Kapitel 16

Das kleine Hotel, das der unselige Juanito für Farkas gefunden hatte, erwies sich als zufriedenstellende Basis in den Tagen angenehmen Müßiggangs, die er sich nach seiner Rückkehr nach Valparaiso Nuevo gönnte. Der Ort Cajamarca lag angenehm entfernt von der Hektik des kommerziellen Treibens um die Nabe am Rande der C-Speiche. Farkas verließ das Hotel an jedem Tag in der Frühe, schlenderte den gleichen Weg bis zu dem gleichen Café am einen Ende der Siedlung, um zu frühstücken, und dann zu einem anderen Café, wo er zu Mittag aß. Zum Dinner begab er sich gewöhnlich in eine der anderen Siedlungen in einer der anderen Speichen des Satelliten, nie zweimal in die gleiche.

In der unmittelbaren Nachbarschaft um das Hotel hatten sich alle rasch an sein Aussehen gewöhnt; die Cafébesitzer, sogar das Androidenpersonal. Seine Andersartigkeit störte sie nicht mehr. Es hatte nur ein paar Tage gedauert. Danach war er nur einer der Stammgäste, hatte eben keine Augen, sondern nur blanke glatte Haut vom Haaransatz bis zur Nase. Gibt gute Trinkgelder. An einem Ort wie dem bekommt man alle möglichen Typen zu Gesicht. Und alle sind höchst tolerant und respektieren grundsätzlich die Privatsphäre der anderen. Die Ungestörtheit, das war das wichtigste Gut, das es hier zu kaufen gab. Das und Höflichkeit. Der Sozialkontrakt à la Valparaiso Nuevo. »Guten Morgen, Mister Farkas. Wie nett, dich wieder bei uns zu sehen, Mister Farkas. Ich hoffe, du hast gut geschlafen, Mister Farkas. Eine Tasse Kaffee, Mister Farkas?«

Er genoss die Szene, den riesigen Himmel, das verwirrende Gepränge der Gestirne, die spektakulären Ansichten von Erde und Mond. Für ihn sah die Erde aus wie eine massive zerbeulte blaurote Kiste mit schweren herabhängenden grünen Quasten, und der Mond war für ihn ein zierlicher, luftiger hohler Ball, vollgestopft mit scharfen orangeroten Gewinden, dicht aneinander gepackt wie kleine Federn. Manchmal bestrahlte die Sonne eine benachbarte L-5-Welt gerade besonders günstig und setzte ein Brillantfeuerwerk von reflektiertem und refraktiertem Licht in Gang, das sich in der Schwärze ergoss wie eines Kaskade von Diamanten mit Millionen Facetten, einen Wasserfall glitzernder Edelsteine gleich. Dem schaute er mit großem Vergnügen zu. Es war der angenehmste Urlaub, den er seit langem erlebte.

Aber natürlich sollte er sich hier nicht nur erholen, sondern auch arbeiten. Doch schließlich konnte er schlecht einen Aushang am Schwarzen Brett der Gemeinde anbringen, dass er Informationen über einen geplanten Staatsstreich suche. Er konnte weiter nichts tun, als behutsam herumzuschleichen, zu lauschen, zu beobachten, etwas aus der Luft aufzuschnappen. Und schrittweise würde er Verbindungen aufbauen und herausfinden, was die Firma durch ihn zu erfahren wünschte. Allerdings war es auch denkbar, dass es ihm nicht gelang. Die Sache ließ sich eben nicht erzwingen.

Am vierten Tag, er saß gerade beim Lunch in seinem gewohnten Lokal – einem Gartenrestaurant, in dem nicht weniger als drei Porträtbüsten von El Supremo von den rebenbedeckten Wänden drohten –, als er wahrnahm, dass man sich an einem Tisch weiter drüben am Ende über ihn unterhielt. Jemand, der aussah wie ein Arrangement von scharlachroten Zickzacks und Spiralen mit einem großen leuchtenden ovalen Flecken genau in der Mitte – leuchtend blau und schimmernd, so wie Farkas sich ein Auge vorstellte – sprach mit dem Chef de rang über ihn.

