Kapitel 3

»Der Name des Mannes lautet Wu Fang-shui«, sagte Juanito. »Er müsste an die fünfundsiebzig Jahre alt sein. Chinese. Und das ist auch schon fast alles, was ich weiß, außer dass ziemlich viel Geld drin ist, wenn man ihn findet. Und in Valparaiso Nuevo kann es ja nicht dermaßen viele Chinesen geben, oder?«

»Er ist bestimmt kein Chinese mehr«, sagte Kluge.

Und Delilah: »Er muss noch nicht mal mehr ein Mann sein.«

»Daran hab ich auch schon gedacht«, sagte Juanito. »Und trotzdem, es sollte möglich sein, ihn aufzuspüren.«

»Und an wen hast du dabei gedacht?«, fragte Kluge.

Juanito sah ihn kühl und fest an. Eine solche Frage von Kluge, der ein ausgekochter Profi darin war und diese Tatsache den anderen beständig hinreiben musste, war im Grunde ein höhnischer Zweifel an Juanitos Fähigkeiten als Kurier.

»Ich mach es selber«, sagte er.

»Du?« Ein flüchtiges, kaum sichtbares Lächeln.

»Ja, ich selber. Verdammt, wieso denn nicht?«

»Aber du hast doch noch nie gejagt, oder?«

»Es gibt eben immer ein erstes Mal.« Juanito starrte ihn weiter fest an.

Er glaubte zu wissen, weshalb Kluge ihn stichelte. Ein gewisser Anteil der in Valparaiso Nuevo abgewickelten Geschäfte bestand darin, Leute aufzuspüren, die sich hier versteckten, und sie an ihre Verfolger zu verkaufen, doch bislang hatte Juanito die Finger von diesem Geschäftsbereich gelassen. Er verdiente sein Geld damit, den Dinkos dabei zu helfen, in Valparaiso unterzutauchen, nicht durch ihre Auslieferung an Verfolger. Ein Grund dafür war, dass bislang noch niemand ihm einen wirklich profitablen Suchauftrag angeboten hatte; aber ein weiterer Grund war, dass er selbst Sohn eines ehemaligen Flüchtlings war. Jemand war angeworben und bezahlt worden, seinen Vater aufzuspüren. Vor sieben Jahren war das. Und so konnte dann sein Vater ermordet werden. Juanito zog es vor, sich auf der Asyl bietenden Seite seines Gewerbes zu betätigen.

Aber dennoch war er natürlich ebenfalls Profi. Sein Geschäft waren Serviceleistungen, und damit Punkt. Wenn es ihm nicht gelang, für den sonderbaren augenlosen Dinko, der ihn engagiert hatte, diesen geflüchteten Genklempner aufzuspüren, dann würde es eben ein anderer tun. Und Farkas – oder wie er sonst heißen mochte – war sein Klient. Juanito vertrat die Ansicht, dass man es sich schuldig sei, als Profi die Geschäfte auf professionelle Art zu erledigen.

»Falls ich in Schwierigkeiten kommen sollte«, sagte er, »werde ich möglicherweise Sublieferanten engagieren. Aber inzwischen, habe ich mir gedacht, ich lass es euch mal wissen, falls ihr zufällig über eine Spur stolpert. Ich zahle eine Belohnung. Und ihr wisst, ich bin nicht knauserig.«

»Wu Fang-shui«, sagte Kluge. »Chinese. Alt. Will sehen, was ich tun kann.«

»Ich auch«, sagte Delilah.

»Verdammt«, fuhr Juanito auf. »Wie viele Menschen leben denn überhaupt hier in Valparaiso? Vielleicht neunhunderttausend? Mir fallen spontan fünfzig ein, die unmöglich der Mann sein können, den ich suche. Das grenzt die Sache doch schon etwas ein. Ich brauche also nur immer weiter einzugrenzen, stimmt's? Oder?«


Aber tatsächlich war Juanito nicht sehr optimistisch. Klar, er würde sein Bestes tun, aber das valparaisanische System tendierte eindeutig und mit Überhang dahin, den Leuten, die sich verstecken wollten, dabei zu helfen, unentdeckt zu bleiben.

