Kapitel 18

Hitchcock sagte: »Also, Capt'n, ich glaube, wir sollten die alle festsetzen, die ganze verdammte Ladung. Nakata könnte 'n paar von seinen Ersatzkrampen anlegen, und wir schleppen sie dann mit dem Eisberg zurück nach Frisco.«

»He, Moment mal«, sagte Carpenter. »Seid ihr verrückt geworden? Ich bin doch kein Pirat.«

»Wer sagt was von Piraterie? Es ist unsere Pflicht. Wir müssen die festnehmen und abliefern, Mann, so seh' ich das jedenfalls. Das sind Meuterer!«

»Aber ich bin kein Polyp«, entgegnete Carpenter. »Wenn die 'ne verdammte Meuterei veranstalten wollen, schön, sollen sie. Was geht mich das an? Ich habe hier einen Job zu erledigen. Ich will diesen Eisberg nach Osten bewegen. Ohne dazu noch eine ganze Schiffsladung von Irren mitzuschleppen.«

Hitchcock sagte nichts. Sein breites dunkles Gesicht verhärtete sich.

Mit wachsender Verärgerung sagte Carpenter: »Hör mal, komm bloß nicht auf den Gedanken, dass ich sowas wie 'ne Zivilfestnahme vornehmen werde. Rechne nicht 'ne Sekunde lang mit sowas, Hitchcock. Es kommt nicht in Frage, und das weißt du verdammt genau.«

Hitchcock sagte sanft: »Weißt du, sowas haben wir ziemlich ernst genommen, früher. Du verstehst, was ich meine, oder, Mann? Wir drehten damals nicht einfach den Kopf weg.«

»Du kapierst es nicht«, sagte Carpenter, und Hitch warf ihm einen schneidenden verächtlichen Blick zu. »Nein. Jetzt hör doch mal zu, und zwar ganz genau!«, sagte Carpenter scharf. »Dieses Schiff da bringt weiter nichts als Ärger. Die Frau, die dort das Kommando hat, die wünscht ein Mann sich nicht in seiner Nähe. Wenn wir sie übernehmen wollten, müssten wir sie in Ketten legen, und das dürfte nicht ganz so einfach sein, wie du dir das vorstellst. Wir sind hier zu fünft, aber ich weiß nicht, wie viele die sind. Außerdem ist es ein Kyocera-Merck-Kahn da drüben. Und Samurai bezahlt uns nicht dafür, dass wir für die von K-M die Kastanien aus dem Feuer holen.«

Der Vormittag war inzwischen schon weit fortgeschritten. Kovalcik hatte bereits zweimal angefragt, was Carpenter zu unternehmen gedenke. Er hatte sich beide Male verleugnen lassen. Die Sonne war inzwischen fast im Zenit angelangt, und der Himmel strahlte greller als je in glühender Hitze, mit ein paar blässlichen lavendelblauen und grünlichen Wirbeln in großer Höhe, den abgedrifteten Schwaden des Treibhausgiftmülls, der wohl aus der verseuchten Lufthochdruckzone westwärts gewandert sein musste, aus der Luftmasse, die sich konstant über der Mitte der USA festgesetzt hatte. Carpenter bildete sich sogar ein, dass er einen Hauch von Methangas in der Brise wahrnehmen könnte.

Direkt am Schiff lag der Berg, schimmernd wie glattpolierter Marmor, und schwitzte Wasser aus, Stunde um Stunde mehr, je stärker die wachsende Hitze auf ihn einwirkte. Daheim in Frisco schrubbten sie wahrscheinlich schon die leeren Tanks vom Staub frei. Ja, höchste Zeit, dass er loszog. Kovalcik und Kohlberg würden mit ihren Problemen ohne seine Hilfe zurechtkommen müssen. Er fühlte sich nicht recht wohl dabei, aber es gab eine Menge Sachen auf der Erde, bei denen sich Carpenter nicht wohlfühlte, die er aber ebenso wenig in Ordnung zu bringen vermochte.

