Kapitel 2

Das Fenster in Carpenters Zimmer im dreißigsten Stock des vergammelten alten Manito-Hotels im Zentrum von Spokane ging genau nach Osten. Während der anderthalb Jahre, die er nun hier drinnen hauste, hatte er die Scheiben noch nie abgedunkelt. Die volle helle Wucht der allmorgendlich heraufschießenden Sonne durch die klare Scheibe war an jedem Tag sein Wecksignal, wenn sie sich in ihrer ganzen entsetzlichen Pracht anschickte, westwärts über den müden, kahlgefressenen nordamerikanischen Kontinent zu rollen.

Derzeit verdiente Carpenter seinen Lebensunterhalt als DJ, als ›Desert Jockey‹ und Wetterfrosch hier draußen in diesem gottverlassenen, von Trockenheit geplagten Agrargürtel. Und es gehörte zu seinen Aufgaben, die Chancen der Farmer abzuschätzen, die ihre gesamte Existenz aufs Spiel setzten, wenn sie sich auf die nächsten ›vermutlichen‹ ausgiebigen Regenfronten im Ostteil des Staates Washington einzurichten versuchten – nächsten Monat, im nächsten Jahr, irgendwann. Die Gegend lag genau an der Schnittstelle zwischen dem fruchtbaren, landwirtschaftlich nutzbaren Feuchtgürtel im südlichen Kanada und dem verelendeten, dauerhaft verwüsteten Ödland im nördlichen Mittelwesten der Vereinigten Staaten … und die Niederschlagsprognose war eine ziemlich dem Zufall ausgesetzte Sache. Manchmal regnete es, und die Farmer machten üppige Gewinne, und manchmal zog der Regengürtel weit nach Nordosten, und sie machten bankrott. Also verließen sie sich auf Carpenter, der ihnen Wochen, am liebsten Monate im Voraus sagen sollte, mit welchen Witterungsbedingungen sie in jeder Jahreszeit zu rechnen haben würden. Für sie war er ihr Wetter-Guru, ihr Schamane und Wahrsager.

Er hatte in seinem Leben schon ganz andere ›Berufe‹ gehabt. Bevor er den Wetterjob bekam, war er Frachtdispatcher für eines der LS-Shuttles bei Samurai Industries gewesen. Vorher Chip-Runner, und davor – die Zeit hatte er fast schon zu vergessen begonnen. Als guter ›Salaryman‹ und Lohn-Nehmer nahm er jede Arbeit an, die er zugeteilt bekam, und bemühte sich, die erwünschten Fertigkeiten zu meistern.

Und eines schönen Tages – falls es ihm gelingen sollte, eine saubere Weste zu behalten –, sehr bald hoffentlich, würde er ganz oben in der Samurai-Pyramide in New Tokyo/Manitoba in einem Eckbüro sitzen. Dort war der Hauptsitz von Samurai. Und genauso saßen drunten in New Kyoto in Chile die Spitzenkräfte des Hauptkonkurrenten von Samurai, des gigantischen Kyocera-Merck-Kombinats. Aber New Tokyo, New Kyoto, das machte wahrhaftig keinen Unterschied; das eine war nur die Kehrseite des anderen. Wichtig war nur, dass man es bis in die Zentrale hinauf schaffte. Das war das Allerwichtigste, dass die Japse dich an die Brust drücken, dass du es ins Zentrum schaffst, Spitzenmann wirst, eine Leitende Position bekommst, einer von ihren bevorzugten ›Rundaugen‹ wirst. Sobald du es bis da hinauf gebracht hattest, konnte dir im Leben nichts mehr passieren. Kein sehr erhabenes Ziel, jedenfalls von einem Idealzustand her betrachtet, aber eine andere Chance hatte Carpenter eben nicht. Entweder man spielte das Spiel der ›Firma‹, das wusste er, oder man spielte überhaupt nicht mit.

An diesem Spatfrühlingstag um halb sieben am Morgen, während der Raum bereits voller frühem Sonnenlicht war und Carpenter ohnehin kurz vor dem Aufwachen lag, gab sein Firmenkommunikator einen langen Piepton von sich, der Visorschirm am Fußende des Bettes wurde hell und eine vertraute dunkle Altstimme sagte: »Auf-auf, Salaryman Carpenter! Erhebe dich und sing mit mir die Samurai-Hymne: Unser Herz ist rein, unser Kopf ist klar. Wir denken für die FIRMA … Immer-, immerdar … Hab ich dich zu früh geweckt, Salaryman Carpenter? Bei dir an der Westküste zieht doch der Morgen schon mächtig herauf, oder? Bist du wach? Allein? Knips mal Visual an, Salaryman Carpenter! Lass mich dein fröhliches Lächeln sehen. Deine geliebte Jeanne ist hier!«

»Um Himmels willen, hab ein bisschen Erbarmen«, knurrte Carpenter. »Mein Hirn läuft noch nicht wieder richtig.« Er blinzelte zum Visor hinunter. Dort sah ihm Jeanne Gabels breitflächiges Eurasiergesicht entgegen, dunkeläugig mit betonter Knochenstruktur. Ein paar kleine Korrekturen an Kinn und Wangen, und es hätte das Gesicht eines Mannes sein können. Jeanne und er waren gute Freunde (aber niemals ein Liebespaar) gewesen, als sie gemeinsam im Samurai-Büro in St. Louis starteten. Vor vier Jahren war das. Und sie saß jetzt in Paris – und er hockte in Spokane: Die Firma hielt viel von Jobfluktuation und Mobilität bei ihren Leuten. Ab und zu riefen sie sich gegenseitig an.

Er aktivierte den Sichtkanal auf seiner Seite, so dass sie das schäbige Hotelzimmer sehen konnte, das zerwühlte Bett, seine schlafverklebten Augen. »Schwierigkeiten?«, fragte er.

