Kapitel 11

Enron sagte: »Wunderschön wohnst du hier. Ist es sehr alt?«

»Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts«, antwortete ihm Jolanda Bermudez. »Es ist alt, aber nicht echt antik. Nicht wie in der Alten Welt, wo alles fünftausend Jahre alt ist. Gefällt es dir?«

»Wunderschön, ja. Ein hübsches, gemütliches Häuschen.«

Und dies war es, gewissermaßen, dachte Enron. Ein kleines klapperiges Haus an einer engen gewundenen Straße hoch oben am Hang, nicht weit nördlich vom Campus der Universität. Es besaß eindeutig Charme, kleine Terrassen und komische vorspringende Fenster und die gezackten Filigrane der wie ausgesägt wirkenden Zierleisten an der Dachkontur. Bezaubernd, doch, obwohl der Anstrich pockennarbig und abgesplittert war von dem unausgesetzten Angriff der chemiebeladenen Luft und die Fenster aus denselben Gründen so verkommen aussahen, dass sie beinahe schon wie getönte Scheiben wirkten, und die Terrassen und Balkone hingen durch und schief, die Holzschindeln waren teilweise abgefallen, und der Vorgarten war ein schamloses Durcheinander von vertrocknetem knotigen Unkraut.

Es war der dritte Abend seit einer Woche, dass Enron sich mit Jolanda getroffen hatte; doch in ihr Haus hatte sie ihn bisher noch nicht eingeladen; sie hatte es vorgezogen, mit ihm in sein Hotel in der Stadt zu gehen. Die kleine Affäre mit ihr hatte viel dazu beigetragen, ihm diese Woche in den USA angenehm zu machen. Selbstverständlich musste Jolanda ihn nach längerer Zeit anöden. Aber er gedachte ja nicht, sie zu heiraten, und außerdem würde er sowieso sehr bald nach Israel zurückkehren. Und für die kurze Zeit hier war sie genau, was ihm hier gut tat, eine keine Ansprüche stellende Begleitung und im Bett ein nachgiebig-williger, eifriger Spielgefährte; außerdem bestand ja da immer noch die Möglichkeit, dass er etwas Brauchbares von ihr erfahren könnte – auf diesem sonst weitgehend vergeblichen Trip. Eine schwache Chance, aber es gab sie.

»Also, wollen wir nicht reingehen? Ich brenne darauf zu hören, was du von meinen Arbeiten hältst.«

Sie ist wie ein großer aufdringlicher Hund, dachte er. Nicht besonders klug, nein, eigentlich überhaupt nicht intelligent, aber ungeheuer freundlich und lebhaft und ein guter Kumpel für eine ausgelassene Rangelei. Eine warmherzige, unkomplizierte Person. Ganz anders als die meisten dieser kalkulierenden scharfkantigen, scharfäugigen Frauen in Israel, wie er sie kannte, die stolz behaupteten, absolut klar und sauber zu denken, bei denen immer alles in der absolut richtigen Perspektive lief und die es nicht störte, dass dabei ihre Seele zu Eis gefroren war.

Er folgte ihr durch einen schwach erhellten Vorraum. Es war auch drinnen dunkel und eng und verwirrend: ein dunkel dumpfiges Gewirr von kleinen Zimmern voller Wandteppiche, Skulpturen, Statuetten, Webstücke, messingbeschlagener Truhen, verwirrende Schals, die an Wandhaken hingen, Stammesmasken, Poster, Bücher, afrikanische Speere, Teile einer mittelalterlichen Rüstung aus Japan, aufgerollte Schlingen, von optischen Glasfaserkabeln, Stapel von Datenkuben, geschnitzte Wandschirme, Glocken, alte, mit farbigem Wachs geschmückte Weinflaschen, irisierende Hologrammbänder, von Wand zu Wand gespannt, seltsame Keramikstücke von rätselhafter Funktion, antike Kleidungsstücke, neckisch überall verstreut, Vogelkäfige mit echten lebenden Tieren darin, Visoren, auf denen abstrakte Muster blinkten. Eine betäubende, eine überwältigende Masse von Ramsch. Soweit er sehen konnte, alles absurd und geschmacklos. Er roch den abgestandenen Gestank von verbranntem Weihrauch in der Luft. Überall schlichen Katzen umher, fünf, sechs, ein Dutzend Katzen, zwei Siamesen, zwei Perser, etliche, deren Rasse er nicht kannte. Wie ihre Besitzerin schienen sie sich vor nichts zu ängstigen: Sie drängten sich an ihn, berochen ihn, stupsten ihn mit den Nasen, schärften die Krallen an seinem Bein.

»Also? Was hältst du davon?«, fragte Jolanda.

Was konnte er schon sagen. Er strahlte sie an.

»Faszinierend. Entzückend. Was für eine wundervolle Kollektion ungewöhnlicher Dinge.«

»Ich wusste, du würdest begeistert sein. Ich nehme nicht jeden mit hierher, weißt du. Viele Männer, die haben dafür einfach kein Verständnis. Sie würden erschrecken, es würde sie abschrecken. Aber du – ein Mann, der so weit herumgekommen ist, ein Mann mit Kultur und mit Kunstverstand …« Sie warf theatralisch begeistert die Arme in die Luft. Enron fürchtete schon, sie könnte eines ihrer Kunstwerke durch den Raum schleudern. Sie war eine massige Frau, fast hätte er sagen mögen, beängstigend, sofern irgend etwas ihm Angst machen konnte, schon gar eine Frau. Zehn Zentimeter größer als er, mindestens, und so an die zwanzig Kilo schwerer. Er vermutete, dass sie hyperdexabhängig war; sie hatte diesen überanstrengten Ausdruck in den Augen. Jegliche Art von Drogenmissbrauch fand Enron scheußlich. Aber was diese Frau da mit sich anstellte, ging ihn schließlich nichts an. Er war nicht ihr Vater.

»Komm mit!« Sie zog ihn am Handgelenk mit sich. »Mein Studio ist da drüben.«

Es war ein langer niedriger Raum im hinteren Bereich des Hauses, fensterlos, gegen den Berghang gelegen; zweifellos ein späterer Anbau. Die bedrückende Enge des Vorderhauses war hier nicht fortgesetzt. Das Studio war nahezu leer, bis auf drei rätselhafte Objekte, groß und von unbestimmbarer Gestalt, die in Dreiecksformation mitten auf dem Fußboden standen.