»Du hast gesagt, sie hat angedroht, diese fünf Männer zu töten«, sagte Caskie. Nervös fuhr sich die kleine Funkoffizierin über ihren kahlgeschorenen Schädel. »Meint sie das ernst?«

Carpenter zuckte die Achseln. »Höchstwahrscheinlich blufft sie. Sie wirkt ziemlich brutal, aber ich glaube nicht, dass sie soweit geht.«

»Das seh ich anders«, sagte Rennett. »Sie will die Kerle loswerden, egal wie, und wenn's auf die härteste Art sein muss. Vielleicht war sie grad dabei, es zu machen, als wir auftauchten.«

»Glaubst du wirklich?«

»Sie kann sie nicht länger an Bord behalten. Sie haben fast keine Sedativa mehr, sagte sie uns. Sobald diese Kerle aufwachen, überlegen die sich doch, wie sie sich befreien können. Also müssen sie weg. Ich vermute, als die Kovalcik an dem Eisberg festmachte, hatte sie vor, sie dort auszusetzen. Bloß, dann kamen wir an, und wir schleppen den Berg ab, und damit war ihr Plan futsch. Also beschließt sie statt dessen, die Männer bei uns abzusetzen. Und wenn wir sie nicht übernehmen, lässt sie sie glatt über Bord gehen, sobald wir fort sind.«

»Obwohl wir Bescheid wissen?«

»Sie wird behaupten, die haben sich losgemacht, sind in ein Beiboot gesprungen und abgehauen, und sie hat keine Ahnung, wohin. Und wer wird was andres aussagen?«

Carpenter sah bedrückt vor sich hin. Ja, dachte er, wer wird was anderes sagen.

»Der Berg schmilzt weiter, während wir hier rumdiskutieren«, sagte Hitchcock. »Was beschließt du, Capt'n? Wir bleiben hier liegen und diskutieren weiter? Oder lichten wir Anker und ziehen los Richtung Frisco?«

»Ich stimme dafür, dass wir sie zu uns an Bord nehmen«, sagte Nakata, der bisher noch kein Wort gesprochen hatte.

»Ich erinnere mich nicht, zu einer Abstimmung aufgerufen zu haben«, sagte Carpenter. »Wir haben keinen Platz für fünf zusätzliche Mann an Bord. Für keinen. Wir sind dermaßen vollgepackt, dass nichts mehr geht. Als säßen wir in einem Ruderboot. Komm schon, Nakata, wo sollten wir fünf Mann zusätzlich hinstecken?« Carpenter merkte, wie in ihm allmählich die Wut hochstieg. Die Geschichte wurde zu verwickelt: Rechtliche Gesichtspunkte, humanitäre, eine Menge ärgerlicher verworrener Kram. Und schlimm daran war, dass es eigentlich überhaupt keine richtungweisenden Vorschriften mehr gab. Wenn er die fünf Männer an Bord nahm, rettete er dann fünf Menschenleben, oder machte er sich zu einem Mitverschwörer bei einer Meuterei, die er pflichtgemäß hätte zu unterdrücken versuchen müssen?

Aber die schlichte Realität bei alledem war, dass es ihm nicht möglich war, in dieser Auseinandersetzung einzugreifen, zu helfen. Er konnte niemand mehr an Bord nehmen, egal wie die Gründe sein mochten.

Und Hitchcock hatte recht, es blieb ihnen keine Zeit, länger herumzudiskutieren. Ihr Berg verlor von Minute zu Minute mehr Wasser. Sogar mit bloßen Augen konnte er von hier aus die zunehmende Erosion erkennen, wie der Eisberg triefte und immer wieder kalbte. Und die Oszillation wuchs, das gewaltige Eisding schaukelte sacht hin und her, je mehr die Wasserlinie an seiner Stabilität nagte. Und später würden die Schwankungen nicht mehr so sacht bleiben. Sie mussten diesen Eisberg mit Spiegelstaub einpudern und abdecken und dann losfahren. San Francisco bezahlte ihn dafür, dass er einen Eisberg zurückbrachte, nicht ein paar Eimer Schlammeis.

»Cap'n!«, rief Rennett. Sie war in den Ausguck über ihnen geklettert und spähte mit der Hand über den Augen übers Wasser. »Die haben ein Boot ausgesetzt, Cap'n.«

»Nicht wahr!«, sagte Carpenter. »Scheiße!«

Er griff nach seinem 6 x 30-Fernglas. Ein Boot, ganz klar, ein Glasfaser-Dinghi: Schien voll zu sein, drei Personen, nein vier, fünf, schien es. Er drückte den Schalter für Biosensorverstärkung, und die Kalmarfiber des Instruments begann zu wirken. Das Bild blühte auf zu großer Schärfe. Fünf Mann, ja. Carpenter erkannte den Ex-Kapitän Kohlberg, der zusammengesunken vorn hockte.

»Scheiße«, sagte er. »Die schickt die doch glatt rüber zu uns. Lädt sie einfach bei uns ab.«

»Vielleicht wenn wir zusammenrücken …«, sagte Nakata und lächelte erwartungsvoll.