Beide blickten sie zu ihm her. Es gab Gesten, die nicht schwer zu entschlüsseln waren: Das Zickzackoval verlangte etwas, der Oberkellner weigerte sich. Und dann glitt ein Bakschisch von einer Hand in die andere, und Farkas argwöhnte, dass ihm das Vergnügen, ungestört und allein seinen Lunch zu genießen, bald verdorben werden würde.

Und nach einem Augenblick erinnerte er sich wieder, wer die Person war: Einer von den Kurieren, einer namens Kluge, eines von diesen Kindern, die sich am Shuttledock herumtrieben und Neukömmlingen ihre Dienste aufdrängten. Juanito hatte ihm den Burschen gezeigt, irgendwann zu Beginn ihrer Geschäftsverbindung, und gesagt, er sei einer seiner Konkurrenten. Er hatte mit einiger Bewunderung über Kluge geredet, erinnerte sich Farkas nun.

Der Chefober – drei glühende weiße Stäbe, mit dickem roten Draht verbunden – kam heran. Nahm eine devote Haltung an. Räusperte sich.

»Bitte um Vergebung, dass ich störe, Mister Farkas. Aber da wünscht dich jemand zu sprechen, und er sagt, es sei äußerst wichtig …«

»Ich bin bei meinem Lunch«, sagte Farkas.

»Selbstverständlich, Mister Farkas. Tut mir entsetzlich leid, dass ich gestört habe, Mister Farkas.«

Und wie es dem leid tat! Das Schmiergeld durfte er auf jeden Fall einstecken, gleichgültig, ob er Kluge mit Farkas zusammenbrachte oder nicht.

Aber vielleicht ergab sich da doch etwas Brauchbares – ein Einstieg, ein Hinweis. Als die drei weißen Stäbe sich zu entfernen begannen, sagte Farkas: »Moment. Wie ist der Name der Person?«

»Kluge, Sir. Ein Kurier. Ich sagte zu ihm, du brauchtest keine Kuriere, aber er sagt, darum geht es nicht, und er will dir auch nichts verkaufen, aber …«

»Schon gut. Sag ihm, ich werde mit ihm sprechen.«

Kluge kam und verharrte in der Nähe. Das wie ein zentrales Auge wirkende Gebilde in seiner Mitte wurde dunkler, fast blauschwarz, und das Schimmern wich einem matten Glänzen. Farkas interpretierte dies als tiefe Unsicherheit, die zwanghaft kontrolliert wurde. Und er warnte sich selbst, dass er diesen Kluge nicht unterschätzen dürfe. Das war eine seiner wenigen Schwächen, das wusste er, dass er sich Menschen gegenüber hochfahrend betrug, die sich durch sein Aussehen verschreckt fühlten und sich nach dem ersten Schock um Fassung bemühten, um nicht ihren Abscheu zu zeigen. Aber manche davon waren trotzdem gefährlich.

»Ich heiße Kluge, Sir«, begann Kluge. Als Farkas darauf nicht sogleich einging, setzte er hastig hinzu: »Ich stehe direkt hier links von dir.«

»Ja. Ich weiß. Setz dich, Kluge. Ist Kluge dein Vor- oder dein Familienname?«

»Beides irgendwie, Sir.«

»Ach. Sehr ungewöhnlich.« Farkas aß weiter. »Und was willst du nun genau von mir? Ich höre, du bist Kurier. Aber ich brauche keinen.«

»Das ist mir klar, Sir. Dein Kurier ist Juanito.«

»Er war es.«

Eine kurze wortlose Pause, ehe Kluge sagte: »Ja, Sir. Das ist tatsächlich eine von den Sachen, die ich dich gern fragen möchte, wenn du erlaubst.« Das große blaue Zentralauge war nun völlig schwarz, wie der Weltraum ohne Sterne. Die scharlachenen Zacken und Spiralen ballten sich und flogen wie zuckende Peitschenschnüre. Farkas sah: Hier bestand eine echte Hochspannung. Kluge sagte: »Juanito ist ein guter Freund von mir. Wir arbeiten ziemlich viel zusammen. Aber seit einiger Zeit hat ihn keiner mehr hier gesehen, und – ich frage mich …«

Er sprach nicht zu Ende. Farkas ließ ihm Zeit. Doch er sprach nicht weiter.

