Der Hafen von Oakland war ein Labyrinth aus grauen Stahlkonstruktionen auf vierzehn unterschiedlichen Stockwerken. Carpenter hielt seine ID-Plakette in der erhobenen Handfläche, um sie rasch jedem Laser-Scanner unterwegs hinhalten zu können, und stieg von einer Flucht in die nächste, auf und wieder ab, gehorsam den Weisungen unsichtbarer metallischer Stimmen folgend, bis er endlich am Wasser selbst anlangte, das dunstig und leuchtend unter dem heißen Mittagsdunst lag. Er sah Dutzende von Schiffen gemächlich im schlammigen, stillen Wasser dümpeln wie schlafende Enten.
Sein Schiff, die Tonopah Maru, war nach der Fahrt von der San Pedro-Werft in Los Angeles gerade erst eingelaufen. Sie lag hier an der Oaklandseite der Bucht – die Piers in San Francisco waren seit über einem Jahrhundert nur noch reine Touristenfallen –, und an diesem heißen, stickigen Nachmittag voller beinahe tödlicher Inversion in der Atmosphäre, die bräunlich-grüne Luft drückte wie eine Faust aus einem Betonhimmel nieder, und sogar im wundervollen San Francisco war die Atemmaske unumgänglich, war Carpenter hinübergefahren, um seine Mannschaft kennenzulernen und formal das Kommando zu übernehmen.
Am Kai unten stieß er nicht nur auf die üblichen blitzenden Batterien von Laser-Scannern, sondern auch auf einen gigantischen quadratschädeligen Roboter, der den Zugang zu den Piers bewachte wie Cerberus die Pforten der Hölle. Die Maschine drehte sich langsam zu ihm herüber.
»Captain Carpenter. Kommandant der Tonopah Maru«, sagte er. Es klang derart pompös und überheblich, dass er Mühe hatte, nicht über sich selbst zu lachen. Er kam sich vor wie eine der Figuren bei Joseph Conrad; der ernsthafte junge Skipper, der sein erstes Kommando antritt und sich der gelangweilten alten Teerjacke gegenübersieht, die das alles hundertmal erlebt hat und sich einen Dreck darum schert.
Und der Roboter, der höchstwahrscheinlich noch nie etwas von Conrad gehört hatte, war von Carpenters neuem Status weder amüsiert noch beeindruckt. In düsterem Schweigen unterzog er Carpenters Papiere einem erneuten Lasercheck, fand sie in Ordnung, leuchtete ihm in die Augen, um völlig sicher zu sein, und schickte ihn dann aus der Wachkabine hinaus in die bratende Sonnenhitze, um sein Schiff zu finden.
Sein Indoktrinationskurs hatte nicht ganz eine Woche gedauert. Völlig unterschwellig, eine Stunde täglich, am Datentropf hängend, und jetzt wusste er (oder hoffte, dass er wisse) so ziemlich alles, was er brauchte, um Kapitän eines Eisbergschleppers im Südpazifik zu spielen. Und was bei seinem Trockenkurs an Land eventuell an Ausbildung versäumt worden war, würde man auf See dazulernen müssen, doch das beunruhigte ihn nicht. Er würde schon zurechtkommen. Irgendwie schaffte er es immer.
Er entdeckte sein Schiff beinahe sofort, erkannte die Tonopah Maru an dem gewaltigen Greifergetriebe und der Winde und an den großen Zapfstellen, die einen Großteil des Decks einnahmen. Erst tags zuvor hatte er gelernt, dass sie dazu dienten, die eingefangenen Eisberge mit einem das Abschmelzen verzögernden Sinterüberzug aus spiegelndem Staub zu bedecken. Das Schiff hatte einen langen schlanken Rumpf wie eine Zigarre, elegant und beinahe beunruhigend schmal in der Kontur. Es lag merkwürdig hoch im Wasser, im Vergleich zu den vielen übrigen Spezialfahrzeugen, die das vertraute kühne Firmenemblem der Samurai Industries – Sonne und Zackenblitz – aufwiesen. Er hatte keine Ahnung, wozu die anderen Schiffe dienten: Seegrassammler, Garnelenfänger, Kalamarjäger und so fort. Auf den Meeren waren derzeit unzählige Arbeitsschiffe unterwegs und heimsten die noch verbliebenen Reichtümer der See ein. Jeder Schiffstypus war nur für einen Zweck gut tauglich, für den jedoch hervorragend.