Das begriff sogar Farkas. »Eure Gesetze zum Schutz der Privatsphäre sind hier ziemlich strikt, was?«

Juanito lächelte. »Es sind so ziemlich die einzigen Gesetze, die es hier gibt, weißt du. Die heilige Unantastbarkeit des Asyls. Das tiefe Mitgefühl unseres El Supremo hat Valparaiso Nuevo zu einem Ort der sicheren Zuflucht für Schutzsuchende jeder Art aus allen Welten verwandelt, sei es aus anderen künstlichen Planeten oder von der Erde selbst. Und wir sollen der Güte von El Supremo nicht zuwiderhandeln.«

»Die eine sehr teure Güte ist, wenn ich es recht verstanden habe.«

»Sehr. Die Gebühren für die Asylberechtigung werden alljährlich neu erhoben. Und jeder, der einer hier dank der mitfühlenden Toleranz von El Supremo Dauerasyl genießenden Person Schaden zufügt, beschneidet damit auch die Einkünfte El Supremos, verstehst du? Und das gefällt dem Generalissimo ganz und gar nicht.«

Sie waren im Café Villanueva in dem Ort San Martin de Porres, im E-Arm. Sie waren den ganzen Tag lang durch Valparaiso Nuevo gezogen, vom Rand bis zur Nabe und zurück, durch eine Speiche und dann die nächste. Farkas erklärte, er wolle möglichst viel über Valparaiso lernen; soviel er nur konnte. Nicht sehen, sondern erfahren. Das war das Wort, das er benutzte. Und sein Erfahrungsdurst war ungeheuerlich. Er war unersättlich, stöberte überall herum, sog alles in sich hinein. Gierig. Und er wurde nie müde oder langsamer. Der Mann besitzt eine phantastische Energie, dachte Juanito. Wenn er bedachte, dass Farkas mindestens doppelt so alt sein musste wie er selbst, wahrscheinlich älter. Und dabei außerdem so selbstsicher. Wie der herumstakste, hätte man glauben können, dass er der neue Generalissimo war, nicht bloß irgendein fremder, körperlich behinderter, langbeiniger Dinko, der faktisch mit Haut und Haaren und Hirn im Besitz des skrupellosen Multikonzerns Kyocera-Merck, der da drunten auf der lausigdreckigen Erde hockte.

Farkas hatte bisher noch nie eine der Satellitenwelten besucht, sagte er zu Juanito. Er sei verblüfft, sagte er, dass es hier Wälder gebe und Seen, weite Reis- und Weizenfelder, Obstplantagen, Ziegen- und Rinderherden. Anscheinend hatte er damit gerechnet, dass alles hier aus Aluminiumwanten und scheußlichen Fertiggussteilen bestehen müsse und alle sich nur von Pillen oder so ernährten. Leute von der Erde konnten anscheinend nicht so recht begreifen, dass die größeren Raumhabitate durchaus angenehme Lebenswelten waren, blauen Himmel besaßen, Schäfchenwolken, bezaubernde Gärten und hübsche Gebäude aus Stahl und Backstein und Glas. Genau so, wie es auf der Erde ausgesehen hatte, bevor sie sie ruinierten.

Farkas sagte: »Wenn die Regierung bei euch diese Flüchtlinge schützt, wie fängst du es dann an, sie aufzuspüren?«

»Ach, da gibt es immer Möglichkeiten. Jeder kennt so ein paar andere Leute, die irgendwas über irgendwen wissen. Bei uns kauft man Information auf genau die gleiche Weise wie Mitgefühl.«

»Vom Generalissimo?« Farkas sah verblüfft aus.

»Von seinen Beamten, manchmal. Wenn man es taktvoll anstellt. Vorsicht ist unumgänglich, schließlich sind Leben und Tod im Spiel. Und es gibt auch Kuriere, die Informationen zu verkaufen haben. Wir alle wissen eine ganze Menge Dinge, die wir eigentlich nicht wissen dürften.«

»Ich nehme an, du kennst persönlich eine ganze Menge Flüchtlinge vom Sehen?«

»Einige«, sagte Juanito. »Siehst du den Mann, der da drüben am Fenster sitzt?« Juanito runzelte die Stirn. »Also, ich weiß ja nicht, kannst du ihn sehen? Für mich sieht er aus wie sechzig, kahlköpfig, dicke Lippen, kaum Kinn.«

»Doch. Ich sehe ihn. Aber für mich sieht er ein bisschen anders aus.«

»Das möchte ich wetten. Also, dieser Mann da, der hatte in einem der Lunardome ein Schwindelgeschäft laufen, verkaufte eine Menge fauler Aktien einer nicht existierenden Offshore-Monopolgesellschaft. Für fünfzig Millionen Capbloc-Dollar. Er bezahlt ziemlich viel dafür, dass er hier leben darf. Und der hier – siehst du ihn? Der mit der blonden Frau? Der hat unterschlagen, der Typ, kennt sich sehr gut mit Computern aus, hat in einer Bank in Singapur fast das gesamte Kapital abgesahnt. Und der dort drüben, der mit dem Schnurrbart, siehst du ihn? Also der behauptete, er ist der Papst. Kann man sowas glauben? In Rio de Janeiro glaubten es ihm alle.«

»Moment mal«, sagte Farkas. »Woher weiß ich, dass du dir das nicht nur alles ausdenkst?«

»Du kannst es nicht wissen«, erwiderte Juanito, »aber ich erfinde nichts.«

»Wir sitzen also nur so da, und du enthüllst mir die wahre Identität von drei Flüchtigen, so ganz kostenlos?«

»Wenn es Leute wären, die du suchst, würde es schon was kosten«, erklärte Juanito.