»Noch ein Wort von dir, und ich rücke dich zusammen!« Dann blickte Carpenter zu Hitchcock, der mit einer Hand bedächtig seine untere Gesichtshälfte umfasste, die Nase hin und her rieb und sich die dicken weißen Bartstoppeln kratzte. »Bringt ein paar Laser in Position«, befahl Carpenter. »Nur Defensivstärke. Nur für den Fall. Hitchcock und Rennett, ihr fahrt mit dem Kajak los und eskortiert die Männer zu dem Kalmarschiff zurück. Wenn sie nicht bei Bewusstsein sind, schleppt sie hinüber. Wenn sie ansprechbar sind, fordert ihr sie nachdrücklich auf, auf ihr Schiff zurückzukehren, und falls ihnen das nicht gefällt, schießt ihr ein paar Löcher in ihr Boot und kommt sofort wieder hierher zurück. Ist das klar?«

Hitchcock nickte steinern. »Klar, Mann. Ist klar.«


Carpenter beobachtete das Ganze von der Kuppelblase am Achterdeck aus und überlegte, ob er es jetzt vielleicht ebenfalls mit einer Meuterei zu tun bekommen werde. Doch nein. Nein. Hitchcock und Rennett fuhren mit dem Kajak den Berg entlang, bis sie längsseits von dem Dinghi der Calamari Maru waren, dann gab es eine kurze Diskussion, sehr kurz war sie, Hitchcock redete, und Rennett hielt die Laserwaffe ganz beiläufig, aber unmissverständlich in Bereitschaft. Die fünf ausgesetzten Männer sahen aus, als wären sie mehr oder weniger bei Bewusstsein. Sie fuchtelten mit den Armen, zeigten zu ihrem Schiff, hoben verzweifelt die Hände. Und Hitchcock redete einfach weiter, und Rennett streichelte weiter ihre Laserpistole, beiläufig, aber unmissverständlich, und von Minute zu Minute sahen die fünf Männer in dem Beiboot zunehmend niedergeschlagener aus. Dann wurde die Unterredung abgebrochen, und das Kajak kehrte zur Tonopah Maru zurück, und die Männer in dem Beiboot saßen weiter da wie zuvor und überlegten wahrscheinlich, was sie weiter unternehmen sollten.

Als er an Bord zurückkam, sagte Hitchcock: »Das ist 'ne verdammt böse Sache, Mann. Der Kapitän da sagt, die Frau hat ihm glatt das Schiffskommando weggenommen, bloß weil sie einfach wollte, dass sie alle zusätzliche Screen-Dosen kriegten, und er hat sie ihnen nicht gegeben. Er sagte, es ist nicht genug da, dass sie soviel kriegen kann, sagte er, und, Mann, ich komm' mir echt mies vor.«

»Ich auch, Mann«, sagte Carpenter. »Das kannste mir glauben.«

»Ich hab ganz früh mal gelernt«, sagte Hitchcock, »wenn einer dir sagt, ›glaub mir‹, dann musste dich genau davor in achtnehm' und das nicht machen.«

»Blöder Arsch!«, knurrte Carpenter. »Denkst du, ich will sie aussetzen? Aber uns bleibt keine andere Wahl. Sollen sie doch zu ihrem eigenen Schiff zurück. Sie wird sie schon nicht umbringen. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als was sie verlangt, dann kommen sie schon heil davon. Sie kann sie auf irgendeiner Insel aussetzen. Aber wenn die bei uns mitkommen, stecken wir die ganze Zeit bis zurück nach Frisco dick in der Scheiße.« Und noch tiefer drin, sobald wir dort sind, fügte er stumm für sich hinzu.

Hitchcock nickte. »Yeah, aber möglich, dass wir jetzt schon tief in der Scheiße stecken.«

»Was sagst du da?«

»Schau dir den Berg an«, sagte Hitchcock. »Über der Wasserlinie. Der ist ganz dick angefressen.«

Carpenter hob sein Glas und schaltete den Biosensorboost ein. Dann suchte er den Eisberg ab. Dem machte die Hitze sehr zu schaffen.

Es war der bisher heißeste Tag, seit sie in diese Gewässer gelangt waren. Heute war es hier draußen beinahe so schlimm wie auf dem kontinentalen Festland, die Wirbel der Emissionsgase in der Höhe, die unablässig niederprallende Solarenergie, ein Strom verwüstender Infrarotstrahlung, der sich dort oben durch den Dunst ergoss und erbarmungslos auf die Erde niederregnete. Und die Hitze nahm ständig weiter zu. Die Sonne schien von Minute zu Minute größer zu werden. Vom Himmel hörte man widerliches magnetisches Knattern, wie wenn die Atmosphäre in diesem Backofen ionisiert würde.