Ein wuchtiger plattnasiger grauhaariger Mann, dessen von Screen hervorgerufener Hautpanzer ihm ein merkwürdig mitternächtliches Aussehen verlieh, stand an Deck und spähte durch das Okular eines Navigationsinstruments, das er offenbar justieren wollte. Das Gerät lieferte Carpenter einen Hinweis, wer der Mann sein könnte – sein Ozeanograph/Navigations-Offizier, also im wesentlichen seine Nummer Zwei. Er rief zu ihm hinunter:
»Bist du Hitchcock?«
»Yeah!« Es klang argwöhnisch und ein wenig abweisend.
»Ich bin Paul Carpenter. Der neue Kapitän.«
Hitchcock betrachtete ihn abschätzend, lange und fest. Die Augen standen ziemlich weit vor und waren rotgerändert.
»Schön. Ja. Komm an Bord, Cap'n.«
Keine Wärme in der Aufforderung, aber damit hatte er ja auch nicht gerechnet. Er begriff, er war der Gegner, der feindliche Vertreter der Managerkaste, nur dank einer Willkürentscheidung einer fernen Bürokratie auf Zeit zu der Position der Befehlsgewalt über die Mannschaft der Tonopah Maru befördert. Sie hatten seinem Befehl zu gehorchen, doch das bedeutete nicht, dass sie ihn mögen, ihn respektieren oder im geringsten von ihm beeindruckt sein mussten.
Trotzdem, es galt den Schein zu wahren. Carpenter ging über die Laufplanke an Bord, ließ seinen Seesack aufs Deck fallen und wartete gelassen, dass Hitchcock zu ihm komme, um ihn per Handschlag zu begrüßen.
Das Händeschütteln war dann aber doch relativ herzlich. Hitchcock bewegte sich träge, aber sein Griff packte fest und ehrlich zu, und Carpenter bekam sogar ein Lächeln ab.
»Fein, dich kennenzulernen, Cap'n.«
»Ebenso. Woher kommst du, Hitchcock?«
»Maui.«
Damit war die Hautfarbe erklärt, das Gesicht und das graue Haar. Ein Afro-Hawaii-Mischling und massenhaft Screen, was den Hautton noch vertiefte. Und der Mann war größer, als er von oben her gewirkt hatte, und älter, gut und gern in den Fünfzigern.
»Wunderschön dort«, sagte Carpenter. »Ich war mal dort, vor Jahren. Der Ort hieß Wailuku.«
»Yeah«, sagte Hitchcock ohne großes Interesse. »Wir laufen morgen früh aus, ja, Cap'n?«
»Richtig.«
»Warst du schon mal an Bord von so 'nem Schiff?«
»Nein. Eigentlich nicht«, sagte er gelassen. »Nein, ich fahre zum ersten Mal raus. Würdest du mich rumführen? Ich möchte das Schiff besichtigen, und dann würde ich gern die übrige Besatzung kennenlernen.«
»Sicher. Gern. Einer ist grad da. He, Nakata! Komm her und begrüß den neuen Käp'n!«
Carpenter kniff die Augen gegen den Sonnenglast zusammen und erkannte eine winzige Gestalt hoch droben in den Aufbauten am anderen Ende des Schiffs, die am Hüsing der Greifermaschinen arbeitete. Vor der gigantischen Maschinerie wirkte der Mann wie ein Zwerg, vor diesem gewaltigen stummen Mechanismus, der in der Lage war, die riesenhaften Greifkrampen weit hinauf und hinaus und tief in die Flanken sogar der mächtigsten Eisberge zu schleudern.
