Kapitel 29

Carpenter legte sich in den G-Sitz zurück und betrachtete die Satellitenwelt Cornucopia, die direkt vor ihm herankreiselte. Er fühlte sich wunderlich ruhig. Er fühlte sich wie ein Seefahrer, der den Urvater aller Stürme ausgestanden hat und nun über eine stille, spiegelglatte See fährt.

Alles war arrangiert. Nick Rhodes hatte das alles erledigt: Er hatte die Obergötter bei Kyocera in Kenntnis gesetzt, dass er einen Kandidaten habe, der die freie Stelle in der Starship-Besatzung einnehmen könne, nachdem Farkas ausgefallen war; und er hatte recht deutlich zu erkennen gegeben, dass er erwarte, dass seine neue Firma diesen seinen Vorschlag ernstlich in Erwägung ziehen werde. Und dann war durch wundersame Manipulation der von Samurai in Unehren gefeuerte Mann, Paul Carpenter, trotz aller damit verbundenen Probleme, aufgerückt in die Position eines Ersatzmanns; er wurde durch das erste Kontaktgespräch gelotst und dann durch alle folgenden Tests. Und nun wurde er nach Cornucopia geflogen, wo die Besatzung auf ihre Reise ins Unbekannte vorbereitet wurde.

»Da! Schaut mal!«, sagte jemand in der anderen Reihe. »Da ist dieses Habitat, das explodiert ist. Also, die restlichen Trümmer.«

Carpenter schaute nicht hin. Er wusste: Über den ganzen L-5-Gürtel verstreut schwebte eine riesige Menge von Trümmern, die Reste von Valparaiso Nuevo kreisten wild und willkürlich umher, und die Säuberungsteams würden noch monatelang Leichen einsammeln und versuchen, die größten Trümmerstücke herumzuwuchten und auf Bahnen zu lenken, die sie zur Sonne bringen würden, ehe ihre Orbits sich verkleinerten und sie auf die Erde fallen würden. Aber er wollte das nicht sehen.

Er schaute lieber zur anderen Seite. Zurück und nach unten, wie ein Landstreicher: heim zur Erde.

Und wie schön sie war!

Ein vollkommener blauer Ball, hell strahlend, von Bändern von Weiß bedeckt. Die von der Menschheit zugefügten Verletzungen waren nicht sichtbar. Aus dieser Entfernung waren der Dreck, die Zerstörung, die Fäulnis nicht mehr wahrnehmbar. Nichts mehr zu sehen von den öden neuen Wüstengürteln, wo noch vor etlichen Generationen fruchtbares Ackerland gewesen war, von den dampfenden pilzartig wuchernden Wäldern in den von Menschen verlassenen Städten, nichts von den untergegangenen Küstenlinien, nichts von den Giftklumpen in den Meeren, nichts von den farbenprächtigen Pollutionsstreifen in der Atmosphäre, nichts von den endlosen langen Meilen ausgedörrten, verbrannten Ödlands, durch das er auf seiner fieberhaften Flucht nach Chicago und zurück gekommen war … Nein, von hier oben, von außerhalb der Stratosphäre war die Erde einfach hinreißend und überwältigend schön.

Eine wunderschöne Welt. Ein Juwel von einem Planeten.

Was für ein Jammer, dachte Carpenter, dass wir das so versauen mussten! Dass wir in einer grandiosen Orgie von Dummheit jahrhundertelang unser eigenes Haus, unser eigenes Nest zur Kloake gemacht und unsere wundervolle und vielleicht einzigartige Welt in einen Ort des Schreckens verwandelt haben … Und der fährt nun fort in seiner eigenen Umgestaltung, und mit einer Macht, die sich unserer Kontrolle entzogen hat, so dass uns nun kaum etwas anderes übrigbleibt, als uns selber ebenfalls zu verändern, wenn wir da weiter am Leben bleiben wollen.

Welche anderen Gefühle konnte man schon haben, wenn man auf diesen blauen Kuller hinuntersah, der so scheinbar vollkommen war, und wenn man daran dachte, was für ein Paradies er einst gewesen war und was der Mensch daraus gemacht hatte … außer Wut, Schmerz, Empörung und eine verzweifelte Beklommenheit? Und was hätte einer sonst tun sollen, als sich heulend und schreiend an die eigene Brust zu schlagen?