»Nicht mehr als üblich. Aber ich habe Neuigkeiten.«

»Gute oder schlechte?«

»Das hängt davon ab, wie du's betrachten willst. Ich hätte da 'nen Deal für dich. Aber geh erst mal, wasch dir das Gesicht, putz dir die Zähne und kämm dich. Du siehst ziemlich verboten aus, weißt du …«

»Schließlich bist du's ja, die mich in aller grauen Herrgottsfrühe aufschreckt und verlangt, dass ich den Visor anschalten soll!«

»Hier bei uns in Paris ist der Tag bereits vorbei. Ich habe so lang wie möglich mit dem Anruf gewartet. Also, geh schon und wasch dich. Ich bleib' dran.«

»Dann dreh dich bitte um. Ich hab nämlich nichts an.«

»Aber gern.« Sie lächelte frech, sah aber weiter unbeirrt aus dem Visor zu ihm herein.

Achselzuckend kletterte Carpenter aus dem Bett. Nackt. Er ließ den Visor angeschaltet. Soll sie sich doch was abgucken, wenn's ihr Spaß macht, dachte er. Vielleicht bringt's ihr ja was. Carpenter war Ende dreißig, schlank, hatte schulterlange gelbe Haare und einen braunen Bart, und er war knäbisch stolz auf seinen Körper, die langen schlanken Muskeln, den festen Bauch und den strammen Hintern. Er patschte splitternackt durch das Zimmer zur Waschzone und steckte den Kopf unter den Sonarreiniger, und der Apparat schnurrte und pulste.

Gleich danach fühlte er sich sauber und fast wach. Der SCREENinjektor lag auf dem Toilettentisch; er nahm ihn und verpasste sich, ohne weiter nachzudenken, seinen Morgenschuss. Man kroch aus dem Bett, man reinigte sich, man entleerte die Blase und man gab sich die entsprechende Dosis Screen. Jeder Mensch begann seinen Tag so, jeden Tag. Draußen erwartete dich die Sonne in dem mörderisch-aggressiven weißen Glast des Morgenhimmels, und du wolltest ja schließlich dieser sagenhaften Glut nicht entgegentreten, ohne pflichtschuldig deinen Hautschutzpanzer erneuert zu haben. Wie jeden Tag.

Carpenter schlang sich ein Badetuch um die Hüften und wandte sich wieder dem Visor zu. Jeanne betrachtete ihn wohlgefällig anerkennend.

»Viel besser«, sagte sie.

»Ich bin beglückt. Du sagst, du hast einen Deal für mich?«

»Möglich. Aber es liegt ganz bei dir. Bei unserm letzten Gespräch hast du gesagt, du drehst da droben in Spokane völlig durch und kannst es kaum erwarten, bis du irgendwo anders in einer neuen Sache landest. Also? Wie ist es nun damit, Paul? Möchtest du immer noch weg aus Spokane?«

»Was? Verdammt, und wie!« Sein Puls hatte zu rasen begonnen. Er hasste Spokane. Seine Arbeit als Wetterfrosch in dem gottverlassenen Hinterwäldlernest kam ihm sowieso wie ein Irrweg vor, wie eine Sackgasse im Leben.

»Ich kann dich dort rausholen, falls du willst. Wie würdest du es finden, Käpt'n auf See zu sein?«

»Ein Kapitän auf See«, wiederholte Carpenter ausdruckslos. »Kapitän …« Jetzt hatte sie ihn doch aufgeschreckt. Damit hatte er nicht gerechnet. Als hätte sie ihn gefragt, ob er gern ein Flusspferd sein wollte.

Er fragte sich, ob Jeanne ihn einfach nur zum Spaß anrief, vielleicht, um ihn auf die Schippe zu nehmen. Aber für ihn war es noch zu früh am Tag, als dass er so etwas komisch gefunden hätte. Und außerdem, es passte gar nicht zu Jeanne, so etwas zu tun.

»Redest du im Ernst?«, fragte er. »Für Samurai?«

»Selbstverständlich für Samurai. Ich kann für dich keine Karriereumorientierung arrangieren, leider. Aber wenn du möchtest, kann ich für dich einen Transfer erreichen. Von San Francisco segelt demnächst der Eisbergschlepper Tonopah Maru. Sie suchen einen Ersten Offizier, Salaryman-Stufe Elf. Kam heute morgen über das Personalnetz. Du bist doch Grad Elf, Paul?«

Carpenter wollte nicht als undankbar erscheinen. Jeanne war ein liebes Mädchen, und sie hatte seine Interessen im Sinn und sorgte sich darum. Doch das jetzt verschlug ihm dennoch zunächst die Sprache.

»Verdammt, Jeanne, was verstehe ich schon von der Führung von Trawlern, die Eisberge abschleppen!«

»Und was, verdammt, hast du von Metereologie gewusst, oder vom Chiprunning? Oder von all den anderen Jobs, die du gemacht hast, als du damit anfingst? Gott gibt den Seinen. Gott und Samurai Industries. Die bringen dir schon bei, was du dabei brauchst. Das weißt du doch. Du kriegst den passenden Indoktrinationskubus, du schiebst ihn dir rein, und zwei Stunden später bist du als Nautiker mindestens ebenso perfekt, wie Kolumbus es jemals war. Aber natürlich, wenn du was gegen Matrosen hast …«

»Nein. Gar nicht. Erzähl mir mehr darüber. Gibt es bei dem Job Aufstiegschancen?«

»Klar doch kannst du dabei aufsteigen. Du verpflichtest dich für anderthalb Jahre auf deinen vollgepackten unbequemen engen Kahn, harpunierst Eisberge und hältst deine renitente, aber kompetente Crew unter Kontrolle, dann schaffst du sicher Grad Zehn. Demonstration von Führungsqualität unter widrigen Bedingungen. Und dann werden sie dich nach Europa versetzen und auf die Administrationsschiene schicken, und dann kannst du dich bequem in deinem Sessel zurücklehnen. Und dann steigst du glatt im Netz auf nach New Tokyo. Ich hab sofort an dich gedacht, als das heute rüberkam.«