Hitchcock schwenkte den Arm, und Nakata kletterte herab. Der Grapplemaschinist war ein katzenhaft geschmeidiger kleiner Kerl mit Kulleraugen und wirkte enorm selbstbewusst. In der Firmennomenklatura schien er ein wenig höher als Hitchcock zu stehen. Ohne zu zögern streckte er Carpenter die Hand entgegen, wie ein Gleichrangiger. Wahrscheinlich das gewöhnliche aufgesetzte Selbstsicherheitsgehabe der Japaner, dachte Carpenter. Nicht dass es einem Mann etwas brachte, Japano-Amerikaner zu sein, um in der Samurai-Hierarchie voranzukommen, ebenso wenig wie einem polnisch-stämmigen Amerikaner oder einem türkischer Abstammung. Die echten Nippos räumten ihren mischblütigen Vettern keine Sonderstellung ein. Ein japanischer Name machte einen nicht automatisch zum Japaner, so wie sie das sahen. Ganz schön harte Brocken, die Leute.
Nakata grinste. »Wir holen uns ein paar Riesenberge rein, was, Skipper? Damit San Francisco nicht zu sehr Durst leiden muss.« Er kicherte.
»Was ist denn so komisch bei San Francisco?«, fragte Carpenter.
»Alles«, erwiderte Nakata. »Ein verdammt blöder Ort. War's schon immer. Verrückte und Schwule und Datenfreaks und solche Typen. Du bist doch nicht selber aus Frisco, Skipper?«
»Nee, eigentlich aus Los Angeles, um genau zu sein. Aus West L. A.«
»Ach, dann isses okay. Ich bin aus Santa Monica. Gleich nebenan. Ich fand es hier oben immer ziemlich beschissen. Samurai hatte unsern Kahn an L. A. verchartert, weißt du, bis auf einmal im letzten Monat Frisco uns angefordert hat.« Er zeigte beiläufig auf die Bucht hinter sich, auf die bezaubernde Hügelstadt über dem Hafen. »Ich finde, es ist irgendwie verdammt komisch, dass ich arbeiten muss, um Wasser nach Nordkalifornien zu bringen. Aber man macht eben, wofür sie einen bezahlen, stimmt's, Skipper?«
Carpenter nickte.
»Genau«, sagte er. »So funktioniert das System.«
»Soll ich dir jetzt das Schiff zeigen?«, fragte Hitchcock.
»Da sind noch zwei weitere Besatzungsmitglieder, die ich sehen sollte, nicht?«
»Yeah, Caskie und Rennett. Die sind rauf in die Stadt, kommen aber bestimmt bald zurück an Bord.«
Rennett war für Wartung/Operations zuständig, Caskie war Communications-Operator. Alle beide waren Frauen. Carpenter war ein wenig ärgerlich darüber, dass sie nicht zugegen waren, um seiner offiziellen Kommandoübernahme gebührend beizuwohnen, aber andererseits, er hatte sich ja nicht zu einer bestimmten Zeit angekündigt. Die offizielle Begrüßung konnte durchaus warten, sagte er sich.
Hitchcock zeigte ihm das Schiff. Zuerst die Sprinkler und die Greifermechanik an Deck, nebst einem Blick auf die gewaltigen Krampen selbst, die in einer Nische der Schiffswand eingezogen lagerten; dann unter Deck der starke Fusionsantrieb, der eine mittelgroße Insel um die halbe Welt schleppen konnte.
»Und hier haben wir die wunderbaren Kabinen«, verkündete Hitchcock.
Man hatte Carpenter gewarnt, keinen üppigen Luxus zu erwarten, doch damit hatte er denn doch nicht ganz gerechnet. Es war, als hätten die Schiffskonstrukteure vergessen, dass es eine menschliche Besatzung an Bord geben werde, und sozusagen im Nachhinein zwischen der ganzen Maschinentechnik ein wenig Platz für sie dazwischengezwängt. Die Quartiere und Nutzräume für Carpenter und die anderen waren in alle möglichen Eckchen und Winkel gequetscht. Seine eigene Kabine war etwa ein Barthaar weiter als die übrigen vier, doch auch sie war kaum größer als diese sarggroßen Schlafkapseln, wie man sie in Flughafenhotels zugemutet bekommt; und als Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten war für alle am Heck eine kleine kuppelförmige Blase eingerichtet und auf dem Vorschiff, wo Carpenter Hitchcock seine Ausrüstung prüfen gesehen hatte, war Platz für ein paar Schritte auf und ab.
Leben in einer Sardinenbüchse, dachte er.