Und trotzdem … und dennoch …

Du musst es langfristig sehen, befahl er sich.

Die Beschädigung war nur eine temporäre. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Natürlich nicht so schnell. Es gab Leute, die sagten, der Planet Erde ist schwer verwundet; schön, irgendwann würde der Planet wieder gesund werden. Andere sagten, der Planet ist nur besudelt; schön, wenn das so war, würde der Planet eben eine gewisse Zeit benötigen, um sich zu reinigen. Aber das würde die Erde tun. Ganz bestimmt. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Und wenn es hundert Jahre, tausend, eine Million Jahre dauern sollte – die Erde würde sich wieder selbst reinigen. Der Planet hat immens viel Zeit – wir nicht, dachte Carpenter, aber der Planet hat sie. Das Leben würde weiterbestehen. Nicht unbedingt so, wie wir es kennen, aber Leben in irgendwelcher Form. Und wenn wir auf der Erde durch eine andere Lebensform ersetzt werden müssen, weil wir so miserable Verwalter des uns anvertrauten Gutes waren, warum nicht? Warum denn nicht? Die eine Art versagt, irgendwann tritt eine andere an ihre Stelle. Das Leben ist hartnäckig. Das Leben lässt sich nicht unterkriegen.

»Passagiere nach Cornucopia, bitte bereitmachen zum Andocken«, verkündete eine Stimme aus dem Lautsprecher.


Dann tauchten die blitzenden Speichen des Forschungssatelliten von Kyocera auf. Carpenter verschwendete einen kurzen Blick dahin, gleichgültig. Er sah immer noch zurück auf die Erde, mit einem Gefühl, wie er selbst fand, von Hilflosigkeit und tiefer Erkenntnis.

Und dann bekam er wie in einer Vision eine flüchtige Vorstellung von der neuen Rasse, die Nick Rhodes erschaffen würde. Monströse Wesen, bestimmt, mit Schuppenhaut und quellenden Fischaugen und Schwimmflossenfüßen und grünem Blut. Aber – warum nicht? Füreinander würden sie schön sein; und sie würden miteinander und füreinander da sein. Auf der neuen, seltsam verwandelten Erde in einigen hundert Jahren würden sie sich völlig daheim fühlen, sich wohlfühlen in der veränderten Atemluft, alles in allem glücklich in der brüllenden Gluthitze.

Und er konnte sich vorstellen, wie Nick Rhodes und Isabelle da drunten zusammen waren, endlich friedlich und kampflos vereint, ein bezauberndes Liebespaar von Frau und Mann, wie sie Händchen hielten, zusammen alt wurden. Sogar Kinder hatten. Kleine Ungeheuer. Eine ganz neue Rasse, die da aufblüht. Das Leben geht weiter.


Und dann dockte das Shuttle ein. Drei, vier Passagiere nach Cornucopia machten sich an den Ausstieg. Als sein Name aufgerufen wurde, begab Carpenter sich zur Bordluke am Bug und stieg aus.

Cornucopia, soviel er zunächst sah, wirkte auf ihn so ziemlich genau wie der Hafen von Oakland: Keinerlei innen-architektonische Pflanzenlandschaft, kein Boden- oder Wandbelag, keine Spur von Dekor – nur kilometerweit überall Metall, ein Gitterwerk von nackten Streben. Reinste ungeschminkte Funktionalität. Zweckmäßig. Aber das war in Ordnung. Schließlich war er ja nicht hierher gekommen, um Urlaub zu machen. »Mister Carpenter? Hier herüber, bitte.« Einige Kyocera-Angestellte erwarteten ihn bereits, führten ihn durch nackte Hallen und öde Korridore.

Dann, schließlich, eine Tür mit einer Aufschrift in schwach leuchtenden Leuchtbuchstaben:

PROJECT LONG JUMP

NUR FÜR BEFUGTE ZUTRITT ERLAUBT

Hier muss es sein, dachte Carpenter. Ein ganz schön weiter Sprung, wirklich. Zu einem anderen Stern.