Und der Eisberg begann tatsächlich zu wackeln und zu schwanken. Carpenter sah deutlich die Oszillationen, wie diese horizontalen Kerben sich mit Wasser füllten, und die See ging nicht mehr so ruhig, während sich die Differentialen aus Luft-Meeres-Temperaturen immer mehr aufbauten und widerstreitende Strömungen sich einschleusten.

»Verdammter Mist!«, sagte Carpenter. »Damit ist die Sache entschieden. Wir müssen sofort los!«

Es gab aber noch eine Menge zu tun. Pro forma funkte Caskie zu dem Kalmarschiff hinüber und warnte die Besatzung davor, dass sie jetzt anfangen würden, Spiegelstaub zu sprühen. Es erfolgte keine Antwort. Vielleicht war es denen ja egal, oder sie wussten nicht, was tun. Das Schiff ankerte noch immer vor der Eiszunge, und es sah so aus, als fänden zwischen den Männern im Beiboot und den Frauen an Bord Verhandlungen statt.

Carpenter erteilte den Befehl, und die Spiegelstaubpumpen setzten sich in Gang und schossen glitzernde Wolken von Metallpulver auf die exponierten Teile des Eisbergs – und höchstwahrscheinlich auch über das ganze Kalmarschiff und das Boot. Die Arbeit dauerte eine halbe Stunde. Die See wurde zunehmend rauer, und der Berg tanzte recht gemein und torkelig. Doch Carpenter wusste, dass darunter, unsichtbar, eine gewaltige Eisbasis lag – genug, so hoffte er, den Berg stabil zu halten, bis sie aufbrechen konnten.

»Bringen wir jetzt die Schürze an«, sagte er.

Eine verzwickte Sache das, an der Wasserlinie des Schiffs versprühten Düsen einen Thermoplastikschaum, der den Eisberg schützen sollte, wo er der Erosion durch die Wellen am stärksten ausgesetzt war. Aber der wirklich schwere Teil kam, wenn sie die Krampentaue verlängern mussten, mit denen Eisberg und Schiff verbunden waren, damit sie um den Berg herummanövrieren konnten. Aber Nakata war Spitze darin. Sie lichteten die Anker und fuhren um die abgelegene Flanke des Bergs herum. Der Bestäubte Eisberg war sinnbetörend schön, ein schimmernder Gletscher aus weißem Licht.

»Das Wackeln da gefällt mir aber gar nicht«, sagte Hitchcock immer wieder.

»Das spielt keine Rolle mehr, wenn wir erst mal unterwegs sind«, erwiderte Carpenter.

Die Hitze war wie ein Hammer geworden, der auf die dunkle kühle Wasserfläche einschlug, sie mischte die Thermalschichten durcheinander, peitschte die Strömungen hoch und wirbelte alles wie in einer Zentrifuge durcheinander. Sie hatten wohl ein bisschen zu lange gewartet, ehe sie sich an die Arbeit machten. Der Berg war stark angefressen, neigte sich schwer luv, schwankte, rollte tief zur Seite wie eine von diesen japanischen Stehaufpuppen und schwankte dann wieder zurück. Gotte mochte wissen, was das Kalmarschiff drüben von der See auszustehen hatte, aber von dieser Seite aus konnte Carpenter es nicht mehr sehen. Er kreiste weiter, bis die gesamte Länge der Krampentaue ausgeschöpft war, dann fuhren sie wieder im Bogen die gleiche Strecke zurück.

Als sie wieder auf der Leeseite waren, sah er, was für eine See das Kalmarschiff abgekriegt hatte. Das Schiff war abgesoffen. Die Eiszunge, an der es geankert hatte, war aus der See hochgestiegen und hatte es getroffen wie der Fußtritt eines Riesen.

»Jesus Christus«, brummte Hitchcock neben ihm. »Das musste gesehen haben! Die Arschlöcher sind da einfach hocken geblieben!«

Die Calamari Maru holte See über wie verrückt und war dicht vor dem Sinken. Das Meer wirbelte von einer Armada von gerade freigekommenen Kalmaren, die sich hastig in alle Richtungen verstreuten und mit Höchstgeschwindigkeit fortschwammen. Im Schatten des Eisbergs tanzten drei Dinghis in den Wellen.

