Kapitel 14

Enron sagte: »Da ist ein Restaurant. Da drüben. Komm, gehen wir hin und essen etwas.«

»Restaurant?«, sagte Jolanda. »Ich sehe nirgendwo ein Restaurant, Marty.«

»Dort. Dort!« Enron hob ihren Arm, als wäre sie eine hölzerne Gelenkpuppe, und deutete damit in die Gegend. »Das kleine Haus da mit den Tischen davor, unter den grün-roten Markisen. Hier oben sind die Restaurants alle so im Freien. Weil man hier nämlich die Luft atmen kann, verstehst du?«

»Oh«, sagte sie verträumt. »Ooooh, ja. Ich verstehe.«

Tat sie das wirklich? Seit acht Stunden waren sie nun schon in Valparaiso Nuevo, aber sie lief noch immer herum wie eine Schlafwandlerin. Sicher, es war ihr erster Aufenthalt in einem Habitat, aber trotzdem – wirklich …

Bei der Ankunft im Terminal, als diese ganzen aufdringlichen smarten Kids sich an sie heranmachten und ihn dazu überreden wollten, sie als Touristenführer anzuheuern, wirkte sie in dem ganzen Trubel benommen und verwirrt und stand hilflos dabei, während Enron sich mit ihnen herumschlug. »Wer sind die denn?«, fragte sie mit einer Stimme wie ein verschrecktes Kind, als der hartnäckige Schwarm sie umringte. Und sie hatte sichtlich auch kaum zugehört, als er ihr erklärte: »Verdammte Blutsauger, das sind sie. Parasiten, die dir einen Packen Geld abknöpfen wollen dafür, dass sie dir angeblich durch den Zoll helfen und dir ein Hotelzimmer verschaffen, was jeder einigermaßen intelligente Mensch durchaus selbst erledigen kann.« Aber schließlich heuerte er doch einen an, einen massigen blonden Stöpsel, der seinen Namen als Kluge angab. Zum Teil weil ihm der Verdacht kam, dass die Dienstleistungen dieser Kinder an einem dermaßen korrupten Ort wie hier wahrscheinlich notwendig sein würden, aber auch weil er jemanden brauchte, der vielleicht nützliche Verbindungen für ihn herstellen konnte, wenn er sich der bevorstehenden Aufgabe zuwandte. Spezifisch hieß das, Jolandas konspirativen Freund Davidov aus Los Angeles in dieser kleinen Kugelwelt ausfindig zu machen, beziehungsweise dabei zu helfen, vor allem, weil es zwangsläufig nicht so sehr leicht sein konnte, hier Leute zu finden, die keinen gesteigerten Wert darauf legten, dass man sie fand.

Zum Teil hatte Enron dies auch Jolanda zu erklären versucht, aber nur wenig, und sie nickte, aber irgendwie dumpf und schläfrig. Kein Fünkchen von Begreifen zeigte sich in ihren Augen.

Vorläufig schien Valparaiso Nuevo wie eine narkotisierende Droge auf Jolanda zu wirken. Man hätte erwarten dürfen, dass sie am ersten Tag ihres allerersten Trips zu den L-5-Welten nach so vielen Jahren voller Sehnsuchtsträume hypermanisch reagieren müsste, dass sie mit großen Augen herumlaufen würde und alles auf einmal in sich aufzunehmen versuchen würde. Doch nein, der Überraschungsschock hatte genau die gegenteilige Wirkung. Trotz ihres starken Hyperdex-Konsums – Enron hatte sie das Stimulans mehrmals nehmen sehen, und sie lutschte es wie Bonbons – wirkte sie stumpf, wie betäubt und schleppte träge und plump die Füße hinter sich drein, ganz die dumpfhirnige faule Kuh, die sie hinter dem ganzen Geplapper von der Bedeutung von Kunst und Kultur wirklich war, dem Geschwätz von der Notwendigkeit, den Planeten zu schützen, und dem ganzen übrigen Quark ihrer kalifornischen Eselspolitik.