Nun, er war bereit dafür. Er fand, er sei völlig gelassen, ruhig, entschlossen und festgenagelt, er war darüber hinaus, sich noch irgendwelche Bedenken erlauben zu können, und er trat jetzt in diesen Ort ein, wie er vor einigen Jahrhunderten vielleicht in ein Kloster gegangen wäre.

Aus eigenem freiwilligen Entschluss ließ er seine alte Welt hinter sich. Und zur Hölle damit!

In dieser Welt zu leben, das war unerträglich schwierig geworden. Das Atmen selbst war bereits ein Problem, ebenso der Umgang mit dem ganz gewöhnlichen Sonnenlicht, das eben nicht länger das gewohnte, vertraute Licht war. Und, dachte Carpenter, extrem schwierig ist es auch geworden, das Richtige zu tun. Fast immer in seinem Leben hatte er dies versucht, das Richtige zu tun, und es war ihm nur ab und zu gelungen. Es war nicht seine Schuld – er hatte es versucht. Und dann war er in eine Sache geraten, die falsch war – mit katastrophalen Folgen.

Und Enron? Und Jolanda? Auch sie hatten versucht, das Richtige zu tun, so wie sie es verstanden. Und dabei hatten sie danach gestrebt, sich auf ihre persönliche Weise in dieser schwierigen Zeit angemessen einzurichten und anzupassen, und dann hatten sie sich einmal zu oft angepasst und mitgemacht – und waren dafür gestorben.

Eine zu harte Nuss, dieses Leben in der neuen schwierigen Zeit. Carpenter zog einen neuen Start anderswo vor.

Und er war sich sicher, dass er ihn hier bekommen würde. Sie würden ihn sich vornehmen und ihn verändern und ihn dann tief bis ans Ende des Universums schicken. Gut so. Wunderbar. Auch er konnte hartnäckig sein und anpassungsfähig. Du baust Mist in der einen Welt, schön, dann packst du deinen Kram zusammen und ziehst weiter in eine andere. Von neuem anfangen, immer wieder neu geboren werden – so musste man es machen …

Als einer der Kyoceraleute seine Hand auf die Türplatte drückte, gestattete Carpenter sich noch eine Vision. Sie war nur kurz, aber wie eine Erlösung: eine grün-goldene Sonne, ein strahlender limonengrüner Himmel, ein Wald von feuchtschimmernden Blattwedeln, ein See voll perlenden reinen Wassers. Das neue Eden, das neue Paradies, unverdorben und unbesudelt, und es wartete darauf, dass die gestrafte, demütig gewordene Gattung Mensch es finden und besiedeln würde. Und er, Carpenter, würde zu der Vorhut gehören, die in den interstellaren Raum vordrang.

Nein!, korrigierte er sich.

Du darfst dir keine Träume erlauben. Dann gibt es auch keine Enttäuschungen. Geh auf die Reise und warte ab, was kommt; hoffe, dass es gut wird, aber rechne mit nichts. Möglich, dass wir unsere Sache diesmal besser machen werden.

Oder vielleicht auch nicht.


Die Tür glitt auf, und ein Gesicht sah ihn fragend an. Für einen kurzen blitzhaften Augenblick glaubte Carpenter, dass ihm da das Gespenst von Victor Farkas erwartungsvoll entgegenblickte.

Doch es war nicht Farkas. Nein – nein, das war er nicht. Aber es war der gleiche augenlose hochgewölbte Schädel, das ja. Aber der Mann da war viel jünger, schlanker, drahtiger und kleiner als Farkas, hatte eine olivdunkle Hautfarbe, schmale Schultern, und er lächelte breit und ironisch und wirkte insgesamt jugendlich und überheblich. Keine Spur von Farkas.

Carpenter stellte sich vor: »Ich bin Paul Carpenter, der Neue für die Sternenschiff-Besatzung.«

Der Mann ohne Augen nickte ihm zu. »Komm rein. Und willkommen bei uns im Projekt Long Jump.« Er reichte ihm die Hand. »Ich heiße Juanito.«

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