»Meine jüngsten Skulpturen«, sagte sie. »Die links ist Agamemnon, die hier drüben Der Turm des Herzens, und die hinten nenne ich Ad Astra Per Aspera.«

»Ich habe noch nie solche Werke gesehen«, erklärte Enron wahrheitsgemäß.

»Nein. Ich glaube nicht, dass irgendwo schon jemand Vergleichbares versucht. Es ist eine neue Kunstform, bisher rein amerikanisch.«

»Und es ist – wie sagtest du doch? – Bioresponsive Kunst? Wie funktioniert das?«

»Ich zeig's dir. Da, du musst erst die Rezeptoren anlegen.« Aus einem Wandschrank, den er nicht bemerkt hatte, brachte sie eine Handvoll unheimlich aussehender Elektroden und Bioamplifier. »Lass mich das machen«, sagte sie und klebte ihm rasch das Zeug an; ein kleines Instrument an seine linke Schläfe, ein zweites genau mitten auf den Kopf, dann fuhr sie ihm ins Hemd und klebte ein drittes auf sein Brustbein.

Mach weiter, dachte er. Pack mir jetzt eins zwischen die Eier.

Aber das tat sie nicht. Die vierte und letzte Wanze befestigte sie mitten zwischen seinen Schulterblättern. Danach hantierte sie eine Weile an irgendwelchen elektronischen Schaltern in dem Wandschrank herum. Er beobachtete sie nachdenklich, besah sich die Bewegungen ihrer ungebändigten Brüste und saftigen Pobacken unter dem dünnen Wickelkleid, das alles war, was sie trug. Und er überlegte, wie lange die Demonstration ihrer anderen Kunstwerke dauern mochte. Er hatte noch anderes vor an diesem Abend, und er war startklar, sich damit zu beschäftigen. In der Verfolgung eines Zieles konnte er wahrhaftig Geduld aufbringen, aber er hatte nicht vor, den ganzen Abend mit solchen Absurditäten zu verschwenden.

Auf eine gewisse, wenig ernste Weise beunruhigte sich Enron auch über die Elektroden und Bioverstärker. Wenn er nicht die Fähigkeit, Menschen zu beurteilen, komplett verloren hatte, dann war diese Frau harmlos, ein törichtes Unschuldsschaf mit lächerlichem Geschmack, verhageltem Verstand und den Moralbegriffen einer Kamelstute. Was aber, falls er sich täuschte? Was, wenn sie in Wahrheit zur Gegenspionage von Samurai gehörte und ihn raffiniert mit dem ungehemmten Einsatz ihrer lustvollen energischen Hüften und dem dunklen Moschusduft ihrer Lenden hierher gelockt hatte, um ihm heute Abend ein Brainburning zu verabreichen?

Das ist paranoisch, sagte er sich. Blödsinn.

»So, wir sind so weit. Wir können anfangen. Welche willst du zuerst?«

»Was welche?«, fragte er.

»Welche Skulptur.«

»Die hintere«, sagte er auf gut Glück. »Ad Astra Per Aspera.«

»Eine gute Wahl, um einzusteigen«, sagte sie. »Ich zähle bis drei. Dann bewegst du dich darauf zu. Eins – zwei …«

Zunächst sah er nur die Skulptur selbst, eine hässliche amorphe ungeschickte Anhäufung von hölzernen Streben, die durch von innen her sichtbare Metallhalterungen in unmöglichen Neigungswinkeln zusammengehalten waren. Doch dann begann in der Tiefe der Skulptur etwas zu glühen, und kurz darauf fühlte Enron, wie sich in ihm unmissverständlich ein psychogenes Energiefeld flackernd aufzubauen begann: Ein Pulsen im Nacken, dann ein zweites in seinem Bauch, ein seltsames Gefühl der Desorientierung überall. Als höben sich langsam seine Füße vom Boden, fast als ob er nach oben und hinaus zu schweben begänne, durch die Tür zurück in den Hauptteil des Hauses, durch das Dach, hinaus und hinauf in die heiße dumpfige Nacht …

Schön, das Ding hieß schließlich ›Durch Leiden zum Licht‹ oder ›Durch Stress zu den Sternen‹ – oder? Also sollte er wahrscheinlich jetzt die Simulation eines Sternenflugs erleben. Hinauf und hinaus in die fernen Galaxien.

Doch Enron fühlte weiter nichts als eben wie zu Beginn die Sensation der Elevation. Er gelangte nirgendwohin, verspürte weiter nichts als eine gewisse leicht unangenehme Veränderung seines Nervensystems. Es war, als sei sein auf die Sterne gerichteter Impuls eingeschränkt, dass er nur bis zu einem gewissen Punkt gelangen konnte, nicht weiter, ehe er auf eine Art psychische Mauer stieß.

»So«, sagte Jolanda. Die Empfindungen verschwanden. »Was hältst du davon?«

Er war sofort da, wie immer. »Grandios, absolut phantastisch. Ich hatte kaum damit gerechnet, wie intensiv das ist. Ich fühlte …«

»Nein! Sag mir nichts davon! Das muss ganz intim und persönlich bleiben – es ist deine ganz persönliche Erfahrung des Werks. Keine zwei Erlebnisse gleichen sich. Und ich möchte mir nicht anmaßen, dich zu bitten, etwas essentiell Nonverbales mit Worten auszudrücken. Das würde es für dich kaputtmachen, meinst du nicht auch?«

»Ja, wirklich.«

»Wollen wir jetzt den Tower of the Heart nehmen?«

»Bitte.«

Sie berührte jede Elektrode, als wollte sie die Rezeptoren geringfügig neu justieren, und trat dann wieder an ihren Schrank.

Der ›Turm des Herzens‹ war breit, flach, in keiner Weise turmartig, soweit Enron es begriff. Das innere Glühen des Werks war dunkler schattiert, stärker violett-blau als rosig-golden. Als er darauf zuging, fühlte er zunächst nur sehr wenig, dann überkam ihn wieder ein bisschen das Schwindelgefühl wie bei der ersten Skulptur, ja eigentlich war es so ziemlich die gleiche Empfindung. Also ist das Ganze Blödsinn, dachte er, ein schwacher Elektrostrom, der einen kitzelt und ein moderates Unbehagen auslöst, und dann tust du so, als hättest du ein tief anrührendes ästhetisches Erlebnis gehabt, das …

Aber plötzlich und ohne Warnung befand er sich am Rande eines Orgasmus.