»Und wenn sie es nun wären? Wenn ich nur vorgetäuscht hätte, diesen Wu Fang-shui zu suchen?«

»Aber du suchst eben nicht nach einem von diesen drei Leuten.« In Juanitos Stimme lag ein Hauch von Verachtung. »Komm schon, Mann, das würde ich merken.«

»Stimmt«, antworte Farkas. »Du hast recht.« Er nippte an seinem Drink, irgendeiner süßen wolkigen grünen Flüssigkeit. »Wie kommt es, dass diese Männer ihre wahre Identität nicht besser kaschiert haben?«

»Sie sind überzeugt, dass sie das haben«, sagte Juanito.


Hinweise zu finden, war eine langwierige Sache. Und kostspielig. Juanito überließ Farkas sich selbst bei seinen Streifzügen zur Erforschung der Speichen der Welt von Valparaiso Nuevo und machte sich allein auf, um seine üblichen Informationsquellen anzuzapfen: Freunde seines Vaters, andere Kuriere, auch und sogar die Zentrale der Einheitspartei, der Basisorganisation des El Supremo, und dort war es weiter nicht schwierig, jemanden zu finden, der etwas wusste und dafür seinen Preis verlangte. Juanito war behutsam. Chinesischer Gentleman, mittleres Alter, ich versuche ihn zu finden, sagte er. Weshalb willst du ihn finden? Das fragte keiner. Keiner würde das je fragen. Es konnte alle möglichen Gründe geben; vielleicht weil er ihn im Auftrag wegpusten sollte, oder dem Mann einen Lotteriegewinn über eine Million Capbloc-Dollars übergeben sollte, die dieser im vergangenen Jahr in New Yucatán gewonnen hatte. In Valparaiso fragte man nicht nach Gründen. Jedermann hatte die Spielregeln begriffen: Was du treibst, ist strikt deine eigene Sache.

Es gab da einen Mann namens Federigo, der mit Juanitos Vater in den Tagen in Costa Rica zusammen war, der eine Frau kannte, die einen Mann kannte, der mit einem Zwitterneutrum als Gefährten zusammenlebte, der vordem einmal einer hochgestellten Persönlichkeit in der Zentralstatistik gehört hatte. Auf jedem Schritt mussten Gebühren berappt werden, aber es war schließlich das Geld von Farkas, also, zum Teufel, was sollte es, oder, besser noch, es war das Geld von Kyocera-Merck. Am Ende der Woche hatte Juanito Zugang zu Immigrationsdaten, die auf goldenen Megachips irgendwo in den Tiefen der Zentralnabe lagerten. Selbstverständlich lieferten die Daten einem nicht Wu Fang-shuis Telefonnummer. Aber was sie Juanito sagen konnten, und das taten sie auch achthundert Callaghanos später, wie viele ethnisch genuine Chinesen in Valparaiso Nuevo lebten und wann sie hier eingetroffen waren.

»Insgesamt sind es neunzehn«, berichtete er Farkas. »Elf davon sind Frauen.«

»Na und? Eine Geschlechtsumwandlung ist doch weiter nichts Ungewöhnliches«, sagte Farkas.

»Stimmt. Aber die Frauen sind alle unter fünfzig. Und der älteste von den Männern ist zweiundsechzig. Und die längste Aufenthaltsdauer bei ihnen sind neun Jahre.«

Farkas wirkte wenig beeindruckt. »Und du meinst, damit scheiden sie aus? Ich nicht. Alter lässt sich ebenso leicht verändern wie das Geschlecht.«

»Aber die Daten der Einreise können das nicht, jedenfalls soweit ich weiß. Und du sagst, dein Wu Fang-shui ist vor fünfzehn Jahren hier zugewandert. Und dein Mann kann einfach keiner von diesen Chinesen sein, außer du hast dich geirrt. Wenn er nicht gestorben ist, würde ich sagen, dann hat dein Wu Fang-shui sich irgendwie eine neue Rassenmischung besorgt.«

»Er lebt«, sagte Farkas.