Aber die Bezahlung war anständig, und es bestand Aussicht auf Beförderung für ihn. Und wenigstens würde er auf See frische Luft atmen können, mehr oder weniger, statt in der dicken grau-braun-grünen Brühe sein zu müssen, die über den bewohnbaren Teilen der nordamerikanischen Westküste fast ständig hing.
»Hast du die Navigationsbestimmung mitgebracht, Cap'n?«, fragte Hitchcock, nachdem er alles besichtigt hatte, was es da zu sehen gab.
Carpenter klopfte sich auf die Brust. »Hier.«
»Hast du was dagegen, wenn ich mich mal dransetze und anfang, damit zu arbeiten?«
Carpenter reichte Hitchcock den kleinen blauen Datenkubus, den sie ihm an diesem Morgen in der Instruktionszentrale gegeben hatten. Er wusste, es war eine Art Zeremonie für die offizielle Übernahme des Schiffskommandos, dass dem Navigationsoffizier die Software für die Fahrt übergeben wurde, die das Arbeitsprogramm ihrer Reise festlegte. Natürlich musste Hitchcock bereits jetzt schon wissen, wohin ungefähr sie fahren sollten, und wahrscheinlich hätte er sie auch einigermaßen sicher dorthin bringen können, wie das seit den Zeiten von Francis Drake zahllose Seefahrer getan hatten, die sich im Südpazifik zurechtfanden. Oder seit Captain Cook. Die hatten damals keine Computer gebraucht – und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte auch Hitchcock keinen für seine Navigation nötig. Aber die Übergabe des Datenkubus an den Navigator war die moderne Variante der Lagebesprechung vor dem Mast am Abend vor dem Auslaufen, und Carpenter hatte nichts gegen das Ritual; es bereitete ihm sogar ein leises Vergnügen, nun sozusagen Erbe einer uralten Tradition zu sein.
Kapitän eines Schiffs auf See. Odysseus, Vasco da Gama, Columbus, Magellan, Captain Kidd, Captain Cook, Captain Ahab.
Hitchcock ließ ihn in seiner winzigen, engen Kabine allein. Er stopfte seine Sachen in die Laden, so gut es eben ging. Danach rief er über Funk Nick Rhodes in seinem Büro in den Santachiara-Labors an.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie luxuriös mein Quartier ist«, sagte er zu Rhodes. »Ich komme mir vor wie J. P. Morgan auf seiner Yacht.«
»Das freut mich enorm für dich«, sagte Rhodes ausdruckslos.
Der Visor in Carpenters Kabinenapparat war nicht viel größer als eine Briefmarke, und das Bild war schlechte Schwarzweißqualität, wie aus den frühen Anfängen der elektronischen Entwicklung. Dennoch erkannte er, dass Rhodes verdrossen und mutlos dreinblickte.
»Eigentlich ist das eine absolute, hundertprozentige Lüge«, sagte Carpenter. »Mein Quartier ist ein klaustrophobisches Loch. Wenn ich hier drin 'nen Ständer kriege, kann ich mich nicht mehr umdrehen … Was läuft schief, Nick?«
»Schief?«
»So unübersehbar wie deine Nase auf meinem Visor. Komm schon, mir brauchst du doch nichts vorzumachen.«
Rhodes zögerte.
»Ich hab grade mit Isabelle gesprochen.«
»Und?«
Wieder eine zögernde Pause. »Was hältst du von ihr, Paul? Ehrlich.«
Carpenter überlegte, wie weit er sich darauf einlassen sollte. Vorsichtig sagte er: »Eine sehr interessante Frau.« Rhodes schien mehr zu erwarten. »Wahrscheinlich extrem leidenschaftlich«, setzte er dann noch hinzu.