»Und weshalb ist der Posten noch nicht besetzt?«, fragte Carpenter. Normalerweise wurden offene Stellen, gleichgültig, wie scheußlich die Arbeit sein mochte, wenn damit die Hoffnung auf Rangverbesserung verbunden war, sofort im Haus weggeschnappt, bevor sie überhaupt in den Generalcomputer der Firma zur Ausschreibung gelangten. »Wieso hat keiner von der Trawler-Truppe sich den Job sofort geangelt?«

»Das hat auch einer«, antwortete Jeanne. »Gestern. Aber zwei Stunden später kam sein Los in der Lotterie, und er hat sich in eines von den Habitaten abgesetzt, plötzlich und einfach so, hat sich ein Shuttle geschnappt und vorher noch nicht einmal seinen Kram gepackt. Ein Job auf Outback war es, glaube ich. Oder vielleicht Commonplace. Die Firma hatte keinen qualifizierten Ersatzmann, und die Personalabteilung wurde angewiesen, rasch mit einem Elfer einzuspringen. Beim ersten Durchlauf tauchten fünf Namen auf, und du warst dabei. Also habe ich mir gedacht, ich rufe dich erst einmal an, bevor ich die anderen vier Typen durch die Checks laufen lasse.«

»Wie lieb von dir!«

»Hab ich mich umsonst bemüht?«

»Ich liebe dich, Jeanne!«

»Weiß ich. Aber wie nun – willst du den Job?«

»Weißt du den Zeitrahmen?«

»Fünf Wochen Übergangszeit. Das reicht, um deinen Ersatz in Spokane in deine Wetterfroschdetails einzuarbeiten; dann ab nach Frisco für deine Indoktrination und Anpassung, und vielleicht kannst du dann sogar noch ein paar Tage für Paris abzweigen – für ein anständiges Essen und das aufregende Nachtleben, falls du sowas noch durchhältst.«

Jeannes Gesicht wirkte spöttisch, wie gewohnt, aber er hatte den Eindruck, als werde da auch ein Hauch von sehnsüchtigem Verlangen sichtbar. Als sie beide zusammen in St. Louis arbeiteten, flirteten sie die ganze Zeit, und wenn sie mit anderen Leuten zusammen waren, gaben sie diesen immer das Gefühl, dass sie beide eine sexuelle Beziehung hatten. Doch das war weiter nichts als ein Spiel gewesen. Irgend jemand hatte Jeanne einmal verletzt, vor langer Zeit, seelisch, nicht körperlich – Carpenter hatte nie nach Einzelheiten gefragt –, doch seiner Überzeugung nach war sie absolut asexuell. Und das war schade, denn er war es ganz und gar nicht.

Er sagte: »Würde ich liebend gern machen. Ein paar Tage Paris! Die Seine. Die Place de la Concorde. Und das Restaurant ganz oben auf dem Eiffelturm. Und wenn es regnet – ab in den Louvre.«

»Hier regnet es immer«, sagte sie.

»Um so besser! Wasser, das vom Himmel kommt, dir einfach so auf den Kopf rieselt … Jeanne, mir kommt das vor wie ein gottverdammtes Wunder! Ich würde mich glatt nackt ausziehen und die ganzen Champs Elysées runtertanzen …«

»Gib nicht so schamlos an! Außerdem würden sie dich blitzschnell festnehmen. Hier stehen an jeder Ecke Polypen. Androide, äußerst korrekt. Mon dieu, monsieur – s'il vous plaît, vos vêtements!«

»Denen sag ich einfach, ich kann nicht französisch. Würdest du mit mir tanzen?«

»Nein. Und bestimmt nicht nackt die Elysées runter.«

»Und was ist mit dem großen Ballsaal im Georgie Sänk?«

»Aber sicher, gern«, sagte Jeanne. »Also im Georges Cinq.«

»Ich liebe dich, Jeanne.« Aber in Paris würden sie einander nicht begegnen, da war er ganz sicher. Wenn er seinen Job auf dem Eisbergschlepper hinter sich hatte, würden sie Jeanne längst in die Filiale in Tierra del Fuego oder Hongkong oder Kansas City versetzt haben.

»Ich hab dich auch lieb«, sagte sie. »Bleib weiter schön trocken, Paul!«

»Kein Problem hier drüben bei uns«, sagte Carpenter.


An dem Morgen, an dem die Genehmigung für seine Versetzung endlich durchkam – es hatte an die zehn Tage gedauert, und er begann bereits zu zweifeln, ob Jeanne Erfolg gehabt hatte –, hatte er im Büro des Samurai Weather Service in Spokane neunzehn Stunden lang ununterbrochen durchgearbeitet. In den letzten Tagen hatten sie alle Überstunden machen müssen. Es war Verschmutzungsalarm Fünften Grades erklärt worden, der schwerste seit drei oder vier Jahren, und die gesamte Belegschaft der Meteorologischen Truppe hatte doppelte Überstunden gemacht, um die außerordentlichen Vorgänge in der höheren Atmosphäre zu überwachen, die die gesamte Westküste gefährden konnte.

Und das ging vor: Über Wyoming, Colorado, Nebraska und Kansas hatte sich eine ausgedehnte Hochdruckzone festgesetzt. Das war an sich nichts Neues und nicht ungewöhnlich – über diesen Gegenden lag immer eine ausgedehnte Hochdruckzone, weswegen es inzwischen dort auch fast keinen Regen mehr gab. Doch diesmal hatte die ganze gewaltige Masse schwerer toter Luft im umgekehrten Uhrzeigersinn eine starke Rotation entwickelt und begonnen, sich aus den Treibhäusern des von der Dürre bedrohten Mittelwestens Ströme von Gasen einzusaugen. Die ganze giftige Luftsuppe – Methan, Stickoxide und ähnliche solche Sachen –, die sich normalerweise in der Atmosphäre über Chicago, Milwaukee, St. Louis, Cincinnati und Indianapolis verteilt, wurde so um die Nordbereiche von Nebraska und Wyoming und nach Idaho hineingesaugt.