Es war höchst peinlich. Nicht nur, weil er vorgehabt hatte, ihn sich zu besserem Anlass später am Abend aufzusparen, sondern weil ihn die Vorstellung, gänzlich die Kontrolle zu verlieren, sich die Hose vollzukleckern wie ein Schuljunge, rasend machte. Er kämpfte dagegen an. Die Ausstrahlungen von der zweiten Skulptur waren weit stärker als die der ersten, und es war mühsam für ihn, sich zu wehren. Er wusste, dass sein Gesicht knallrot vor Scham und Zorn sein musste, und seine Erektion war derart stark, dass es schmerzte. Er wagte nicht hinabzublicken, ob da etwas zu sehen sei. Aber er ging dagegen an. Es war wohl länger als dreißig Jahre her, dass er so verzweifelt gegen die lustvolle Befreiung hatte ankämpfen müssen, jedenfalls seit den hitzigen Schnellschüssen seiner Adoleszenz. Sein Kopf steckte voll von Vorstellungen des üppigen überquellenden Leibes der Jolanda Bermudez, ihrer gewaltigen schwingenden Brüste, ihres heißen, glitschigen pulsenden Lustlochs. Sie war dabei, ihn zu fressen, ihn in sich hineinzuschlingen, ihn auf einer rasenden Flutwelle hinwegzureißen. Denk an was anderes!, mahnte er sich streng. Denk ans Tote Meer!, an den scharfen Metallgeschmack des Wassers dort!, an die dicke glatte Schlammschicht auf der Haut, wenn du aus dem Wasser heraussteigst! Denk an die goldene Kuppel der Omar-Moschee in der Mittagssonne! Denk an den ekelerregenden Ball von Treibhausgasen um unseren kreisenden Erdball! Denk an die gestrigen Aktiennotierungen! – an Zahnpasta! – an Orangen! – an die Sixtinische Kapelle!

– an Kamele auf dem Marktplatz in Beersheba!

– an Lamm-Kebabs, die überm Feuer zischen!

– an die Korallenbänke vor Eilat!

– an … die … die …

Doch in eben diesem Augenblick wich der Druck. Das Toben in seinem Blut legte sich, seine Erektion schwand. Er bekam wieder Luft und zwang sich, wieder ruhig zu werden.

Es war sehr still im Raum. Er zwang sich dazu, die Frau anzusehen. Und dann sah er, dass sie lächelte – verstohlen – vielleicht wissend? Hatte sie gemerkt, was ihm geschehen war? Es war unmöglich zu sagen. Aber sie musste wissen, was für eine Wirkung ihr Werk auf ihn gehabt hatte. Andererseits sollte doch jeder Mensch individuell verschieden darauf reagieren. Es war eine rein subjektive Art des Kunsterlebnisses.

Er würde nichts preisgeben. Wie sie gesagt hatte, es war seine ganz persönliche Angelegenheit, wie er ihre Kunst erlebte. »Außerordentlich«, sagte er zu ihr. »Unvergesslich.« Seine raue keuchende Stimme klang ihm beinahe fremd in den Ohren.

»Ach, es freut mich aber riesig, dass es dir gefallen hat. Sollen wir jetzt den Agamemnon machen?«, fragte sie fröhlich.

»Vielleicht ein bisschen später. Ich möchte gern – noch genießen, was du mir bereits gezeigt hast. Darüber nachdenken, wenn es dir recht ist.« Er schwitzte, als hätte er einen Zehnkilometerlauf hinter sich. »Geht das? Können wir die dritte Arbeit für später aufheben?«

»Es kann manchmal ganz schön umwerfend sein«, sagte sie.

»Und falls es hier was zu trinken gibt …«

»Aber sicher. Wie dumm von mir, dich gleich hier reinzuschleifen, ohne dir etwas anzubieten.«

Sie nahm ihm die Elektroden ab. Dann brachte sie eine Flasche Wein. Weißwein, warm und überzuckert. Diese Amerikaner! Von nichts hatten sie eine Ahnung, was wichtig war! Sanft fragte er, ob sie vielleicht Rotwein hätte, und sie wurde auch da fündig, nur war er leider noch schlechter, schmeckte staubig, das Zeug, und steckte wahrscheinlich voller scheußlicher Schadstoffe und grässlicher Insektizidreste. Sie verließen das Studio und machten es sich auf einer Art Diwan vor einem langen niederen Fenster in einem der vorderen Zimmer bequem, wo sie in einen Sonnenuntergang von bestürzender photochemischer Komplexität betrachteten, einen geradezu wagnerianischen überwältigenden Weltuntergang: gigantische scharfe gezackte Streifen von Scharlachrot und Gold, Grün und Violett und Türkis kämpften wild gegeneinander um die Dominanz im Himmel über San Francisco. Hin und wieder stieß Jolanda einen tiefen Seufzer aus und wackelte in einem freudigen ästhetischen Schaudern mit den Schultern. Oh, ja. Ja. Gottes schöner Privathimmel, in spektakulärer Illumination durch Gottes persönliche Industriegifte.

Bald gehen wir zum Dinner aus, dachte Enron, und dann werde ich sie all das fragen, was ich erfahren muss, und dann gehen wir hierher zurück und ich lege sie gleich hier auf dem dicken Orientteppich um, und dann fahre ich zurück in die Stadt und werde sie nie wiedersehen, und ein Schwein soll mich beißen, wenn ich zulasse, dass sie mir noch mal diese Elektroden verpasst, nicht heute Abend und auch in keiner anderen Nacht.

Aber zuerst kam seine Recherche. Wie konnte man das Thema unter diesen Umständen wechseln und auf sein Hauptinteresse zu sprechen kommen? Da war ein wenig Manövertaktik nötig. Und in Anbetracht des ganzen romantischen Theaters, das sich da am Himmel abspielte …

Wie sich herausstellen sollte, kam er weit schneller zum Punkt seiner Enquête, als er es erwartet hätte. Während sie so dasaßen und den Sonnenuntergang betrachteten, gab Jolanda ihm selbst das Stichwort.