»Ich fragte, was du wirklich von ihr denkst.«
»Und tief in ihren Überzeugungen verhaftet.«
»Ja, das ganz bestimmt.«
Carpenter zögerte wieder einen Augenblick, dann entschloss er sich. Man schuldet seinem Freund die Wahrheit. »Aber ihre Überzeugungen sind völlig verkorkst. Ihr Kopf steckt voll von blöden unklaren Ideen, und die gießt sie über dich aus. Liegt da nicht euer Problem, Nick?«
»Genau. – Sie treibt mich zum Wahnsinn, Paul.«
»Spuck's aus.«
»Heute Nacht, im Bett. Ich lange zu ihr rüber – das tue ich immer, wenn wir zusammen sind, es ist so natürlich für mich wie atmen –, aber nein, nein, sie will über unsere Beziehung reden. Nicht über mich, nicht über sich, sondern Die Beziehung. Jetzt sofort in diesem Moment, zu keiner anderen Zeit. Sie sagt, meine Arbeit gefährdet Die Beziehung!«
»Ich würde sagen, das stimmt wahrscheinlich. Was ist dir denn wichtiger?«
»Das ist ja das ganze Dilemma, Paul. Beides ist mir gleich wichtig. Ich liebe meine Arbeit, und ich liebe Isabelle. Aber sie will, dass ich Santachiara aufgebe. Sie setzt mir nicht grad die Pistole auf die Brust, entweder ich kündige, oder sie verlässt mich, weißt du, aber unausgesprochen ist es so.«
Carpenter schlug mit den Fingernägeln gegen seine Schneidezähne. »Willst du sie heiraten?«, fragte er nach einem Moment.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich denke nicht viel über eine neue Heirat nach. Noch nicht. Aber ich möchte mit ihr zusammenbleiben, das ist absolut sicher. Wenn sie darauf bestehen würde, dass ich sie heirate, würde ich's wahrscheinlich tun. Ich muss dir gestehen, Paul, die körperliche Seite der Sache ist das Tollste, was ich je erlebt habe. Ich kriege am ganzen Leib das Kribbeln, wenn ich in ein Zimmer komme, in dem sie ist. Zwischen den Beinen, in den Fingerspitzen, den Fußknöcheln. Ich spüre es wie eine Art Strahlung von ihr zu mir, und ich werde davon sofort ganz heiß. Und wenn ich sie berühre, wenn wir anfangen, uns zu lieben …«
Carpenter betrachtete bedrückt den Visor. Rhodes klang wie ein liebeskranker Collegejunge. Nein, schlimmer, wie ein verdrehter alter zwanghafter Erotomane.
»Ich sag dir, wenn wir uns lieben – du kannst es dir einfach nicht vorstellen … du kannst es dir einfach nicht vorstellen …«
Na klar, nicht. Er hörte weiter zu, während Rhodes sich hymnisch über den sagenhaften Sexappeal von Isabelle Martine ausschüttete, und die ganze Zeit über konnte er dabei an nichts anderes denken als an den gigantischen Haufen rostfarbener Stahlwollehaare auf ihrem Kopf und an diese harten, erbarmungslosen, neurotisch-wilden Augen.
»Schön-schön«, sagte er schließlich. »Du bist also richtig scharf auf sie. Ich denke, ich kann das verstehen. Vermutlich. Aber wenn sie verlangt, du sollst deine Arbeit aufgeben …« Er runzelte die Stirn. »Weil deine Arbeit teuflisch ist, nehme ich an? Dieses ganze faule Gesabber von wegen, du verwandelst die menschliche Rasse in ekelhafte gespenstische Frankensteinmonster?«
»Ja.«
Carpenter spürte, wie allmählich Verärgerung in ihm hochstieg. »Du weißt doch genauso gut wie ich, dass das weiter nichts ist als die übliche wissenschaftliche Scheiße, wie sie von Leuten ihres Schlages mit Spatzenhirnen seit Beginn der Industriellen Revolution verbreitet wird. Du selber hast mir gesagt, sie habe dir gestanden, dass sie keine Alternative für die Anpassung sieht. Und trotzdem macht sie weiter und kanzelt dich ab, weil du für Santachiara arbeitest. Himmel, Nick! Brillante Wissenschaftler wie du sollten doch mehr Hirn haben, als sich emotional auf derartige Leute einzulassen.«
»Zu spät, Paul. Ich häng schon zu tief drin.«
»Schön. Sie hat dich verhext mit ihrer magischen Muschi, die äußerste Lust spendende, phantastische Qualitäten besitzt und einzigartig und unersetzlich ist, so dass du nie wieder etwas Vergleichbares finden könntest, auch wenn du die ganze weibliche Welt links und rechts und von vorn bis hinten abgrasen würdest, und deshalb …«
»Bitte, Paul!«
»Tut mir leid«, sagte Carpenter.