»Das musste gesehen haben!«, sagte Hitchcock wieder.

»Maschinen an!«, befahl Carpenter. »Verschwinden wir verdammt schnell von hier.«

Hitchcock sah ihn ungläubig aus zusammengekniffenen Augen an.

»Meinst du das wirklich, Cap'n? Im Ernst?«

»Ja, verdammt noch mal!«

»Scheiße«, sagte Hitchcock. »Was für eine verdammte, beschissene, lausige Welt.«

»Mach schon! Lass die Maschinen anlaufen!«

»Du willst also tatsächlich drei vollbesetzte Boote von 'nem sinkenden Schiff da drüben einfach im Wasser sitzen lassen?«

»Genau. Du hast es geschnallt.« Carpenter hatte das Gefühl, als steckte ihm der Kopf voll Wolle. Denk nicht nach, befahl er sich. Über gar nichts. Mach einfach weiter! »Und jetzt lass die Maschinen an, ja?«

»Das ist zuviel«, sagte Hitchcock leise und bewegte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen. »Das geht verdammt zu weit.«

Er schnaufte wie ein angeschossener Büffel und machte zwei, drei torkelnde Schritte auf Carpenter zu. Die Arme baumelten lose, die Hände waren halbgeschlossen. Die Augen waren zu Schlitzen verengt, und das Gesicht wirkte merkwürdig gedunsen. Er baute sich über Carpenter auf, ein dunkler massiger Brocken von einem Mann, und er keuchte und knurrte vor sich hin. Er wirkte halb so groß wie der ganze Eisberg dort drüben.

O Scheiße, dachte Carpenter. Jetzt geht's los. Jetzt hab ich meine ganz eigene Meuterei auf dem Hals.

Hitchcock brummte und kollerte weiter und schloss die Hände zu Fäusten. Verärgerung, vermischt mit Furcht schoss durch Carpenter, und er riss den Arm hoch, ohne zu denken, schlug heftig zu und traf den älteren Mann schnell und hart auf den Mund, so dass dessen Kopf nach hinten gerissen wurde und er gegen die Reling taumelte. Er prallte zurück. Sekundenlang sah es so aus, als würde er zu Boden gehen, doch es gelang ihm, sich auf den Füßen zu halten. Eine Art Schluchzen kam aus seiner Kehle, nicht eigentlich ein Schluchzen, eher schon ein Grunzen. Über die weißen Bartstoppeln am Kinn breitete sich eine hellrote Blutspur.

Hitchcock war momentan benommen. Dann wurden die Augen wieder scharf, und er blickte Carpenter erstaunt an.

»Ich hatte nicht vor, dich zu schlagen, Cap'n«, sagte Hitchcock und zwinkerte heftig mit den Augenlidern. Die Stimme hatte einen weichen, gedämpften Klang. »Keiner schlägt je seinen Kapitän, nein, das gibt's nicht. Nie. Niemals. Das weißte doch, Cap'n.«

»Ich hatte angeordnet, dass die Maschinen anlaufen sollen.«

»Du hast mich geschlagen, Cap'n. Weswegen, verdammt, hast du mich geschlagen?«

»Du warst grad dabei, auf mich loszugehen, oder?«

Die schimmernden blutunterlaufenen Augen Hitchcocks wirkten in dem screengedunkelten Gesicht riesenhaft. »Ach? Du hast gedacht, ich würde dich angreifen? Ach, Cap'n! O Jesus, Cap'n, Jesus!« Er schüttelte den Kopf und wischte sich das Blut vom Mund. Auch Carpenter sah, dass er selbst blutete, an dem Knöchel, mit dem er gegen die Zähne geprallt war. Und Hitchcock starrte ihn nur weiter an, so wie einer vielleicht einen Tyrannosaurus anstarrt, wenn der plötzlich aus irgendeinem Urwald auftauchte. Dann wurde der Ausdruck der Verwirrung weich, verwandelte sich, wurde irgendwie traurig vielleicht. Oder war es mitleidig? Mitleid – das wäre womöglich noch schlimmer, dachte Carpenter. Verdammt viel schlimmer.

»Cap'n …« begann Hitchcock mit einer heiseren belegten Stimme.

»Sag's nicht! Zieh nur ab und wirf die Maschinen an!«

»Yeah«, antwortete der Alte. »Yeah, Mann.«

Und er rieb sich die Lippe und schlurfte davon.