Unter gewöhnlichen Umständen wäre das kein Anlass für einen Großalarm gewesen. Es passierte immer wieder einmal, dass ein Schwaden fauliger Galle mit der Luft in die Bergstaaten zog, dort direkt nach Südwesten umgewirbelt und wieder dorthin gelenkt wurde, von wo er gekommen war. Diesmal aber lieferten die Sensorsatelliten im Orbit Daten über einen ganzen Strang sekundärer Wirbel in der Atmosphäre an der Westkante der Hochdruckzone, und diese Wirbel konnten möglicherweise bei ihrem Zug südwärts nach Utah ihre dreckige Giftfracht absplitten und im Nordwesten am Pazifik driften lassen. Und dann würden Seattle und Portland ein paar Tage lang Probleme mit Häufungen von Augen- und Schleimhautbeschwerden haben; danach würden sich die normalen Nord-Süd-Winde der Sache annehmen, die Suppe packen und sie die Küste hinab südwärts schieben, wo sie dann San Francisco und dann Los Angeles und San Diego belästigen konnte.

Die großen Küstenstädte hatten bereits reichlich eigene toxische Probleme, und wenn ihnen aus dem Mittelwesten noch zusätzlich eine dicke Ladung fremden Drecks beschert wurde, dann würden die festgelegten bisherigen Toleranz-Höchstgrenzen weit überschritten werden. Es würde sie treffen wie der Giftatem eines Drachen. Die Menschen würden tot auf der Straße zusammenbrechen. Der Schwefelgestank würde sie würgen, der tödliche Smog ihnen die Nasenschleimhaut zerfressen und ihr Blut schwarz werden lassen. Die Behörden würden offizielle Warnungen an die Bevölkerung ergehen lassen, sie solle im Haus bleiben und Türen und Fenster geschlossen halten, Industriebetriebe würden dichtmachen müssen, vielleicht für mehrere Wochen. Man würde allgemeine Fahrverbote für den nicht lebenswichtigen Straßenverkehr erlassen müssen, um die Lage nicht noch mehr zu verschärfen. In der gesamten Region würde es einen scheußlichen temporären Rückschlag geben; möglicherweise gab es auch zusätzliche Langzeitschäden im Environment, etwa ein weiteres Ansteigen der Arsen-, Kadmium- und Quecksilberbelastung im Trinkwasser, die kontinuierliche Verschlechterung der Infrastruktur, schwerste Beeinträchtigungen bei der überlebenden Flora und Fauna an der Westküste: die gigantischen uralten Redwood-Bäume konnten sich ja schließlich nicht hinter geschlossene Türen und Fenster in Häuser zurückziehen, um sich bei einem Smogalarm der Stufe Fünf vor der nach Westen ziehenden Giftwolke zu schützen.

Aber diese giftige Wolkenfront konnte auch jeden Augenblick abdrehen und weiterziehen, ohne Schaden anzurichten. Vorschnelle Warnungen vor einer möglichen Gefahr, die dann ausblieb, konnten zu unnötigen Produktionsstilllegungen führen, zu Panikreaktionen in der Zivilbevölkerung; höchstwahrscheinlich zu einer Massenflucht aus der Region, zu Staus und Blockaden der Ausfallstraßen, was zu zusätzlichen Umweltproblemen führen musste. Und danach würde es zu einer Sintflut von Schadenersatzprozessen kommen, weil die prognostizierte Katastrophe nicht eingetreten war. Leute würden auf Schmerzensgeld klagen für den erlittenen seelischen Schock, Entschädigungsforderungen für unnötige Aufwendungen, für Geschäftseinbußen und Verdienstausfall und alles denkbar mögliche andere würden kommen. Und Samurai Industries sahen sich ganz und gar ungern in gerichtliche Schadensabwicklungsprozesse verstrickt. Die Firma hatte so ziemlich das dickste Finanzkissen unterm Hintern – und saß fest darauf. Und jeder wusste das.

Also musste die ganze Situation bis ins kleinste Detail möglichst genau an den Monitoren erfasst und protokolliert werden, Minute für Minute, und sämtliche Mitarbeiter im Wetterservice in Spokane waren bis zur Beendigung der Krisenlage zu ständigem Bereitschaftsdienst rund um die Uhr verpflichtet. Carpenter, dem man geradezu seherische Fähigkeiten zuschrieb, meteorologische Großraumprognosen zu erstellen, war dabei besonders gefordert. Er hatte sich mit Hyperdex vollgepumpt und die ganze Nacht vor dem Computer gesessen, in Schweiß gebadet und mit von der Droge geschärfter Wahrnehmungsintensität, und hatte die sich bewegenden gelbgrünen Balken- und Punktmuster angestarrt und die tanzenden Daten so rasch internalisiert, wie sie hereinkamen, und dabei gehofft, zu irgendeiner Art Sinnfälligkeit der kosmischen Abläufe vorzudringen, zu einer mystischen Gestalt-Erkenntnis, die ihm einen Blick in die Zukunft gestatten würde. Die Nacht verging wie ein Augenzwinkern. Und er hatte es geschafft! Er hatte es erwischt! Er erhaschte einen Blick über die Zeitkontur hinaus in den übernächsten Tag, und er sah, wie der tödliche Giftschwall in der Atmosphäre sich weiter- und weiterwälzte – südwärts, an Coeur d'Alene vorbei, kaum merklich südostwärts … ja, vielleicht doch mehr ostwärts … Ja …

»Carpenter!«

… ja, eine Verschiebung, ganz eindeutig, die Luftströme änderten ihre Richtung, und beginnen würde das am Dienstag, kurz nach drei Uhr nachmittags …

»Carpenter?«

Eine Stimme aus dem Nichts; dünn, schrill, ärgerlich irritierend. Carpenter wedelte abwehrend mit der Hand, wandte sich aber nicht um. »Verpiss dich, ja!« Er mühte sich heftig, die Konzentration nicht zu verlieren.