»Was fragst du dich, Kluge?«, sagte er schließlich. »Ob ich weiß, wo er ist? Tut mir leid, aber ich weiß es nicht. Wie ich schon andeutete, Juanito arbeitet nicht mehr für mich.«

»Und du hast auch keine Ahnung …?«

»Nicht die geringste«, sagte Farkas. »Er stand auch nur ein paar Tage in meinem Dienst, dein Freund Juanito. Sobald ich mich hier eingerichtet hatte, benötigte ich ihn nicht länger und entließ ihn aus dem Vertrag. Danach musste ich geschäftlich zu einem benachbarten Satelliten, und als ich dort meine Sachen erledigt hatte, kehrte ich hierher zurück, um ein paar Tage Urlaub zu machen, aber diesmal brauchte ich keinen Kurier, also habe ich auch keinen engagiert. Ich glaube, ich habe dich im Terminal bei meiner zweiten Einreise gesehen, und vielleicht ist dir da ja aufgefallen, dass ich die Formalitäten ohne Hilfe erledigen konnte.«

»Ja. Ich habe dich da gesehen«, sagte Kluge.

»Na also. Ich nehme an, Juanito macht irgendwo Urlaub. Ich habe ihn sehr gut für seine Dienste bezahlt. Wenn du ihn siehst, richte ihm bitte meinen Dank aus für seine gute Arbeit.«

Farkas lächelte auf jene Art, die eine Unterhaltung auf freundliche Weise beendet. Er senkte das Gesicht über seinen Teller, schnitt ein sauberes dreieckiges Stück Fleisch zurecht und führte es zum Mund. Er goss Wein aus der Karaffe in sein Glas und hob es an die Lippen. Er nahm eine Scheibe aus dem Brotkorb und bedeckte sie sorgfältig dünn mit Butter. Kluge beobachtete die ganze Prozedur schweigend. Farkas lächelte ihn erneut an. Diesmal war es allerdings ein anderes Lächeln, als wollte er sagen: Für einen Blinden sehe ich doch recht gut, nicht wahr? Und Kluges Farbgebung verriet bestürzte Verwirrung.

Kluge sagte: »Er ist aber kein großer Herumreiser, der Juanito. Er bleibt am liebsten hier in Nuevo.«

»Dann, denke ich, ist er sicher hier irgendwo«, sagte Farkas. Er schnitt sich wieder ein dreieckiges Stückchen Fleisch zurecht. Lächelte wieder verabschiedend. »Ich verstehe deine Besorgnis um deinen Freund, aber es tut mir leid, dass ich dir nicht weiterhelfen kann. Und nun, wenn es sonst nichts gibt, das du mir zu sagen hast …«

»Doch, da gäbe es etwas, Sir. Der wirkliche Grund, warum ich heute hierher nach Cajamarca kam, um dich zu treffen. Du warst gestern Abend zum Dinner in Valdivia, Sir?«

Farkas nickte.

»Die Sache ist ein wenig außergewöhnlich. Die Frau, für die ich gerade tätig bin, speiste zufällig gestern Abend im selben Restaurant wie du. Sie kommt von der Erde, aus Kalifornien, und macht eine Rundreise durch die L-5-Welten. Sie hat dich dort gesehen, und später fragte sie mich, ob ich es arrangieren könnte, dass sie sich mit dir trifft.«

»Aus welchen Gründen?«

»Da bin ich ebenso überfragt wie du, Sir. Aber ich glaube, es ist etwas Zwischenmenschliches, wenn du mich verstehst.«

Interessant, dachte Farkas. Eine Frau.