Vielleicht kam das von der frischen Luft, dachte Enron, und dem relativ hohen Sauerstoffanteil und dem völligen Fehlen von Methan und toxischen Verunreinigungen. Sie wurde nicht fertig mit dieser ganzen sauberen süßen Luft. Vielleicht setzte ihr Gehirn aus, wenn es nicht den gewohnten richtigen CO2-Fix bekam. Oder aber es war die geringere Schwerkraft. Die allerdings hätte sie beschwipst-beschwingt machen sollen, statt dessen verwandelte sie das in einen Zombie. Drunten im Terminal an der Nabe waren sie fast über den Boden geschwebt, so gering war dort die Schwerkraft, und beinahe vom ersten Moment nach der Landung an war Jolanda mit diesem glasigen Blick und dem Hirntotenausdruck auf dem Gesicht herumgeschlichen.

Und nun hatten sie den ganzen aberwitzigen bürokratischen Mist beim Zoll und der Einreisebehörde hinter sich gebracht, waren in ein Hotel gezogen, und es war Dinnerzeit und sie befanden sich in einer Stadt namens Valdivia, etwas weiter als auf halber Strecke zum Rand in der F-Speiche. Enron schätzte die Schwerkraft auf etwa sechs Ge; auf jeden Fall aber der Erdnorm etwas näher als im Terminal. Aber bisher zeigte das noch keine Wirkung. Er hoffte, Jolanda werde später im Hotelzimmer nach dem Essen ein wenig lebendiger sein.

Sie betraten den Patio des Restaurants. Ein öliger Oberkellner dienerte sie schmalzig an einen Tisch. Aus dem Tischtuch erblühte auf Visoren das Menü.

»Was willst du trinken?«, fragte er.

»Was?« Sie sah ihn verwirrt blinzelnd an.

»Trinken, etwas zu trinken! Wach auf, Jolanda!«

»Oh. Trinken? Tut mir leid, Marty. Es muss der Jetlag sein.«

»Beim Shuttleflug gibt es keinen Jetlag. Wir sind direkt hier raufgeflogen. Wumm! Schneller, als es zwischen L. A. und Tel Aviv geht.«

»Aber irgendwas ist es. Ich fühle mich so komisch.«

»Gefällt es dir hier nicht?«

»Ach nein, das ist es nicht. Es ist wundervoll hier. Ich habe ja gewusst, dass die Raumwelten wunderschön sind, sagenhaft, aber ich habe mir nie so recht ausgemalt – die Sterne, der Mond – die ganze Pracht, diese ganzen schimmernden gläsernen Wände, die grandiose Aussicht überall – und diese Luft – die ist so frisch, dass ich mir wie betrunken davon vorkomme, Marty. Ich habe noch nie eine Luft wie die hier geatmet.« Sie sah ihn um Verzeihung bittend mondkalbhaft an. »Ich bin dermaßen aufgeregt, dass ich ganz benommen bin, glaube ich. Mir kommt das alles wie ein Traum vor. Ach, Marty, ich bin so hingerissen, dass du mich hierher mitgenommen hast. – Bestell mir einen Whiskey-sour, bitte.«

Gut. Wenigstens zeigte sie wieder ein paar Anzeichen von Leben.

Enron brachte ein Lächeln zustande. Er drückte die Bestellung in den Tischcomputer, dann langte er zu ihr hinüber, ergriff ihre Hand, streichelte sie zärtlich, drückte sie. Zwinkerte ihr zu. Heute Nacht im Hotelzimmer, dachte er, werde ich jeden Quadratmillimeter deines gigantischen wundervollen Riesenkörpers abschlecken, ich werde dich zur sexuellen Raserei treiben, ich will dich auf sechzig verschiedene Arten von hier bis in die Ewigkeit ficken. Und dann, am Morgen danach, werden wir uns auf die Suche nach deinen Freunden machen, deinen gerissenen Kumpeln aus Los Angeles, die sich angeblich hier irgendwo aufhalten und planen, den alten Generalissimo in den Materieumwandler zu stecken und seine Kleinwelt hier zu übernehmen. Und wenn wir sie gefunden haben, deinen Davidov und die anderen …

Während er an Jolanda herumfummelte, ließ er den Blick über ihre Schulter hinweg schweifen und überprüfte beinahe automatisch neugierig die anderen Tische. Und plötzlich entdeckte er dabei jemanden, dessen Anwesenheit hier ihn aufs höchste erregte.