»Bist du da ganz sicher?«

»Vor drei Monaten hat er noch gelebt und Kontakt mit seiner Familie auf der Erde gehabt. Er hat einen Bruder in Taschkent.«

»Scheiße«, zischte Juanito. »Dann fragt doch diesen Bruder, unter welchem Namen er hier lebt.«

»Das haben wir. Aber wir haben nichts herausbekommen.«

»Dann befragt ihn doch mit mehr Nachdruck.«

»Wir haben auch das versucht, zu nachdrücklich«, sagte Farkas. »Und jetzt ist diese Information nicht mehr erhältlich. Jedenfalls nicht von ihm.«


Juanito überprüfte seine neunzehn Chinesen trotzdem, nur um sicher zu sein. Es kostete nicht viel, auch kaum Zeit, und die Chance bestand ja immerhin, dass Dr. Wu seine Einwanderungspapiere irgendwie manipuliert haben konnte. Aber seine Nachforschungen verliefen im Sand.

Sechs der fraglichen Personen entdeckte Juanito auf Anhieb in einem Club in der Siedlung Havana de Cuba in der Speiche E, wo sie über irgendeinem chinesischen Spiel saßen, und sie ließen sich nicht stören und glucksten kichernd und schoben weiter ihre Porzellanscheibchen hin und her, während er dabei stand und kiebitzte. Sie verhielten sich einfach nicht wie sanctuarios. Flüchtlinge wiesen fast stets irgendeine Macke auf, hatten eine kaum verdeckte Wachsamkeit an sich. Nicht alle Bewohner von Valparaiso Nuevo lebten hier, um sich zu verstecken; die meisten waren auf der Flucht vor Strafverfolgung, ja; aber nicht alle. Diese Leute hier sahen einfach aus wie eine Gruppe wohlhabender chinesischer Händler, die um einen Tisch saßen und sich vergnügten. Juanito hielt sich lange genug bei ihnen auf, um zu erkennen, dass sie alle kleiner waren als er selbst, und das bedeutete, dass sie entweder nicht Dr. Wu sein konnten, der für einen Chinesen groß war, oder dass der Doktor bereit gewesen war, sich zum Zweck einer besseren Camouflage die Beine um fünfzehn Zentimeter verkürzen lassen. Das war zwar möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.

Die übrigen dreizehn Chinesen waren alle zu jung, zu überzeugend weiblich oder dies oder jenes. Juanito strich sie alle von seiner Liste. Er hatte von Beginn an nicht geglaubt, dass Wu noch immer ein Chinese sein werde.

Er suchte weiter. Eine Spur verlor sich, eine zweite und eine dritte. Er wurde allmählich nachdenklich. Dr. Wu musste irgendwie davon gehört haben, dass ein augenloser Mann nach ihm suchte, und war noch weiter in den Untergrund abgetaucht oder hatte Valparaiso ganz verlassen. Juanito bezahlte einen Freund im zentralen Spaceport, auf eventuell passende Abflüge zu achten. Aber das brachte auch nichts. Dann erinnerte ihn jemand daran, dass in und um die Siedlung El Mirador im Arm D eine Kolonie von uralten hartgesottenen Altasylanten existierte, Typen, die von einer durchwachsenen Abneigung gegen Störungen jeglicher Art beseelt waren. Juanito begab sich dorthin. Da bekannt war, dass er selbst der Sohn eines ermordeten Flüchtigen war, trat ihm niemand zu nahe: Schließlich würde so einer ja bestimmt jemand anderen jagen, oder?

Sein Besuch zeitigte keine direkt brauchbaren Ergebnisse. Er durfte es nicht riskieren, Fragen zu stellen, und ihm fiel nichts auf, was ihn irgendwie hätte weiterbringen können. Trotzdem verließ er El Mirador mit dem starken Gefühl, dass hier seine Antwort zu finden sei.

»Bring mich hin«, forderte Farkas.

»Das kann ich nicht machen. Es ist ein mieses Dorf. Fremde sind nicht erwünscht. Und du würdest auffallen wie ein Dinosaurier.«

»Bring mich hin!«, wiederholte Farkas.

»Wenn Wu dort ist und dich auch nur flüchtig sieht, dann weiß er sofort, dass 'ne Fahndung nach ihm raus ist, und er verduftet so schnell, dass es keiner glaubt.«

»Bring mich nach El Mirador!«, sagte Farkas. »Ich bezahle dich für Serviceleistung, und du bringst sie, ja? War das nicht die Abmachung?«

»Das ist korrekt«, sagte Juanito. »Also gehen wir eben nach El Mirador.«

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