Tatsächlich hatte er gestern Abend in dem Restaurant eine Frau wahrgenommen, eine sehr beeindruckende Frau, eine mächtige, auffallende Frau. Einmal war sie an seinem Tisch vorbeigekommen und hatte eine deutliche körperlich-sinnliche Ausstrahlung gehabt, eine große driftende Wolke hitziger weiblicher Stärke verbreitet – grelle Hitzewellen, violettblau, durchzuckt von schweren azurblauen Streifen – und sie hatte sofort seine Aufmerksamkeit erregt und einen unmittelbaren Hormonfluss in ihm ausgelöst. Und auch er hatte ihre Aufmerksamkeit erregt – das leichte überraschte Erschauern in ihrer Aura, das winzige verdutzte Zurückweichen, als ihr seine Augenlosigkeit bewusst wurde … Und dann war sie weitergegangen.

Es wäre ein erfreulicher Zufall, wenn es sich um die selbe Frau handeln sollte. Farkas fühlte sich schon seit einigen Tagen leidlich geil. Sein sexueller Antrieb folgte einer deutlichen Periodizität, lange Strecken mit eunuchenhaftem Desinteresse, unterstrichen von heftigen Ausbrüchen wilder Sexualbedürfnisse. Er machte sich jetzt klar, dass möglicherweise wieder einer dieser episodenhaften Schübe bevorstand. Wäre Juanito noch da gewesen, der Junge hätte wahrscheinlich etwas für ihn arrangieren können. Aber Juanito war ja nun natürlich nicht mehr da. Was für eine freundliche Schicksalsfügung also, dass dieser Kluge aufgetaucht war.

»Wie heißt sie?«, fragte er.

»Bermudez. Jolanda Bermudez«, antwortete Kluge.

Der Name sagte ihm nichts. Und Kluge um eine Beschreibung zu bitten, hätte auch nichts gebracht.

»Nun«, sagte Farkas. »Ich denke, ich kann vielleicht etwas Zeit für sie erübrigen. Wo finde ich sie?«

»Sie wartet in einem Café, das Santa Margarita heißt, ein Stückchen weiter die Speiche rauf. Ich könnte ihr ausrichten, sie kann in, sagen wir, einer halben Stunde hier runterkommen, wenn du deinen Lunch beendet hast.«

»Ich bin fast fertig«, sagte Farkas. »Lass mich hier bezahlen, dann kannst du mich gleich zu ihr bringen.«

»Und Juanito, Sir, weißt du, wir alle machen uns ziemliche Sorgen um ihn. Wenn du also etwas von ihm hörst …«

»Ich wüsste nicht, wie das der Fall sein könnte«, sagte Farkas. »Aber ich bin sicher, es geht ihm prächtig. Er isst ziemlich wenig, dein Freund Juanito.« Er tippte die Summe für seinen Lunch ein. »Also, gehen wir.«

Das Lokal, in dem Jolanda Bermudez wartete, lag nur fünf Minuten entfernt. Farkas hatte einen undeutlichen Argwohn: Das Ganze war zu hübsch und glatt; dass Kluge ihn so einfach aufgespürt hatte, dass diese Frau sich so nahe und bequem platziert hatte. Es roch irgendwie nach einer geplanten Sache. Dennoch, es wäre nicht das erste Mal, dass irgendeine Frau amouröse Gefühle für die augenlose Rundung seines Gesichts entwickelte, besonders Touristinnen an abgelegenen Orten. Für einen bestimmten Frauentyp stellte das, was Farkas für seine Verunstaltung hielt, einen unzweifelhaften starken Reiz dar. Und außerdem, er war wirklich recht geil im Moment.

Es lohnte sich, der Sache auf den Grund zu gehen, egal, was für ein Restrisiko es da gab. Er war schließlich bewaffnet. Er hatte noch den Spike, den er Juanito abgenommen hatte.