Ja, da schau mal, wen wir hier haben! Unseren augenlosen ungarischen Kyoceraner!

Seine Finger verkrampften sich. Jolanda stieß einen kleinen überraschten Schmerzensschrei aus und zog die Hand fort. Sie sah ihn bestürzt an.

»Verzeih«, sagte er.

»Was ist denn los? Stimmt was nicht?«

»Nein. Eigentlich ist es nichts. Bloß was sehr Interessantes. Dreh dich nicht um, Jolanda. Steh einfach auf und geh durch den Patio. Du suchst die Toilette oder so. Frag einen Kellner, wo das ist. Und dabei schau dich genau, aber unmerklich um. Der Mann drei Tische hinter uns, er schaut in meine Richtung. Du wirst sofort wissen, wen ich meine.«

Sie tat genau wie befohlen. Enron folgte ihr mit den Augen, beobachtete die langsamen wogenden Bewegungen ihrer Hüften, der schwellenden saftigen Hinterbacken. Als sie an dem Ungarn vorbei kam, reagierte sie nur flüchtig, mit etwas hastigeren Schritten und einem kurzen Zurückzucken der Ellbogen, als hätte ein leichter elektrischer Strom sie gestreift. Ein weniger scharfer Beobachter, als Enron es war, hätte die Reaktion wahrscheinlich überhaupt nicht bemerkt. Sie ging sofort weiter, ihr loses Kleid waberte um sie herum, und sie verschwand auf der anderen Seite des Patio.

Auf dem Rückweg riskierte sie einen weiteren flüchtigen Blick auf das Gesicht des Ungarn. Sie war jetzt hellwach, die Augen klar, der Atem ging heftig, die Nasenlöcher blähten sich. Sie war aufgeregt, ja.

»Faszinierend«, sagte sie und setzte sich wieder. »So ein Gesicht habe ich noch nie gesehen.«

»Ich schon.«

»Du kennst den Mann?«

»Ich hatte mal Kontakt zu ihm. Vor langer Zeit.«

»Ein bestürzendes Gesicht. Ich möchte es gern modellieren. In Ton. Die Hände darübergleiten lassen, die Knochenstruktur darunter herausspüren. Wer ist der Mann, Marty?«

»Ein Mann namens Farkas. George Farkas, Laszlo, Alexander Farkas – ich habe den Vornamen vergessen. Ein Ungar. Die haben so etwa sechs männliche Vornamen in ihrer Sprache, diese Ungarn. Wenn sie nicht György heißen, dann bestimmt Laszlo, Gabor oder Alexander. Oder Zoltan. Er arbeitet für Kyocera-Merck. Nein, Victor, so heißt er. Victor Farkas. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt.«

»Woher kennst du ihn?«

»Ich bin ihm einmal begegnet. Das war in … – ich weiß es nicht mehr, in Bolivien oder Venezuela, jedenfalls war es da unglaublich heiß und überall Dschungel und Lianen und Palmen, und wenn du fünf Minuten lang still da stehen geblieben wärst, hättest du grünes Moos aus deiner Haut wachsen sehen können. Er arbeitet in meiner Sparte, dieser Farkas.«

»Journalist?«

»Nein, Spion. Bei Kyocera-Merck nennen sie das ›Expediteur‹. Bei meinen Auftraggebern heißt das ›Journalist‹. Wir machen zwar das gleiche, Farkas und ich, aber er eben für die Firma Kyocera-Merck, und ich für die israelische Regierung.«

»Ich habe gedacht, du schreibst für Cosmos.«

Wieder griff er nach ihrer Hand. Ihre Titten sind grandios, dachte er, aber sie ist wirklich geistig unterbelichtet. Und vielleicht besteht da ja ein Zusammenhang, und sie ist nicht bloß metaphorisch eine dumme Kuh, sondern eine ganz echte richtige Kuh. Man hat sie mit Rindviehgenen retrofittiert, damit sie diese grandiosen Euter kriegte.