Auf Rhodes' Gesicht trat ein schafsmäßiges, törichtes Lächeln. »Ich gebe ja zu, sie hat mich ganz blöd am Schwanz. Es stimmt ja, aber so ist es nun mal, und ich kann nichts machen. Und ich weiß auch sehr genau, dass ihre politischen Überzeugungen dummes, ignorantes Gelabere sind. Das Problem ist nur, Paul, dass ich ihr in gewisser Weise zustimmen muss.«
»Was? Du hast dich wirklich echt in den Dreck gesetzt, ja? Du stimmst mit ihr überein?«
»Nicht darin, dass es falsch ist, wenn wir Gentechniken entwickeln, die helfen können, dass wir mit den ganzen Übeln fertig werden, die auf uns zukommen. Nein. Isabelle steckt bis obenhin voll Mist, wenn sie glaubt, wir könnten hier auf der Erde überleben, ohne die menschliche Rasse zu modifizieren. Es wird sein müssen! Es gibt keine andere Wahl.«
»Und worin stimmst du dann mit ihr überein?«
»Also, es ist so: Die Genforschung, die bei uns im Santachiara durchgeführt wird, ist jetzt bereits allen anderen Arbeiten weit voraus, die sonst wo betrieben werden. Samurai hat, wie alle andern, seine Industriespionage-Abteilung, und die Berichte, die ich erhalte, überzeugen mich denn doch, dass wir ganz vorn liegen. Und diese neue Richtung, von der ich letzte Woche mit dir gesprochen habe, die dieser Junge, dieser Alex Van Vliet machen möchte, würde den entscheidenden Durchbruch bringen. So sehr es mir zuwider ist, ich muss es sagen, so bizarr Van Vliets Ideen sind, sie scheinen bessere Chancen zu haben, dass die Menschheit mit den auf sie zukommenden Umweltproblemen des nächsten Jahrhunderts besser fertig werden könnte, als alles, was ich sonst wo gesehen habe.«
»Diese Haemoglobinsache.«
»Genau. Es fehlen zwar noch einige wichtige kritische Durchbrüche, aber wer könnte sagen, dass diese Probleme nicht überwunden werden könnten? Du weißt, ich würde am allerliebsten sein ganzes Projekt über Bord schmeißen und begraben, weil es mich mit Schaudern erfüllt. Aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Nicht ohne wenigstens ein paar anständige Simulationen und echte Laborversuche laufen zu lassen. Es klingt sicher altmodisch, aber mein Gewissen erlaubt es mir nicht, das Projekt a priori ohne Tests abzuwürgen.«
»Aber das ist doch richtig. Es ist in Ordnung, dass du ein Gewissen hast, Nick.«
»Ich habe Bedenken bei seinem Konzept, nicht bloß moralische, die ich dir gesagt habe, auch technische. Ich bin ganz und gar nicht sicher, dass es machbar ist, oder – wenn es möglich ist –, dass man es machen sollte. Aber ich bin in dieser Hinsicht sehr konservativ. Ich bin allmählich ein bisschen zu angegraut für große spekulative Sprünge. Es ist denkbar, dass ich einfach ein hoffnungsloser alter Prinzipienzimperer bin, und Van Vliet ist ein echtes Genie. Aber die einzige Methode, das herauszufinden, ist die, dass ich seinem Vorschlag die Chance einer richtigen angemessenen Überprüfung gebe. Okay, also werden wir genau das machen. Ich habe ein paar Tage lang herumgezögert, aber dann habe ich heute morgen Van Vliet zu mir gebeten und ihm gesagt, dass ich eine Erhöhung seines Forschungsbudgets beantragen werde.«
»Der einzige faire Weg«, sagte Carpenter.