»Chef sagt, du musst Pause machen. Er will mit dir sprechen.«

»Ich hab es fast. Ich kann es sehen – Mist, Scheiße!« Er hämmerte mit der Faust auf die Konsole. Die Unterbrechung kam für ihn wie ein Eimer Eiswasser, das ihm über den Kopf geschüttet wurde. Alles zersplitterte. Er sah überhaupt nichts mehr. Die Muster auf dem Visor verschwammen zu einem sinnlosen wirbelnden Tanz zuckender Flecke. Carpenter schaute hoch. In seinem Körper vibrierte und zuckte jeder Nerv. Einer von den Hilfszwergen des Büros stand neben ihm; vollkommen unbeeindruckt, ein blasses spilleriges Mädchen – mit dem Namen Sandra Wong oder Sandra Chen, oder sonst irgend etwas chinesischen Ursprungs. »Verdammt, was gibt's denn?«, fauchte er wütend.

»Sag ich doch«, erwiderte die Kleine. »Chef will dich sprechen.«

»Weshalb?«

»Was weiß ich? Sag Carpenter, soll Pause machen. Soll rüberkommen. Mehr hat er nicht gesagt.«

Carpenter nickte und stand auf. Im ganzen Raum klebten Leute – wie er vollgepumpt mit Hyperdex – vor den Geräten und starrten mit dem Ausdruck starrer Besessenheit auf die Bildschirme und brabbelten in die Computer, während die Datenflut von der Wetterfront aus dem Orbit hereinströmte. Carpenter fragte sich, weshalb die Leute dermaßen wie in Trance wirkten. Plötzlich fand er diese fanatische Hingabe an die Arbeit als befremdlich, ja als ekelhaft. Noch vor zwei Minuten hätte es für ihn selbst auf der Welt nichts Wichtigeres gegeben, als die Giftwolke da droben in der Luft zu verfolgen, doch jetzt war er davon ganz abgehoben, hatte sich völlig losgelöst davon, und das Schicksal von Seattle, Portland, San Francisco, Los Angeles und San Diego betraf ihn ganz und gar nicht mehr.

Carpenter begriff, dass er – ohne es zu merken – in ein tiefes Erschöpfungsloch abgesackt war. Er lief nicht mehr auf Hochtouren. Das Hyperdex musste bereits vor Stunden aufgebraucht worden sein, und er hatte seinen Wachdienst am Monitor nur mit purem zerebralen Antrieb fortgeführt und damit sein Nervensystem – wer-konnte-wissen-wie-schwer? – geschädigt.

Er trat in den anderen Raum und vor den breiten hufeisenförmigen Schreibtisch des Chefs der Abteilung.

»Du wolltest mich sprechen?«, fragte er.

Sein Chef war eine trübselige Type, ein Salaryman-Gruppe-Zehn namens Ross McCarthy, der trotz seines Namens irgendwo ein Tröpfchen japanisches Blut in den Adern hatte. Das hatte ihm allerdings bei seinen Karrierebestrebungen nicht geholfen, ja vielleicht sogar eher dazu beigetragen, dass er festklebte. Seit Jahren saß er in Klasse-Zehn, und wie es den Anschein hatte, würde er auch nicht weiter aufsteigen. Und das hatte den Mann verbittert gemacht. McCarthy war untersetzt, hatte ein plattes Gesicht, schwach olivgrün getönte Haut, glatte glitzerschwarze Haare, die in der Kopfmitte bereits etwas schütter wurden.

McCarthy hatte ein Printout in den Händen und befingerte es zimperlich, als wäre es radioaktiv.

»Carpenter, verdammt, was ist denn das?«

»Wie soll ich das wissen?«

McCarthy machte keine Anstalten, ihm das Blatt zu zeigen. »Ich sage dir, was das ist. Es ist das Ende deiner Karriere, was ich da in meiner Hand halte. Eine Versetzung auf ein verfluchtes Eisbergschiff, das habe ich hier. Carpenter, hast du den Verstand verloren?«

»Nein. Glaub ich eigentlich nicht. Nein.« Carpenter wollte nach dem Printout greifen, aber McCarthy zog es weg.

»Das Schiff da«, sagte er, »das ist doch absolut das Ende deiner Laufbahn, eine Sackgasse. Du hockst dich ein paar Jahre da raus auf den Pazifik, frierst dir den Arsch ab, musst körperliche Schwerstarbeit bringen, und wenn du dann zurückkommst, siehst du, dass alle anderen aus deiner Qualifikationsstufe an dir vorbeigezogen und aufgestiegen sind. Wer nicht an Ort und zur Stelle ist, der hat bald keine Stelle mehr. So funktioniert das hier, Carpenter. Kannst du mir folgen? Hör auf mich, tu dir das nicht an! Wenn du klug bist, dann bleibst du schön hier bei uns. Hier wirst du gebraucht.«

»Aber die Firma denkt anscheinend, dass ich anderswo gebraucht werde«, erwiderte Carpenter. Allmählich wurde er ärgerlich.

»Du bleibst hier, und dann steigst du bestimmt bald auf. Ich werde mit Sicherheit demnächst auf Neun befördert. Ich habe gehört, dass die Anweisung jeden Moment direkt von Yoshido-san kommen kann. Und wenn ich aufsteige, rutschst du direkt an meine Stelle. Ist das nicht besser, als verdammte Eisberge durchs Meer zu schleppen?«

Doch McCarthy, das wusste Carpenter, würde nirgendwohin aufsteigen. Er hatte sich im Lauf seiner Karriere irgendwann einen obskuren Etiketteverstoß zuschulden kommen lassen; vielleicht hatte er unklugerweise versucht, einen entfernten japanischen Cousin fünften Grades, der keine Ahnung von McCarthys Existenz hatte, zu bedrängen, der solle ihm beruflich weiterhelfen … und deshalb würde er nun ewig auf Stufe Zehn hocken bleiben, bis er verrottete. Und McCarthy wusste das ebenfalls. Er wollte alle seine Untergebenen ebenfalls in diesem Zustand permanenter Stagnation halten, in dem er selbst gefangen war.