»Neulich abends beim Dinner, Marty, sagte Isabelle, dass du ein Spion bist. Erinnerst du dich?«

Enron kicherte. »Aber sicher. Sie sagte, ich bin ein Spion von Kyocera-Merck.«

»Und? Bist du's?«

»Du bist so charmant direkt. Sehr amerikanisch, finde ich das.«

»Ach, ich denke nur so. Ich war noch nie mit einem Spion im Bett. Jedenfalls soweit ich weiß. Außer, du bist einer. Bist du einer? Es wäre interessant, das zu wissen.«

»Aber sicher bin ich einer«, sagte er. »Alle Israelis sind Spione. Das ist doch eine allseits bekannte Tatsache.«

Jolanda zog einen Schmollmund und goss beiden die Gläser wieder mit dem abscheulichen Wein voll.

»Nein, nein. Es stimmt schon. Wir haben in meinem Land so lange Zeit in bitterster Gefahr leben müssen, auf allen Seiten von Feinden umgeben, die nur einen Steinwurf weit weg waren. Wie hätten wir da nicht automatisch Wachsamkeit zu einer Gewohnheit entwickeln müssen? Ein Volk von Spionen, aber ja. Wohin immer wir gehen, sehen wir uns um, schnüffeln wir, heben jedes Deckchen hoch, um zu sehen, was vielleicht darunter verborgen sein könnte. Aber für Kyocera-Merck spionieren? Nein, das denn doch nicht. Ich spioniere nur für mein Land. Es geht da um Patriotismus, nicht um schäbigen wirtschaftlichen Gewinn, verstehst du das?«

»Du meinst das ganz ernst«, sagte sie erstaunt.

»Ein Journalist, ein Spion – das ist doch das gleiche, oder findest du nicht?«

»Und du bist hergekommen, um mit Nick Rhodes zu sprechen, weil dein Land die Adapto-Technik stehlen will, an der er arbeitet.«

Er bemerkte, dass sie sehr rasch Zeichen der Trunkenheit aufwies. Das Gespräch war von bloßer Spielerei weit in eine ganz andere Richtung abgerutscht.

»Stehlen? So etwas würde ich niemals tun. Wir stehlen nie. Wir besorgen uns Lizenzen, wenn nötig, kopieren wir, oder erfinden neu. Aber Stehlen? Nein. Das ist nach den Mosaischen Geboten untersagt. Du sollst nicht stehlen, wird uns gelehrt. Imitieren, das ja. Darüber steht nichts in der Thora. Und ich gestehe dir auch ganz offen und freimütig und ohne Zögern, dass wir sehr gern mehr über das Projekt deines Freundes Dr. Rhodes erfahren würden, über diesen Plan einer genetischen Umgestaltung des Menschen.«

Er betrachtete sie eindringlich. Sie wirkte gerötet und mindestens halb betrunken: die abendliche Hitze, der Wein, seine zweifellos kaum zu übersehende Reaktion auf den Tower of the Heart, das alles hatte seine Wirkung auf sie gehabt. Er neigte sich zu ihr hinüber, legte seine Hand auf ihre und sprach leise drängend und vertraulich: »Aber jetzt, wo ich dir gestanden habe, dass ich ein Spion bin, wirst du doch nichts dagegen haben, wenn ich jetzt ein bisschen schnüffeln muss. Nein? Gut.« Sie glaubte anscheinend, dass er ein Spielchen vorhatte. Schön, schön, er war gern bereit, sie zu amüsieren. »Also, beantworte mir eine Frage«, sagte er. »Was hältst du von Rhodes, ganz ehrlich? Ist der wirklich einer großen Sache auf der Spur? Werden sie da in seinen Labors einen neuen Menschen erschaffen?«

»Oh! Du machst ja gar keinen Witz. Du bist wirklich ein Spion!«

»Na und? Habe ich das denn bestritten?« Er streichelte ihren Arm. Die Haut war erstaunlich glatt; die weichste, glatteste Haut, die er je berührt hatte. Er überlegte, ob sie sich vielleicht mit irgendeinem synthetischen Material überzogen haben könnte. Es gab Frauen, die so etwas taten. »Also, was ist mit ihm? Was weißt du über seine Arbeiten?«

»Nichts«, antwortete sie. »So wahr mir Gott helfe, Marty.« Er hatte ihr gesagt, sie solle ihn ›Marty‹ nennen, weil ›Meshoram‹ ihr zu fremdartig vorkam. Sie kicherte. Vielleicht reizte sie die Vorstellung, von einem echten Spion als Quelle angezapft zu werden. »Ich würde dir ja gern sagen, was ich weiß, nur, ich weiß gar nichts. Du hättest dich lieber an Isabelle ranmachen sollen, wenn es dir nur darum geht. Ihr erzählt Nick schon manchmal was von seiner Arbeit. Aber mir sagt sie davon nichts weiter, jedenfalls nichts, was dir irgendwie nützen könnte. Ich erfahre immer bloß klitzekleine Fetzchen.«

»Wie zum Beispiel …?« Er strich ihr sacht über die runde Brust. Sie zitterte und wand sich ein wenig. »Sag's schon. Was zum Beispiel?«

Sie schloss kurz die Augen, als ob sie nachdächte.

»Also, dass sie dort einen jungen Mann haben, der an einem großen Durchbruch arbeitet, irgendwas mit verändertem Blut, das dann grün sein soll, statt rot. Und andere Veränderungen, noch größere. Keine Ahnung, was für welche. Ehrlich … Hier, trink noch einen Schluck Wein, er schmeckt fein, nicht? Grünes Blut, ha! Aber besser, finde ich, als grünen Wein trinken zu müssen.«

Enron tat, als trinke er. Grünes Blut, überlegte er. Eine Art Haemoglobinaustausch? Doch er erkannte auch, dass Jolanda die Wahrheit sagte: Sie wusste nichts. Es war also wohl überflüssig, nach Details weiterzufragen.