»Da sitzt sie«, sagte Kluge. »Die große Frau am vordersten Tisch.«

»Ich sehe sie«, sagte Farkas.

Ja, es war genau die Frau, die ihm am Abend zuvor aufgefallen war. Die violetten Hitzewellen strahlten immer noch von ihr aus. Für Farkas sah das aus wie drei wellige Kurven aus silbrigem Metall, die von einem blockartigen Kern in der Mitte ausgingen, der eine beträchtliche Größe hatte, aber eine zarte und verletzliche Textur, einer eierpuddinghaften Masse gespannten Fleischs, deren Mitte – durch eine Serie lidloser augenähnlicher scharlachroter Flecken markiert war. Ein üppiger, ein extravaganter Körper. Und heiß, sehr heiß.

Farkas trat an den Tisch. Als sie ihn erblickte, reagierte sie genau wie am Abend zuvor, mit jener zweideutigen Mischung von Erregung und Schrecken, mit der so viele Frauen auf seinen Anblick reagierten: Ihr ganzes Farbenspektrum schoss merklich etliche Ångströmeinheiten nach oben, und ihre Wärmestrahlungsintensität schwankte wild auf und ab und auf-ab-auf. Und danach nur noch nach oben.

»Jolanda Bermudez?«

»Oh! Ja. Hallo! Ich freue mich sehr!« Ein nervöses Kichern, beinahe ein Wiehern. »Bitte, willst du dich nicht setzen, Mister …?«

»Farkas. Victor Farkas«, sagte er und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Die Wärme, die von ihr herüber kam, war stark und drängend jetzt, fast betäubend erotisch aggressiv. Farkas irrte sich in diesem Bereich nur selten. Das war eins von den kleinen Geschenken, die Dr. Wu ihm mitgegeben hatte, die Fähigkeit, die erotische Temperatur einer Frau abzuschätzen. Dennoch, das hier schien einfach zu gut, als dass es echt sein konnte. Farkas sah, wie sie auf ihrem Stuhl herumrutschte wie ein kleines schüchternes Mädchen, das sich von einer Seite zur anderen windet. »Dein Kurier, Kluge, sagte mir, dass du mich treffen wolltest.«

»Ja, ich möchte dich gern kennenlernen. Ich hoffe, du hältst das nicht für scheußlich anmaßend von mir, Mister Farkas, aber ich bin Bildnerin, musst du wissen …«

»Ja?«

»Ich arbeite derzeit gewöhnlich in abstrakten Richtungen. Meistens bioresponsive Stücke – du weißt doch, was Bioresponsive Skulpturen sind, natürlich weißt du das?«

»Ja. Ja, natürlich.« Er hatte keine Ahnung.

»Aber manchmal möchte ich eben gern auf die ursprünglichen Techniken zurückgreifen, die klassische Repräsentativskulptur. Und – ich hoffe, du vergibst mir, Mister Farkas, wenn ich das so grob direkt sage – als ich dich gestern sah, dein Gesicht, dieses höchst ungewöhnliche Gesicht, sagte ich mir, dass ich dieses Gesicht unbedingt modellieren muss. Ich glaubte, ich muss die Grundstruktur dieses Gesichts wenigstens in Modellierton erfassen, vielleicht sogar in Marmor. Ich weiß ja nicht, ob du selbst künstlerische Neigungen hast, Mister Farkas, aber vielleicht verstehst du, wie intensiv so ein Gefühl sein kann – wie beinahe zwanghaft …«

»O doch. Sehr genau, Missis Bermudez.« Farkas strahlte sie begeistert an, neigte sich vor und trank sie mit seinem ganzen Sensorium in sich hinein.