»Ich glaube, in der Wetterprognose habe ich erreicht, was mir möglich ist«, sagte Carpenter mit gepresster Stimme und um Beherrschung bemüht. »Jetzt möchte ich es einfach mal mit was anderem versuchen.«

»Auf einem Eisbergschlepper! Das ist doch Mist, Carpenter. Scheiße! Lehn ich ab!«

»Ich glaube, das werde ich nicht tun«, sagte er und nahm McCarthy den Versetzungsbescheid aus der Hand, faltete ihn und schob ihn, ohne einen Blick darauf zu werfen, in die Tasche. »Übrigens, den Fünferalarm kannst du allmählich abblasen. Die Giftwolke steht kurz vor der Auflösung.«

McCarthys schwarze Knopfaugen begannen plötzlich wie im Fieber zu glänzen. »Bist du sicher?«

»Absolut!« Seine kühne Bestimmtheit kam für ihn selbst überraschend. »Gegen Dienstagnachmittag wird sich das ganze System wieder zurück nach Osten in Bewegung setzen.« Wenn er sich irrte, würden sie, sobald die Prozesswelle anzurollen begann, die gesamte Belegschaft im Büro in Spokane liquidieren. Ach, sollen sie doch alle zum Teufel fahren, dachte Carpenter. Er würde tausend Meilen weit weg sein, ehe es überhaupt brenzlig werden konnte.

Aber seine Prognose war jedenfalls korrekt. Er spürte es einfach in den Knochen.

»Zeig mir das mal auf den Wetterkarten!« McCarthys Gesicht verriet nun einen Hauch von Misstrauen.

Carpenter ging mit ihm zurück ins Datenkontrollzentrum. Nie zuvor war ihm der Raum als dermaßen absurd erschienen. Wie das Spielzimmer in einer Irrenanstalt … Alle diese hyperdex-besoffenen grinsenden Zombies, die gebannt auf die grellen Wirbel und Streifen und Schleifen stierten, die über die Visoren tanzten. Carpenter trat an seinen eigenen Computer und zeigte auf die wirren grün-gelben Muster. Aber jetzt konnte er aus ihnen gar keinen sinnvollen Zusammenhang mehr ablesen. Sie waren wie die Fingermalereien von Schimpansen. Nichts weiter. »Da«, sagte er zu McCarthy, »diese Isobarenlinien da künden die veränderten Gradienten an.« Er tippte mit dem Finger gegen den Bildschirm. »Siehst du es, hier? An der Grenze zu Idaho? Eine definitiv einsetzende Abnahme der toxischen Strömungen. Und eine deutliche Indikation für einen Rückwärtsschub von Kanada her, siehst du? Wie eine riesige Hand, die die ganze Masse einfach fortschiebt.« Das war zwar alles Quatsch, jedes einzelne Wort. Sicher, er hatte ganz bestimmt eine neue Veränderung gesehen, die sich da abzeichnete, ehe das Büromädchen ihn aus seiner Konzentration gerissen hatte, aber jetzt hätte er unmöglich noch sagen können, was es war.

McCarthy blickte angestrengt auf den Schirm.

»Es wäre ein verdammtes Wunder, wenn die ganze Scheiße einfach abziehen würde, was?«, sagte er.

»Ja. Aber hier, schau mal, Ross …« Carpenter nahm es sich nur selten heraus, ihn mit dem Vornamen anzureden. »Da, schau! Da und da und da – und besonders hier! Ich weiß, im Augenblick sieht das Ganze aus wie 'ne Darmverstopfung bei 'nem Wal, aber vorhin, als ich in die Karte eingeklinkt war, spürte ich deutlich, dass die gesamte Strömung sich verlagert, sich zu unseren Gunsten verschiebt, da waren definitive Anzeichen für eine fortschreitende Veränderung entlang der gesamten Peripherie. Schau dir das da an – und das hier!«

»Hmmm, ja.« McCarthy nickte. »Ja.« Carpenter wusste, dass er log und gar nichts sah. In einer Zehnerposition benötigte einer keine technischen Kenntnisse, höchstens ganz oberflächliche, man brauchte Managerqualitäten. Und die hatte McCarthy – vielleicht einmal besessen.

»Du erkennst es doch?«, fragte Carpenter. »Ich bin nach Gefühl geflogen, klar. Aber inzwischen trudeln bereits die Daten an, die das positiv bestätigen. Die Giftmasse ist so gut wie weg von uns. Du siehst es doch, Ross?«

Wieder nickte McCarthy.

»Genau. Ich finde das prima. Ja, genau. Ja.« Und dann sagte er abrupt: »Hör auf mich, Paul! Lehne deine Versetzung ab, ja? Bleib hier bei uns. Wir brauchen Leute mit deinem Kopf!«

Carpenter hatte es noch nie erlebt, dass McCarthy jemals um etwas gebeten hätte. Doch das Gefühl von spöttischer Erheiterung, das er jetzt empfand, ging fast sofort über in ein elendes Gefühl der Verachtung.