Dennoch fragte er: »Weißt du, wie der andere Wissenschaftler heißt? Der jüngere Bursche?«

»Nein. Isabelle könnte es wissen. Die solltest du fragen.«

»Sie ist eine sehr schwierige Frau. Ich glaube, sie wird nicht bereit sein, mit mir zusammenzuarbeiten.«

»Ja.« Jolanda sah nachdenklich in ihr Weinglas. »Höchstwahrscheinlich hast du recht. Schließlich, wenn Israel seine eigene Adapto-Technologie aufbauen will, und wenn du hier bist, um rauszufinden, was die bei Samurai tatsächlich bereits haben in dieser Hinsicht, dann würde sie ja, indem sie dir hilft, gleichzeitig die Sache der Adaptos unterstützen. Und du weißt doch, wie sie über sowas denkt.«

»Ja.«

»Und ich übrigens auch. Ich finde das schrecklich und bedrohlich. Ehrlich, ich kriege Gänsehaut bei dem Gedanken.«

Das alles hatten sie früher schon durchgehechelt. Enron gab sich Mühe, die Geduld mit ihr nicht zu verlieren. »Aber wenn es unvermeidlich ist? Wenn die Adaptation die einzige Möglichkeit ist, die uns bleibt, um menschliches Leben auf der Erde zu erhalten …«

»Wieso ist es so wichtig, dass die menschliche Spezies auf der Erde leben bleibt, wenn diese Erde dermaßen kaputt ist? Wir könnten schließlich alle auswandern, in die Habitate im Weltraum.«

Er schenkte ihr Wein nach. Die Sonne war untergegangen, der Himmel dunkelte rasch zu tiefer Schwärze. Auf der anderen Seite der Bucht blinkten die Lichter von San Francisco zitternd in dem dichten Dunst auf. Wie beiläufig irrte Enrons Hand über Jolandas üppigen Körper: die Brüste, den Bauch, dann das Knie, dann den Schenkel aufwärts. Derartige Vorspiele würden ihr die Zunge lösen, dachte er. Aber die war vielleicht sowieso die ganze Zeit ziemlich ungehemmt. Er streichelte dennoch weiter. Sie saß mit geschlossenen Augen und zurückgeworfenem Kopf da. Eine der Katzen sprang zu Enron herauf und begann den Kopf gegen seinen Ellbogen zu reiben. Er stieß das Tier mit einer kurzen Bewegung beiseite.

Ruhig sagte er: »Wir lieben unser Land. Wir haben jahrhundertelang um seinen Besitz gekämpft. Wir haben kein Verlangen, es jetzt zu verlassen, nicht einmal für ein Neues Israel im Himmel.«

»Die Japaner haben aber ihr Land verlassen. Jedenfalls die reichen Japaner. Die sind jetzt über den ganzen Globus verstreut. Und sie liebten ihr Land genauso wie ihr eures. Aber sie sind weggegangen. Wenn die das konnten, wieso nicht ihr auch?«

»Sie sind weg, ja, aber weil ihre Inseln vom ansteigenden Meeresspiegel überflutet wurden. Ihnen ging das ganze fruchtbare Land verloren, und die meisten ihrer Städte dazu, und es blieben ihnen nichts als kahle Berge übrig. Sonst wären sie nie fortgezogen. Sie würden sich noch immer weiter an jeden Stein klammern. Aber es blieb ihnen keine andere Wahl. Genau wie wir einst Israel verließen und in die Diaspora gingen, vor langer Zeit, vor zwei-, dreitausend Jahren, weil uns unsere Feinde dazu zwangen. Und dann, eines Tages, kehrten wir zurück. Wir kämpften, wir litten, wir bauten auf und kämpften weiter. Und jetzt leben wir im Garten Eden. Der süße Regen regnet vom Himmel, die weiten Wüstenstriche grünen. Wir werden nicht wieder fortgehen.«

»Aber wozu soll das gut sein, zu bleiben, wenn alles so anders sein wird?« Ihre Stimme war geisterhaft dünn geworden, als käme sie von ganz weit her. »Wenn wir alle zu grässlichen Adaptowesen mutieren, wird dann jemand unter uns noch menschlich sein? Wirst du noch jüdisch sein, wenn du grünes Blut hast und Kiemen?«

Enron lächelte. »Ich glaube nicht, dass in der Bibel irgend etwas darüber steht, welche Farbe unser Blut haben muss. Da steht nur, dass wir das Gesetz befolgen und ein anständiges Leben führen müssen.«

Sie überlegte eine Weile.

»Und es ist anständig, ein Spion zu sein?«, sagte sie dann.

»Aber gewiss doch. Es ist eine uralte Tradition. Als Josuah daran ging, uns über den Jordan zu führen, schickte er zwei Spione in das Land am anderen Ufer voraus, und die kehrten zurück und berichteten ihm, dass die Überquerung gefahrlos sei und dass die Leute, die drüben lebten, wie versteinert waren, als sie hörten, dass der HERR ihr Land den Juden geschenkt hatte. Diese zwei Spione sind in der Bibel nicht mit ihrem Namen aufgeführt. Es waren aber die ersten Geheimagenten.«

»Ich verstehe.«

»Und bis zum heutigen Tag senden wir unsere Kundschafter aus, damit sie Gefahren erkunden«, sagte Enron. »Daran ist doch nichts Unehrenhaftes.«

»Ihr Juden seht überall nur Feinde, wie?«

»Wir sehen Gefahren.«

»Wenn es Gefahren gibt, muss es Feinde geben. Aber die Zeiten sind doch längst vorbei, in denen es Kriege zwischen Völkern gegeben hat. Es gibt keine Feinde mehr. Wir sind heute alle Verbündete im Kampf zur Rettung des Planeten. Könnte es sein, dass diese Feinde, vor denen deine Leute sich so fürchten, einfach nur in eurer Vorstellung existieren?«