Ruhig sagte Enron: »Ich dachte, das habe ich dir alles bereits gesagt, und ich glaubte, du hast es verstanden. Die Arbeit für die Zeitschrift ist mein Coverjob, Jolanda. Aber ich bin wirklich und ehrlich ein Spion. Ich spioniere, wenn ich vorgebe, journalistisch zu arbeiten. Ist dir das jetzt klar? Würdest du es mir bitte glauben? Ich hatte gedacht, das war dir klar nach der Nacht in deinem Haus.«

»Ach, am nächsten Morgen war ich sicher, du hast nur einen Witz gemacht.«

»Aber ich bin ein Agent. Ehrlich! Als du mir von deinen Freunden in Los Angeles erzählt hast, war der Grund, weshalb ich dich bat, mit mir hier heraufzukommen und mich mit ihnen bekanntzumachen, dass ich da eine Möglichkeit sah, etwas Nützliches für mein Land zu tun, nicht für dieses Magazin. Ich arbeite für den Staat Israel. Fällt dir das so schwer zu glauben? Als ich damals nachts von dir fortging, rief ich über Scrambler eine Geheimnummer in Jerusalem an, ich benutzte Codenamen und Codewörter, ich erklärte dort, in unserem Agentenjargon, wohin ich reisen wollte, und warum, und über Spezialverbindungen wurden die Tickets für diesen Flug besorgt. Und die Visa für uns beide. Hast du denn gedacht, dass es immer so glatt geht, ein Einreisevisum zu bekommen, für einen Ort wie den hier? Aber ich habe das über Nacht geschafft, weil meine Regierung die richtigen Verbindungen für mich spielen ließ. Ich sage dir das alles, weil es mich schmerzen würde, wenn du dich irgendwelchen Illusionen über mich hingegeben hättest. Ich wirke vielleicht manchmal wie ein Bastard, Jolanda, aber ich bin ein anständiger Mensch.«

»Neulich, als ich nachts zu dir gesagt habe, dass ich noch nie mit einem Spion geschlafen habe, sagtest du, dass du einer bist. Einfach so, hast du das gesagt. Zuerst habe ich dir geglaubt, aber dann wieder nicht. Und jetzt sagst du sowas schon wieder.«

»Wenn es dir lieber ist zu glauben, dass ich für eine Zeitschrift schreibe, dann glaub das. Glaub einfach, was dich am glücklichsten macht.«

Enron sah, dass sie mit dem, was bei ihr das Gehirn ersetzte, die Sache endlos wiederkäuen würde. Schön, das passte ihm ganz gut. Sollte man sie jemals befragen, sie würde ihre Inquisitoren mit einer Flut von vagen, nutzlosen Informationen überschütten. Manchmal war es eben am besten, die Wahrheit über sich zu sagen, um einen verwirrenden Nebelschleier über das zu breiten, was man wirklich tat.

Sie fragte: »Der Mann ohne Augen, wie kann der ein Spion sein, wenn er nichts sieht?«

»Ach, er kann schon sehen. Er macht es nur anders als wir.«

»Du willst sagen, er macht das mit Psi?«

»Etwas in der Art, ja.«

»Ist er damit geboren?«

»Ja und nein«, erwiderte Enron.

»Ich verstehe nicht«, sagte Jolanda. »Was heißt das?«

»Als er noch im Mutterleib war, wurde eine Spleiß-Operation bei ihm gemacht. Ich weiß nicht, wer das tat und warum. Als wir uns trafen, erschien es mir nicht angemessen, ihn danach zu fragen.« Enron erlaubte sich einen raschen Blick zu Farkas hinüber, der mit seinem Essen beschäftigt war. Er wirkte gelassen und entspannt, ganz auf seine Mahlzeit konzentriert. Falls er Enrons Anwesenheit bemerkt hatte, so ließ er sich das nicht anmerken. Enron sagte: »Das ist ein sehr schwieriger Mensch, hochintelligent und sehr gefährlich. Ich frage mich, was er hier vorhat. – Du sagst, du findest sein Gesicht faszinierend?«

»Sehr.«

»Und du willst es modellieren? Den Knochenbau mit den Händen abtasten?«

»Ja. Das möchte ich wirklich sehr gern.«

»Ah. Ja, dann wollen wir mal sehen, wie wir das möglich machen könnten, ja?«

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