»Ich kann nicht, Ross. Ich muss weiter. Das kannst du doch sicher begreifen.«

»Aber als Skipper auf 'nem Eisbergschlepper …?«

»Egal. Ich nehme, was ich kriege.« Auf einmal war Carpenter schwindelig. Seine Augäpfel schmerzten. »He, Ross, geht es in Ordnung, wenn ich mich jetzt nach Hause verziehe? Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, und heute bin ich hier zu bestimmt nichts mehr brauchbar. Außerdem, die Krise ist überstanden. Ich schwöre es dir, es ist vorüber. Lass mich gehen, okay?«

»Ja«, sagte McCarthy geistesabwesend. »Geh nur, wenn du musst. Aber falls die Lage sich doch wieder verschlimmern sollte, müssen wir dich trotzdem wieder herholen, egal, wie kaputt du bist.«

»Soweit kommt es nicht. Glaub mir!«

»Und morgen schaust du vorbei. Wir müssen dran denken, deinen Nachfolger einzuarbeiten, wer immer das sein wird.«

»Sicher. Klar.«

Carpenter schwankte hinaus. Im Umkleideraum zog er sich den Schutzanzug über und legte sich sorgfältig die Faciallunge an, um Hals und Atemwege gegen die gewohnten herumschwebenden toxischen Stoffe in der Luft abzuschirmen. Der Himmel war grün und schwarz durchzogen von breiten widerlichen Streifen der Ekelsuppe rings um das große böse starrende Auge der Sonne; die Luft, heiß und feucht, klebte in den Straßen wie eine schwere Flauschdecke. Sogar noch durch den Maskenfilter spürte Carpenter, dass die Luft wie feine kitzelnde Drähtchen in die Nasenhöhlen stach. Erleichtert sah er beinahe sofort einen herankommenden Kugelbus. Er sprang rasch auf, drängte sich zwischen die anderen Maskenfiguren, um einen Platz zu ergattern, und zehn Minuten später war er zurück in seinem Zimmer im Hotel.

Er riss sich die Lungenmaske ab, dann ließ er sich mit allen Kleidern aufs Bett fallen; er war zu überdreht, um sich richtig schlafen zu legen.

Was für eine Welt, das da draußen, dachte er. Seit hundert Jahren den ganzen Spülicht über uns runtergeschüttet, und das Zeug regnet weiter und weiter und weiter runter. Dann die Eutrophierung. Rote Tiden. Plötzliche unwillkürliche, unerwartete Ausfälle. Ausbrüche von Mutagenese. Ebenso plötzlich und willkürlich. Überflutete Küstenregionen. Unerklärbar auftauchende Wirbelstürme und wilde Temperaturschwankungen. Weite Flächen verrottender Vegetation, die am Hitzschlag verdorrte und unter der erbarmungslosen Sonne fermentierte. Insektenhorden auf dem Marsch durch ganze Kontinente, die alles auffraßen, was auf ihrem Weg lag, und breite Narben Kahlschlag hinter sich ließen. Rings um den Globus eine nicht mehr zählbare Menge von Umweltauswirkungen, deren Ursache und Ursprünge nicht mehr direkt feststellbar waren. Im Grunde Diskontinuitäten. Die Auslöserschäden waren vor langer Zeit angerichtet worden. Und gründlich. Da war die Saat gesät worden für die anhaltende und sich mehr und mehr ausbreitende Katastrophe. Und jetzt reiften die Früchte davon heran. Überall.

Am schlimmsten traf es die Mittleren Breiten, die ehedem so fruchtbaren Gebiete der Gemäßigten Zone. Dort regnete es inzwischen fast nie mehr. Absterbende Wälder, sich ausbreitende neue Steppen, Wüsten, in denen nicht einmal mehr Gras wachsen konnte … Die brüchig werdende polaren Eisschelfe … Der verwaschen-hellweiße Dunsthimmel, gestreift von den grellen Schmierstreifen der Treibhausgifte … Überall an den Küsten absaufendes Tiefland; aus dem Meer ragen die Reste zerfallender Gebäude … Und dann, natürlich, auch die anderen Gegenden, wo das Problem ein Zuviel an Niederschlag war, nicht die Dürre. Carpenter dachte: Das ist die Rache für die Regenwälder. Wo einst ein angenehm temperiertes Klima bestanden hatte, wurden Regionen heimgesucht von endlosen Regenfällen und einer erstickendfeuchten Hitze und in dunstgeschwängerte Treibhausdschungel verwandelt. Über die Autostraßen wucherten Kriech- und Schlingpflanzen. Affen und Alligatoren begannen nach Norden abzuwandern. In den großen Städten breiteten sich absonderliche Tropenkrankheiten epidemisch aus. Dann fiel Carpenter ein, dass McCarthy – wenn er sich geirrt hatte, die Giftwolken nicht abzogen und Seattle und Portland in der nächsten Woche doch den Giftmüll abbekommen sollten – ihm sofort die Schlinge um den Hals legen würde. Man würde einen Sündenbock brauchen – und der würde er sein. Und statt der Versetzung zu dem Eisberg-Schlepper und seiner Beförderung würde er auf irgendeine unbedeutende Stelle an einem dermaßen trübseligen Ort auf Erden degradiert werden, dass ihm daneben Spokane wie ein Paradies erscheinen würde.

Die Firma bot einem lebenslange Beschäftigungsgarantie, solange einer treu und brav in Reih und Glied marschierte; doch beim kleinsten Argwohn, dass einer sich verantwortungslos verhalten oder nihilistischerweise von den erlaubten-erwünschten Normen abweichen könnte – und er war erledigt. Nein, gefeuert wurde er nicht. O nein. Kündigungen waren die äußerst seltene Ausnahme. Aber man ging seiner Aufstiegschancen verlustig, und wenn das passierte, schaffte es fast niemand, sich danach wieder nach oben zu arbeiten. Und er, Carpenter, hatte sich in dieser Sache ein bisschen weit vorgewagt. Ein smarter Karrierekletterer hätte gewiss nie mit solcher Bestimmtheit gesagt, dass die Kartenmuster eine günstige Verlagerung der Luftmassen erwarten ließen … Er aber hatte überhaupt nicht daran gedacht, seinen Arsch bedeckt zu halten. Das begriff er jetzt.