»Unsre Geschichte lehrt uns, dass wir auf der Hut sein müssen«, sagte er. »Dreitausend Jahre lang von einem Land zum andern vertrieben zu werden, von Menschen, die uns ablehnten oder uns beneideten, oder die uns ganz einfach als Sündenböcke missbrauchen wollten. Wieso sollte sich da heute etwas geändert haben? Wir müssten sehr dumm sein, wenn wir glauben würden, dass das Goldene Tausendjährige Reich angebrochen sei.« Auf einmal fühlte Enron sich in die Enge getrieben. Das war eine für ihn unbekannte Erfahrung. Er war an diesem Abend mit ihr zusammen, um Fragen zu stellen, nicht um welche zu beantworten. Aber sie erwies sich als recht zäh. Er trank einen großen Schluck von dem scheußlichen Wein. »Die Assyrer schlachteten uns ab. Die Römer brannten unseren Tempel nieder. Die Kreuzfahrer gaben uns die Schuld am Tod Christi.« Der Wein glitt nun etwas leichter durch die Kehle. »Hast du von den Todeslagern gehört, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Deutschen eingerichtet hatten?«, fragte er. »Sechs Millionen von uns ermordet, aus keinem anderen Grund, als weil sie Juden waren. Die Überlebenden gingen dann nach Israel. Rings um uns herum lebten Moslems, die uns hassten. Sie schworen, sie würden zu Ende führen, was die deutschen Nazis begonnen hatten, und sie haben es auch mehrmals versucht. Es ist nicht leicht, ein gelassenes, arbeitsames Leben zu führen, wenn am anderen Ufer des Flusses ein Feind lauert, der dir einen Heiligen Krieg erklärt hat.«

»Aber das war doch vor langer Zeit. Heute sind die Araber eure Freunde.«

»Es ist angenehm, das zu glauben, nicht wahr? Ja, der Reichtum aus ihren Ölquellen ist dahin, und obwohl unsere Region jetzt fruchtbarer ist als vor den Klimaveränderungen, sind die arabischen Länder doch stark überbevölkert, also können sie sich den Luxus ihres Heiligen Krieges nicht mehr erlauben, den sie sonst höchstwahrscheinlich gern fortsetzen möchten. Und deshalb wandten sie sich an ihre plötzlich angenehmen Nachbarn, die Israelis, und baten um technische und industrielle Unterstützung. Wir sind nun alle Freunde, ja. Partner. Doch das kann sich leicht ändern. Aber da sich die Lage auf der Erde zunehmend verschlimmert, könnten jene, die nicht über unsere Vorteile verfügen, beschließen, sich gegen uns zu wenden. Es ist früher auch schon so gewesen.«

»Ihr seid schrecklich argwöhnische Leute!«

»Argwöhnisch? Aber es gibt doch Grund genug dafür! Und darum bleiben wir stets wachsam. Wir schicken unsere Agenten überall hin, damit sie Ärger herausschnüffeln. So machen wir uns zum Beispiel Sorgen wegen der Japaner.«

»Die Japaner? Warum?«

Enron merkte, dass er einen leichten Schwips bekam. Auch das war bei ihm ungewöhnlich.

Er sagte: »Sie sind ein scheußliches Volk. Ich meine, so voller Hass. Sie besitzen solch große Reichtümer, und trotzdem sind sie elende Exilanten. Leben ihr paranoides, abgeschirmtes Leben in ihren kleinen Hochsicherheitsenklaven hier und dort auf der Erde, eingesperrt hinter Mauern, voll Zorn und Bitterkeit, weil sie ihre Heimat verlassen mussten, von allen anderen wegen ihres Geldes und ihrer Macht gehasst, und sie hassen doppelt zurück, weil sich ihr Hass aus derart heftiger Ablehnung und Neid nährt. Und am meisten hassen sie uns Israelis, weil auch wir einst Vertriebene waren, und weil es uns gelungen ist, in unsere Heimat zurückzukehren, und es ist ein wunderschönes Land, und weil wir stark sind und tüchtig und ihnen jetzt auf der ganzen Welt ihre Machtpositionen streitig machen.«

Seine Hand hatte dabei weiter zwischen ihren Schenkeln herumgetastet. Nun presste sie die Beine um sein Handgelenk, nicht sosehr, um ihn am weiteren Vordringen zu hindern, sondern um ihn dort spielerisch festzuhalten. Wollte sie nun reden, oder wollte sie Sex? Wahrscheinlich beides zugleich, dachte er. Beides schien bei ihr irgendwie zusammen zu gehören. Sie ist eine manische Schwätzerin, dachte er, diese Hyperdexdroge, die sie nimmt, löst das aus, und eine sexbesessene Nymphomanin ist sie auch. Ich sollte das ganze Geschwätz abbrechen und sie einfach runter auf den Teppich zerren. Und sie dann zum Dinner abschleppen. Er hatte ein Gefühl, als hätte er seit drei Tagen nichts mehr gegessen.

Aber auch er war irgendwie nicht fähig, seinen Redeschwall zu bremsen.

»Die Zufälligkeiten des Lebens in unserer Treibhauswelt«, hörte er sich sagen, »führten Israel in eine Spitzenposition als Wirtschaftsmacht, genau als die Japaner ihre Heimatinseln verlassen mussten. Wir bewegen uns auf vielen Gebieten gleichzeitig. Die israelische Regierung hat in den meisten Megamultis große Investitionen, wusstest du das? Wir besitzen beträchtliche Minoritätsanteile sowohl an Samurai wie an Kyocera. Aber die Megafirmen sind noch immer vorwiegend in der Hand der Japaner, und die geben sich alle Mühe, uns draußen zu halten. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, uns aus unserer Spitzenposition zu vertreiben. Dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Jedes. Also behalten wir sie im Auge, Jolanda. Wir behalten alle im Auge.«

»Und wenn Israel eine Adapto-Technologie entwickeln könnte, bevor es Samurai gelingt, dann würdet ihr eine gefestigtere Stellung in der künftigen Welt einnehmen?«

»Ja, das glauben wir.«

»Ich glaube, das ist falsch. Ich glaube, wir sollten die Erde aufgeben und statt dessen in den Weltraum gehen.«

»In die Habitate, ja? Deine große Zwangsvorstellung.«

»Du glaubst, ich bin dämlich?«

»Dämlich?«, rief er. »Aber nein, niemals!«

Er gab sich nicht die geringste Mühe, ernsthaft zu klingen. Inzwischen langweilte sie ihn und wurde ihm lästig. Erstaunt merkte er, dass auch sein sexuelles Interesse an ihr schwand. Sie ist keine Kamelstute, dachte er, sie ist eine Kuh, eine lächerliche Kuh mit der Wahnvorstellung, eine Intellektuelle zu sein.

Aber trotzdem zog er seine Hand nicht zurück.