»Caskie kriegt einen SOS-Notruf von einem Automaticsender rein«, rief Rennett von irgendwo am Vordeck herüber.

»Nix!«, brüllte Carpenter wütend zurück. »Können wir nicht machen!«

»Was?«

»Wir haben, verdammt noch mal, nicht genug Platz an Bord für die Leute«, sagte er mit einer Stimme so scharf wie ein Eiszapfen. »Kommt nicht in Frage. Nix! Auf keinen Fall!«

Er setzte sein Fernglas wieder an und betrachtete die heranpullenden Dinghis. Sie tanzten heftig und schwer übers turbulente Wasser und hatten große Mühe dabei. Er schaute rasch wieder weg, ehe er irgendwelche Gesichter erkennen konnte. Sein Eisberg leuchtete wie Feuer und schwankte immer wieder. Carpenter fielen die heißen Stürme ein, die über den Kontinent im Osten von ihnen hinwegfegten, die rings um den ganzen Bauch der Erde fegten, die regenlosen Trockenwinde, die unablässig jedes bisschen Feuchtigkeit aufsaugten, das es noch irgendwo gab. Es war irgendwie fast ein Jammer, dass man wieder dorthin zurückkehren musste. Wie die Rückkehr in die Hölle nach einem kurzen Urlaubstrip auf dem Meer, so kam ihm das jetzt vor. Aber dorthin würden sie jetzt eben steuern, egal ob das angenehm war, oder nicht. Und genauso würde er diese Leute da drüben ihrem Schicksal auf dem Meer überlassen müssen.

Manchmal war es eben nötig, lausige gemeine Entscheidungen zu treffen, bloß um den Umständen gerecht zu werden. Mehr gab es da nicht zu bedenken, dachte Carpenter. Das Leben ist hart, und manchmal eben von Grund auf übel und zum Kotzen. Und manchmal musst du eben eine beschissene Entscheidungen treffen.

Er wandte sich um. Sie starrten ihn alle an, Nakata, Rennett, Caskie. Alle außer Hitchcock, der auf der Brücke die Maschinendaten eingab.

»Das Ganze ist einfach nicht passiert«, sagte er scharf zu ihnen. Er fühlte sich ganz stumpf. Er versuchte, das Geschehene aus seinen Gedanken zu vertreiben. »Nichts ist passiert, gar nichts. Wir haben nie irgendwen sonst hier draußen gesehen. Niemand. Habt ihr das kapiert? Das ist nie passiert!«

Sie nickten, einer nach dem anderen.

Es erfolgte ein leises Zittern unten im Schiffsrumpf, als die winzige Sonne im Maschinenraum, die kleine Fusionskugel, zu voller Kraft erwachte. Stöhnend begann die Maschine auf vollen Touren zu arbeiten. Das Schiff begann sich in Fahrt zu setzen, hinaus aus der dunklen Wasserzone, auf die blaue See zu, die geradeaus vor ihnen lag. Sie fuhren los, schleppten sich, so schnell sie konnten, ostwärts, um dem Schmelzen möglichst zuvorzukommen. Inzwischen war es Nachmittag. Achtern strahlte die andere Sonne, die echte, in wilder Glut vom Himmel, während sie gen Westen zog. Es war gut, dass die Sonne in die eine Richtung verschwand, während sie in die andere fuhren.

Carpenter warf keinen Blick zurück. Wozu auch? Damit man sich Gewissensbisse machen kann, wegen einer Sache, die man nicht ändern konnte?

Jetzt ging es Richtung Heimat.

Zurück in das Wunderland von Nordamerika im Treibhauszeitalter.

Diese verdammte beschissene Welt, wie Hitchcock meinte. Genau. Und ihr Eisberg da, dieser überdimensionale Eiswürfel, für wie viele Tage würde der den Wasserbedarf San Franciscos decken? Zehn? Fünfzehn? Und dann, was? Fahren wir los und holen uns einen neuen? Und jeder Berg bedeutete Wasser, das andere Leute nicht kriegten.

Die Platzwunde an seinem Fingerknöchel brannte von dem Schlag, den er Hitchcock verpasst hatte, und er rieb sie beiläufig, als wäre es die Hand eines Fremden. Nach Osten denken!, befahl er sich. Du schleppst zweitausend Kilotonnen vor Millionen Jahren gefrorenen Wassers für das durstige San Francisco. Denk positiv! Denk an deine Gratifikation. An deine kommende Beförderung. Es lohnt nicht zurückzuschauen. Wenn du nach hinten schaust, bekommst du davon bloß Augenschmerzen.

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