Ach, verdammt, was sollte es! Er glaubte an seine Prognose. Manchmal musste einer halt seiner Intuition folgen. Manchmal …

Aber als er sich am nächsten Tag im Büro meldete – nachdem er zwölf Stunden lang wie ein Zombie auf Urlaub auf seinem Bett gelegen hatte –, geschah dies mit einem gewissen Vorgefühl, einer Art Weltuntergangsangst, dass an der Tür die gesamte Belegschaft ihn erwarten werde, um ihn in Fesseln zu schlagen und zu binden und zu seiner Hinrichtung zu schleppen. Doch er hatte sich geirrt. McCarthy grinste ihm breit von einem Ohr zum anderen entgegen, und seine Augen funkelten. Er strahlte geradezu vor warmem väterlichem Stolz.

»Also?«, fragte Carpenter.

»Alles bestens! Du hast genau ins Schwarze getroffen, Paul! Ein Superhit! Du bist ein Genie, Mann, das bist du wirklich, ein verdammtes Genie, du alter Hundesohn! Himmel, du wirst uns hier verdammt fehlen, stimmt's nicht, Leute? Ist es nicht so?«

Anscheinend hatten die meteorologischen Karten Carpenters intuitive Schlussfolgerungen inzwischen bestätigt. Im Verlauf der Nacht hatten sich dann schließlich die normalen zyklischen Prozesse wieder durchgesetzt, und der ganze teuflische Giftmüllhaufen aus dem Mittelwesten, der die Luft in den Mountain States zu verpesten gedroht hatte, trieb bereits langsam wieder über die Kontinentale Wetterscheide zurück zu den Orten, an denen sie ihren Ursprung hatten. Und McCarthy hätte nicht seliger sein können. Das sagte er, fünf- oder sechsmal und mit verschiedenen Worten.

Aber es gab keine Feier. Keinen Champagner. McCarthy war zu übertriebener Generosität nicht fähig; und es war auch unübersehbar und offensichtlich, dass es ihm enorme Mühe bereitet hatte, sich zu der kleinen Demonstration herzlichen quasi-väterlichen Wohlwollens aufzuraffen. Fast sofort verflog die Wärme, und Carpenter spürte die kalte Wut, die sich unter ihr verborgen hatte. War das der erboste Neid eines festgefahrenen, mattgesetzten, frustrierten Versagers angesichts des triumphalen Erfolges eines brillanten Untergebenen? Oder bloße Verärgerung, weil ein wertvoller Mitarbeiter ausscheiden wollte? Wie immer, McCarthy schaltete blitzhaft um, wurde frostig und barsch, und die Fête war vorbei, ehe sie recht hatte beginnen können.

Zurück also jetzt zur gewohnten Routine.

Nächste Woche, erklärte man Carpenter, werde sein Ersatz eintreffen, aus Australien. Carpenter würde einen umfassenden Übergabebericht verfertigen müssen, in dem er seine bisherigen Tätigkeiten und Aufgaben hier in diesem Büro vollumfänglich darzulegen habe, bevor er daran denken dürfe, in seine neue Stellung zu wechseln.

Schönschön. Ein Übergabebericht. Sofort! Carpenter machte sich an die Arbeit.

Als McCarthy dann zu seiner Mittagspause verschwand, nahm Carpenter zum ersten Mal Kontakt zu der Eisbergschlepper-Abteilung auf, für die er arbeiten sollte. Er bekam eine Frau, die ihren Namen als Sanborn-Grand-Neun angab, meldete sich aus der Samurai Headquarters Pyramid in Manitoba. Sie sprach mit dem gelassenen ruhigen Ton eines Rundauges, das es ins Zentralbüro geschafft hatte und das genau wusste. Was für ein Unterschied zu der galligen säuerlichen Trübseligkeit eines Ross McCarthy, dachte Carpenter.

»Du bekommst eine hervorragende Crew«, erklärte Sanborn. »Die Tonopah Maru ist ein feines Schiff, wirklich ganz auf modernstem Standard. Sie liegt gerade in Los Angeles in der San Pedro-Werft zur Überholung, aber so in etwa zehn Tagen, zwei Wochen bringen sie sie die Küste rauf. Spätestens in zwei Wochen. Wir möchten, dass du, sobald du in Spokane alles abgewickelt hast, nach San Francisco runtergehst, dort deinen Einführungskurs absolvierst und dort wartest, bis das Schiff einläuft. Geht das bei dir soweit klar?«

»Ich kann es hinkriegen«, sagte Carpenter.

Zwei Wochen bezahltes Nichtstun in San Francisco? Warum nicht? Er war in Los Angeles aufgewachsen, aber er hatte schon immer eine Vorliebe für die kleinere, kühlere Stadt im Norden gehabt. Die Seebrisen, die Nebel, die großen Brücken, die bezaubernden kleinen alten Häuser, die weite blauschimmernde Bay … Aber gewiss doch! Sicher! Mit Wonne würde er dort warten. Besonders nach Spokane! In Frisco kannte er Leute, hatte alte Freunde dort, gute alte Freunde. Wie phantastisch, wenn er die wiedersehen könnte.

Ein frohes Vorgefühl wie vor einem neuen Aufbruch durchströmte Carpenter wie ein frischer, kühlender Wind. Der Himmel segne Jeannie Gabel, dachte er. Dafür bin ich ihr etwas schuldig, dass sie mir diesen Gig besorgt hat. Bei seinem ersten Landurlaub würde er gleich nach Paris jetten und sie zu dem feinsten Dinner einladen, das man für Geld bekommen konnte (oder doch zu dem besten Essen, das er sich leisten konnte).

Diese überschwängliche Freudenstimmung hielt nicht lange an. Derartige Hochschwünge tun das selten. Aber er genoss sie dennoch, solange sie dauerten, und er genoss sie ausgiebig. Man nimmt eben an Freude mit, was auf einen zukommt – und wenn und wo es kommt. Wir leben schließlich in einer brutalen harten Welt … und sie wird immer brutaler.

Ja, immer brutaler, dachte er. Das ist verdammt wahr.

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