie in seinen Schädel einzudringen und seine Gedanken zu lesen. Ihr Gesichtsausdruck war herausfordernd und gehässig. Sie wollte herausfinden, wie er mit der Sache zurechtkommen würde.

Das hätte er eigentlich auch selbst gern gewusst.

Sie sagte: »Kann ich heute Abend deine Antwort haben?«

»Nein, aber gleich morgen früh«, antwortete er. »Schneller geht's nicht. Heute Abend ist es schon zu spät, alles durchzuchecken.«

»Aber du rufst mich dann an.«

»Ja, das werde ich.«

Und zu Rennett sagte er: »Also, gehn wir. Zurück aufs Schiff.«

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