»Aber falls es sich herausstellt, dass er tatsächlich etwas Brauchbares gefunden hat und Santachiara es erfolgreich entwickeln kann, dann hätten damit die Samurai Industries ein Monopol, das Überleben der Menschheit auf der Erde zu kontrollieren. Ein Monopol, wer überleben darf, Paul. Verstehst du?«
»O Gott!«
»Was, du willst gern weiteratmen? Schön, dann lass dich von Samurai retrofitten. Du willst Kinder in diese Welt setzen, die in der Lage sind, auch außerhalb von Isolationskammern zu überleben? Wunderbar! Aber dann lasst eure Gene bei Samurai umstrukturieren. Es wäre die Weltherrschaft, Paul. Absolute Kontrolle! Und da bin ich jetzt und fange bereits an, das Geschenkpaket zu verpacken, damit es nach New Tokyo geliefert werden kann. Was glaubst du, wie ich mich fühle? Ohne dass – wirklich ganz ohne, dass – mir Isabelles ewiges Gerede in den Ohren schrillt?«
»Und wenn du jetzt bei der Firma kündigen würdest? Würde es nicht auf genau das Gleiche rauslaufen? Ein anderer würde das Paket liefern, nicht du.«
»Ja, es wäre jemand anderes. Und das ist es eben.«
»Und was hast du vor, was würdest du dann tun?«
»Ich könnte überall Arbeit finden. Bei Kyocera. Bei IBM/Toshiba. Bei einer der Schweizer Megagruppen.«
»Und vier Generationen später gehört die ganze Welt Samurai Industries.«
»Vier Generationen später werde ich nicht mehr da sein. Und dann wird wenigstens keiner mich verfluchen, weil ich dazu beigetragen habe, denen die Menschheit auszuliefern.«
»Du klingst genau wie damals diese paar Physiker im zwanzigsten Jahrhundert, die sich weigerten, an der Entwicklung der Atombombe mitzuarbeiten, weil es eine zu tödliche Waffe werden und nie zum Einsatz kommen werde. Gebaut wurde sie aber trotzdem, auch ohne ihre Mitwirkung. Es gab andere Leute, die da bereitwillig mitgemacht haben. Was bedeutet es schon auf lange Sicht, ob Wissenschaftler A moralische Bedenken hatte oder nicht, wenn das Ding gewünscht und gebraucht wurde und die Wissenschaftler B und C zur Verfügung standen und die Sache erledigen konnten?«
»Aber vielleicht machte es einen Unterschied für A«, sagte Rhodes. »Er schläft vielleicht nachts ruhiger. Oder kann sich im Spiegel ansehen. Aber die Analogie ist falsch, Paul. Damals war Krieg, ja? Man musste loyal zu seinem Land stehen.«
»Wir haben auch jetzt Krieg«, sagte Carpenter. »Eine andere Art Krieg, aber trotzdem Krieg. Und es sieht so aus, als ob wir ihn verlören, wenn wir nicht was Drastisches dagegen tun. Das hast du selber gesagt.«
Rhodes blickte ihn trübselig an. Interferenzwellen irgendwo hoch über dem Erdboden zeichneten verwaschene graue Streifen über sein Gesicht.
»Ich bin nicht besonders stark, Paul. Das weißt du doch. Vielleicht kann ich einfach die Vorstellung nicht ertragen, dass ich die moralische Verantwortung übernehmen soll, Samurai Industries könnten eine derartige Macht über die Welt bekommen. Wenn wir die ganze menschliche Rasse umschneidern müssen, dann dürfte nicht ein einziger Megamulti Profit daraus schlagen.«
»Also hast du tatsächlich vor, dort aufzugeben, Nick?«
»Ich weiß es noch nicht. Der Gesichtspunkt, dass Samurai zu mächtig werden würde, ist für mich enorm verwirrend. Ich musste mich mit sowas noch nie vorher auseinandersetzen. Und ich liebe meine Arbeit. Ich bin gern bei Santachiara. Meistens glaube ich, was wir da machen, ist wichtig und notwendig. Aber Isabelle, die übt scheußlich Druck auf mich aus, und das bringt mir den ganzen Kopf durcheinander. Und wenn sie wirklich begreifen würde, weshalb ich tatsächlich hier so besorgt bin, würde sie mir keine ruhige Minute mehr lassen. Sie hält die Großmultis sowieso für eine Bedrohung. Und Samurai ganz besonders.«
»Sie ist eine verstörte Frau, Nick.«
»Nein, sie ist nur tief besorgt …«
»Hör mir jetzt zu! Sie ist emotional gestört. Genau wie ihre Freundin, diese Jolanda, die du mir freundlicherweise neulich nachts ins Bett geschoben hast. Die beiden sind sexuell hochbegabt, und wir, die wir auf der Suche nach ein bisschen erlösender Fummelei umherschweifen, sind aufs höchste empfänglich für das rätselhafte geheimnisvolle Opium, das uns zwischen ihren Beinen entgegenströmt, aber ihre Köpfe stecken bis obenhin voll von blödem Mist. Sie sind ungebildet, und sie haben von nichts wirklich eine Ahnung und sind nicht einmal fähig, klar zu denken: Sie fallen auf jeden Der-Himmel-stürzt-ein-Quark herein, der gerade in Mode ist, und sie rennen herum und kreischen und demonstrieren und wollen die Welt auf fünferlei in sich selbst widersprüchliche Art gleichzeitig retten.«
»Ich vermag nicht zu sehen, wie das deine Behauptung rechtfertigen soll, dass sie emotional gestört ist«, sagte Rhodes steif.