Sie sprudelte weiter, ein Sturzbach von Wörtern schoss aus ihr hervor. Würde er ihr vielleicht Modell sitzen? Er würde? Wie wunderbar, wunderbar! Sie verstand, wie ungewöhnlich dies für ihn sein musste. Doch sein Gesicht war eben etwas so Besonderes. Sie würde keine ruhige Minute mehr haben, bis sie es in ein Kunstwerk umgeformt hatte. Natürlich würde sie dafür Material und Werkzeug brauchen – sie hatte nichts mitgebracht –, aber sie war sicher, sie würde alles irgendwo in Valparaiso Nuevo bekommen können, es würde vielleicht nicht länger als eine, zwei Stunden dauern, und dann könnte er vielleicht zu ihr ins Hotel kommen, auf ihr Zimmer, das als Studio dienen musste – sie würde Messungen vornehmen müssen, die Konturen seines Gesichts sehr sorgfältig studieren müssen …

Der Pegel der von ihr ausstrahlenden Hitze stieg beständig höher, während sie redete. Das Gerede, dass sie ihn modellieren wollte, klang echt – Farkas war bereit zu glauben, dass sie irgendwie künstlerisch herumdilettierte –, doch was sich hier wirklich anbahnte, war eine sexuelle Transaktion. Daran zweifelte er nicht.

»Vielleicht morgen früh – oder jede andere Zeit, wie immer es dir am besten passt, Mister Farkas – heute Abend vielleicht …« Hoffnungsvoll, eifrig, sogar drängend.

Er stellte sich vor, dass er sie modellierte. Er war alles andere als ein Künstler, hatte sich auch nie um solche Sachen gekümmert. Wie würde er es anfangen? Er würde die Linien und Kurven ihres Körpers erfassen müssen, mit den Händen. Die wirkliche Form all dessen durch Berührung entdecken, was er nicht direkt sehen konnte, die geometrischen Abstraktionen, die er wahrnahm, umwandeln in die wirklichen runden Formen von Brüsten, Schenkeln, Gesäß.

»Je eher, desto besser«, sagte er. »Zufällig habe ich heute Nachmittag nichts vor. Vielleicht wäre es dir ja möglich, deine Vorstudien und die Ausmessung meines Gesichts heute bereits vorzunehmen, auch wenn du das später nötige Material, das du brauchst, noch nicht besorgt hast, und danach …«

»O ja! Das wäre großartig, Mister Farkas!«

Sie griff über den Tisch nach seinen Händen und umklammerte sie fest. Farkas hatte nicht erwartet, dass sie den vorgeschützten Vorwand, es handele sich um rein künstlerisches Interesse, ganz so rasch fallen lassen werde; aber trotz all seiner eingefleischten Vorsicht war er jetzt von ihrem ungeduldigen hitzigen sexuellen Drängen gefesselt. Auch er hatte Bedürfnisse. Und es störte ihn schon seit langem nicht mehr, dass gerade seine Absonderlichkeit auf manche Frauen besonders faszinierend wirkte.

Doch dann gab es eine Unterbrechung. Eine männliche Stimme, ein saftiger dröhnender Bass: »Da bist du ja, Jolanda! Ich habe dich schon überall gesucht! Aber ich sehe, du hast einen neuen Freund kennengelernt!«

Farkas wandte sich um. Von links näherte sich eine Gestalt, kleiner als der Durchschnitt, dunkel. Für ihn sah der Mann aus wie eine einzelne Säule aus erstarrtem schimmernden schwarzen Glas, die von einem schmalen Fuß zu einer breiten Spitze aufstieg. Eine makellose Oberfläche, glatt, perfekt. Farkas wusste sofort, dass er den Mann schon einmal getroffen hatte, irgendwo, vor langer Zeit, und er spannte sich sofort an, denn er begriff, dass die ganze Sache inszeniert sein musste.

Oder doch nicht? Er hörte Jolanda Bermudez ärgerlich einatmen. Sie hatte hastig und schuldbewusst die Hände von Farkas zurückgezogen, sobald die Stimme erklungen war. Offensichtlich hatte sie nicht mit dieser Störung gerechnet und war nicht erfreut. Farkas sah ihre Ausstrahlungen wild schwanken, und sie machte kleine scheuchende Bewegungen, als wollte sie dem Mann sagen, er solle sich verziehen.