Jolanda wiegte sich hin und her über seiner Hand und presste die Schenkel zusammen. Dann drehte sie sich ihm zu, riss die Augen auf und sah ihn seltsam flirtbereit und provozierend an, als hätte sie sich entschlossen, ihm ein ungeheuer wichtiges Geheimnis anzuvertrauen. »Ich sollte dir vielleicht sagen, dass ich möglicherweise nicht hier unten herumwarten werde, bis unsere Umwelt noch weiter zugrunde geht. Ich denke ernstlich darüber nach, schon sehr bald nach L-5 zu gehen.«

»Ach wirklich? Und hast du dir schon ein bestimmtes Habitat ausgesucht?«

»Ja, es heißt Valparaiso Nuevo«, sagte sie.

»Kenne ich nicht.« Sie saßen nun in fast völligem Dunkel und schauten in die Dunkelheit hinaus. Eine Katze, die er vorher noch nicht bemerkt zu haben glaubte, ein sehr hochbeiniges Tier mit schmalem kantigem Kopf war von irgendwo aufgetaucht und rieb sich an seinem Schuh. Die Weinflasche war leer. »Nein, wart mal, es fällt mir wieder ein. Eine Asylwelt, ja? Wo flüchtige Kriminelle untertauchen können?« Der Kopf schwamm ihm allmählich von der Hitze, dem endlosen Gequatsche, dem Wein, von seinem wachsenden Hunger, der bedrängenden Intensität von Jolandas Körper, vielleicht auch von den Nachwirkungen des Kontakts mit ihren bioresponsiven Skulpturen. Und wieder rührte sich das Verlangen in ihm, anfangs träge, dann mit wachsender Heftigkeit. Diese Frau konnte einen rasend machen mit ihrer Dummheit, aber sie war zugleich seltsam unwiderstehlich. Ihr Gespräch verirrte sich jetzt ins Surreale. »Wieso möchtest du denn dort hin?«, fragte er.

Ihre Augen funkelten ihn an. Theatralisch böse, ein Kind, das Verschlagenheit mimt.

»Ich glaube, ich sollte es dir wirklich nicht sagen.«

»Ach, komm schon. Sag es mir.«

»Aber du behältst es ganz und gar für dich, ja?«

»Was soll ich behalten? Ich verstehe nicht.«

»Das muss man sich mal vorstellen. Ich nehme einem Spion einen Schwur der Geheimhaltung ab! Aber du bist sowieso in ein paar Tagen fort, und außerdem hat das alles für dich gar keine Bedeutung. Israel ist davon nicht im geringsten betroffen.«

»Ja, dann kannst du es mir ja ruhig sagen.«

»Ja. Also, ich werde es dir sagen.« Wieder der hastige Blick des ›bösen kleinen Mädchens‹. »Aber du behältst es ganz bestimmt für dich? Abgemacht?« Ich hab ein Geheimnis, aber dir werd' ich es sagen, aber nur dir, weil du mein Freund bist und ich dich so süß finde.

»Ich schwör's.« Was für ein Blödsinn!

»Du hast ganz recht, Valparaiso Nuevo ist eine Welt für Schutzsuchende und Kriminelle jeder Art, die der dortigen Regierung Geld bezahlen, damit die sie vor Fahndern beschützt, die sie aufspüren könnten. Chef ist so ein verrückter alter lateinamerikanischer Diktator, der dort seit dem ersten Jahr am Ruder ist.«

»Ich komme immer noch nicht mit. Was hat das alles mit dir zu tun?«

»Ich habe einen Freund in L. A.«, sagte Jolanda. »Und der gehört zu einer Gruppe von Guerrilleros, sozusagen. Und die planen, sich dort einzuschleichen und die Kontrolle zu übernehmen. Sie wollen den ganzen Laden übernehmen, die Kriminellen festnehmen und gegen Kopfgeld ausliefern. Wenn sie die alle verkaufen, bringt das ein Riesenvermögen ein. Und dann wollen sie dort leben wie die Könige und Königinnen. Frische Luft, sauberes Wasser, ein ganz neues Leben.« Ihr Blick wirkte seltsam starr und fiebernd, glasiger noch als der gewöhnliche drogenglänzende Ausdruck. Es war, als starrte sie an ihm vorbei oder durch ihn hindurch in eine schimmernde Welt der erfüllten Wunschträume. »Mein Freund fragte, ob ich mich ihnen anschließen möchte. Wir wären Milliardäre. Ein ganze kleiner Planet würde uns gehören. Und es soll schön sein, da droben in den L-5-Welten.«

Enron war auf einmal wieder völlig nüchtern.

»Und wann soll das alles stattfinden?«, fragte er.

»Ach, schon sehr bald. Ich glaube, sie haben gesagt, sie würden …« Jolanda drückte die Hand auf den Mund. »Guter Gott, schau, was ich da angestellt habe! Ich hätte dir kein Wort von dem Ganzen sagen dürfen.«

»Aber nein, es interessiert mich sehr, Jolanda.«

»Hör zu, Marty, es ist gar nicht wahr, kein Wort davon! Es ist bloß eine Story, eine Idee für einen Film, mit der sie herumspielen, es hat keinen realen Hintergrund, überhaupt keinen! Du darfst das nicht ernst nehmen. Es ist alles erfunden!« Sie starrte ihn voll Entsetzen an. Langsam und düster sagte sie dann: »Du hättest mich nicht so viel Wein trinken lassen dürfen. Bitte vergiss alles, was ich dir gerade gesagt habe, über Valparaiso Nuevo. Alles! Ich könnte große Schwierigkeiten bekommen, wenn … wenn …« Sie begann zu weinen, mit heftigen abgehackten Schluchzern, die ihren ganzen Körper schüttelten. Seine Hand steckte noch immer zwischen ihren Schenkeln, und er fürchtete, dass sie ihm mit ihren konvulsivischen Bewegungen das Gelenk verstauchen könnte.

»Scht. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Jolanda. Ich sage kein Wort darüber, zu niemand.«

Hoffnung glomm in ihren Augen auf, aber sie wirkte noch immer schreckerfüllt.

»Schwörst du es? Die würden mich umbringen!«

»Ein geschickter Spion beschützt seine Informationsquellen, Liebes. Ich bin ein sehr geschickter.«

Aber sie zitterte immer noch.