Die beiden waren anscheinend Reisegefährten. Farkas erinnerte sich, dass am vergangenem Abend noch jemand mit der Frau am Tisch gesessen hatte; aber da hatte er keinen Grund gehabt, auf ihn zu achten. Aber hatte die Frau sich nun aus eigenen Stücken an ihn herangemacht, oder hatten sich die beiden geschickt und planvoll an ihn herangemacht?

»Ich kenne dich«, sagte Farkas ruhig zu dem Mann, wobei er die linke Hand auf den Spike in seiner Tasche legte. Die Waffe war auf Betäubung eingestellt, eine Stufe unterhalb der Lethalstärke. Das sollte genügen, dachte er. »Du bist …« – Farkas suchte tief in seiner Erinnerung – »Israeli?«

»Genau! Richtig! Du bist sehr gut. Meshoram Enron. Wir sind uns vor Jahren in Südamerika begegnet. In Bolivien, glaube ich.«

»Exakt in Caracas.« Die Erinnerung kehrte ihm nun zurück. Der kleine Mann war natürlich ein Spion. »Die Konferenz über Mineralgewinnung aus Meerwasser. – Victor Farkas.«

»Ja, ich weiß. Man vergisst dich nicht so leicht. Arbeitest du noch immer für Kyocera?«

Farkas nickte. »Und du? Ein Nachrichtenmagazin, ja?«

»Ja. Cosmos. Ich arbeite an einem Feature über die L-5-Welten.«

»Und du?« Farkas sah freundlich zu Jolanda hin. »Du hilfst Mister Enron bei seinem Artikel, ja?«

»Oh. Nein. Ich habe überhaupt nichts mit der Presse zu tun. Marty und ich sind uns erst gestern begegnet, im Shuttel von der Erde hier herauf.«

»Miss Bermudez schließt sehr schnell Freundschaft«, erklärte Enron.

»Ja, das habe ich auch bemerkt«, entgegnete Farkas.

Enron lachte. Ein genau abgestuftes kurzes Lachen, entschied Farkas, sehr sorgfältig für derartige Situationen einstudiert.

»Na«, sagte Enron. »Dann will ich euch zwei mal nicht länger stören. Aber wir müssen uns mal zu einem Drink zusammensetzen, was, Farkas? Wie lange gedenkst du denn hier oben zu bleiben?«

»Ich weiß noch nicht recht. Aber noch ein paar Tage, mindestens.«

»Also Urlaub?«

»Ja, Urlaub.«

»Ein wundervoller Ort, was? Was für ein Kontrast zur armen alten traurigen Erde.« Enron wandte sich zum Gehen. »Hör mal, gib doch Jolanda den Namen deines Hotels, ja? Ich rufe dich dann an, und wir können ein Treffen ausmachen.« Und zu Jolanda sagte er mit dem Ton eines Besitzers: »Wir sehen uns dann später, ja?«

Also sind sie doch zusammen unterwegs, dachte Farkas. Die Bildhauerin und der Agent. Das war es wert, darüber nachzudenken. Gar nichts war Zufall gewesen. Offensichtlich hatte Enron ihn gestern Abend in dem Restaurant gesehen. Und diese Begegnung heute hatte er bewusst arrangiert. Hatte die Frau nur als Werkzeug benutzt? Farkas war sich da nicht sicher. Aber sie sind zusammen unterwegs, das ja. Aber arbeiten sie auch zusammen? Und wenn ja, woran?

Enron war fort. Farkas griff wieder nach Jolandas Hand, und sie überließ sie ihm.

»Also«, sagte er. »Wie ist es mit heute Nachmittag – dass du bei mir Maß nimmst, für deine Skulptur, für dieses Porträt, das du angeblich von mir machen willst …?«

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