Enron sagte: »Aber etwas musst du schon tun für mich. Ich möchte mich mit deinem Freund aus Los Angeles treffen. Ich möchte mit ihm reden, mit seiner Gruppe. Mit ihm zusammenarbeiten.«

»Im Ernst?«

»Ich scherze nie, Jolanda.«

»Aber was ich dir gerade gesagt habe, hat doch nichts zu tun mit …«

»Aber ja doch. Es gibt Leute in Valparaiso Nuevo, die für den Staat Israel von großem Interesse wären, da bin ich mir ganz sicher. Und wenn diese Leute zum Verkauf kommen sollen, würden wir uns gern mit den Anbietern so früh wie möglich in Verbindung setzen. Und in diesem Zusammenhang wären wir möglicherweise bereit, deine Freunde bei ihrem Projekt recht beträchtlich in materieller Weise zu unterstützen. Wie ist der Name deines Freundes in Los Angeles?«

Jolanda zögerte, bevor sie antwortete.

»Davidov. Mike Davidov.«

Enron spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte. »Jude?«, fragte er.

»Ich glaube, nein. Ich denke, das ist ein russischer Name. Er sieht irgendwie russisch aus.«

Enron nahm die Hand zwischen ihren Schenkeln fort und begann wieder, ihre Brüste zu streicheln. Mit seiner verführerischsten Stimme sagte er: »Nimm mich mit nach Los Angeles und mache mich mit deinem Freund, Mr. Davidov, bekannt.«

»Ich weiß nicht, Marty – ich glaube, ich sollte nicht …«

»Morgen. Mit der Fähre um neun.« Das klang nicht mehr beschwörend, sondern wie ein Befehl.

»Es hätte keinen Zweck«, sagte sie. »Er ist schon weg nach Valparaiso. Die meisten entscheidenden Leute sind schon dort, um die Lage zu sondieren.«

»Aha, verstehe«, sagte er.

Dann dachte er stumm eine Weile nach.

Sie nutzte die Bresche sofort, die er ihr bot. »Weißt du, was ich jetzt möchte?«, fragte sie. »Ich möchte nicht mehr von all dem reden. Ja? Ich hab einen kleinen Schwips. Also, mehr als nur 'nen kleinen. Ich habe viel zu viel gequasselt, und ich mag jetzt nicht mehr reden.«

»Aber wenn du mir nur …«

»Nein, Marty. Es ist zu gefährlich. Du würdest es nur benutzen, was immer ich dir sagen könnte. Aber ich will, dass du mich jetzt anders benutzt.«

»Benutzt?«

»Du müsstest es eigentlich wissen, was ich meine. Aber schön, ich geb dir einen Hinweis.«

Sie packte ihn an den Schultern und zog ihn mit sich auf den Boden. Sie landeten in einem Gewirr von Armen und Beinen, sie lachten, und rasch vergrub er sich in ihrer schwellenden Üppigkeit. Eine heiße Duftmischung stieg von ihr zu ihm auf, Wein und Lustbereitschaft und Schweiß und, dachte er, der Geruch vom Screen, mit dem sie ihre wundervolle Satinhaut schützte. Gut. Gut. Er verlor sich in ihr. Und für den Moment hatten sie ja wirklich genug geredet, fand er. Er hatte sich geduldig seit Stunden zurückgehalten und mit ihr Spionage gespielt; jetzt erlaubte er es sich, seinen Beruf für ein Weilchen abzustreifen.

»Oh, Marty!«, murmelte sie wieder und wieder. Er verbiss sich in die schweren Brustkugeln, als wären sie Melonen, und er führte mit dem wütenden Eifer eines Propheten seine Lanze und kämpfte sich in die geheimnisvollen, scheinbar unendlichen Tiefen ihres zuckenden Schoßes vor. »Marty – Marty – Marty!« Sie krümmte ihren Leib hoch, die Beine weit gespreizt, die Füße schwankten irgendwo hinter seinem Rücken in der Luft, und sie rammte ihre Schenkel bei jedem seiner Stöße heftig gegen seine Flanken. Diese Jolanda zu beschälen, das war wie die Entdeckung eines unbekannten Kontinents, dachte er. So groß und so feucht, so fremd und voller Wunder und Neuheit. Aber so ging es ihm mit jeder neuen Frau. Der jüdische Balboa, der jüdische Mungo Park, Orellana, Pizarro pflügt unverdrossen weiter durch einen undurchquerten haarigen Dschungel nach dem anderen auf seiner ewigen Suche nach den unauffindbaren Reichtümern im Innern ihrer heißen bebenden Herzen. Aber diese hier war ein größeres Rätsel als die meisten anderen Frauen. Sie war das geheimnisumwobene Königreich des Priesters Johannes, das verlorene El Dorado.

Hinterher lagen sie nackt Seite an Seite, leise lachend, die Leiber vom Schweiß sanft schimmernd in der Hitze der Nacht.

»Es ist zu spät, noch irgendwohin essen zu gehen«, sagte sie dann. »Ich mache uns hier was zurecht. Einverstanden?«

»Was immer du lieber willst«, sagte er.

»Und dann kannst du dir vielleicht meine dritte Skulptur anschauen. Den Agamemnon. Hast du Lust dazu?«

»Vielleicht etwas später«, sagte er unbestimmt. »Ja. Ja, so machen wir's.«

Sie war eine sehr amüsante Frau, entschied er auf einmal. Und nützlicher, als er vermutet hatte. Dies sollte dann doch nicht ihre letzte Nacht gewesen sein, nicht soweit es an ihm lag.

Als sie sich gewaschen und angezogen hatten und sie in der Küche herumhantierte, rief er zu ihr hinüber: »Was du mir da gesagt hast, dass die Anführer dieser Aktion bereits nach Valparaiso Nuevo aufgebrochen sind, stimmt das?«

»Marty, bitte! Ich dachte, wir sprechen nicht mehr darüber …«

»Stimmt es?«

»Marty!«

»Ist es wahr, Jolanda? Ich muss es wissen.«

Geschepper von Töpfen und Pfannen. Dann: »Ja. Sie sind bereits droben. Einige von ihnen, wie ich sagte.«

Enron nickte langsam. »Ja, also dann. Dann habe ich einen Vorschlag. Bitte nimm ihn sehr, sehr ernst. Was hältst du von einem kleinen Trip nach Valparaiso Nuevo mit mir, Jolanda?«

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