»Selbstverständlich vermagst du das nicht zu sehen. Du bist in sie verliebt, also kann sie nichts falsch machen. Aber schön, wenn Isabelle dich liebte, wäre sie bereit, dir auf halbem Weg entgegen zu kommen, was die Auswirkungen deiner Arbeit betrifft, statt dich mit ihrer paranoischen Eifersucht zu plagen, dieser Abscheu vor deinem hingebungsvollen Bemühen, die menschliche Spezies zu retten. Aber sie liebt vielmehr die Macht, die sie über dich hat, und erhofft sich dabei den sublimen erregenden Kick, dich vor einem schweren Fehler zu bewahren. Sie ist außerstande, die inhärenten Widersprüche in ihrem Hass auf die Adapto-Forschung zu begreifen, und jetzt gelingt es ihr auch noch, diese Widersprüche in deinen Kopf zu exportieren. Du hast dich da auf eine höchst unpassende Person eingelassen, Nick. Ich an deiner Stelle würde keine zwei Sekunden lang zögern, um sie loszuwerden.«
»Ich hoffe eben immer noch, dass sie sich zu meiner Überzeugung bekehrt.«
»Genau. Die Vernunft wird siegen – wie immer. Nur, meiner Erfahrung nach siegt die Vernunft fast nie. Und was ist deine Überzeugung, bitte? Du möchtest in deiner Arbeit erfolgreich sein, aber dieser Van Vliet beunruhigt dich und du fürchtest dich grässlich, du könntest am Ende Samurai den Schlüssel zur Weltherrschaft aushändigen.« Carpenter holte tief Luft. Er überlegte, ob er Rhodes nicht vielleicht zu hart zusetzte. »Willst du 'nen raschen billigen Rat? Gib die Gentechnik nicht auf. Du bist doch zutiefst überzeugt, dass deine Arbeit wichtig und notwendig ist. Oder?«
»Also …«
»Selbstverständlich. Du hegst bestimmte Bedenken dagegen, den Samurai Industries eine solche gewaltige Macht in die Hände zu geben, und ich begreife durchaus, aus welcher Ecke das kommt; aber im Grunde glaubst du doch fest, dass die Anpassung des Menschen an die künftige veränderte Atmosphäre der einzige Weg ist, die Zivilisation auf der Erde zu erhalten.«
»Ja. Das glaube ich.«
»Klar, verdammt noch mal. Die Arbeit ist doch das einzige, was einen in dieser elenden verrückten Treibhauswelt bei Verstand bleiben lässt. Spiel nicht einmal mit dem Gedanken, deine Arbeit hinzuschmeißen. Vergrab dich in sie so tief wie möglich, und wenn Isabelle da nicht mitmachen will, such dir eine andere Geliebte. Ich meine es ernst. Eine Zeitlang wirst du dir vorkommen wie nach einer Amputation, und dann triffst du jemand Neues – die Leute tun das die ganze Zeit – und es ist vielleicht nicht ganz so zauberhaft wie mit Isabelle, aber es wird gehen, und nach 'ner Weile fragst du dich, was diese ganze Verzauberung eigentlich überhaupt war.«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich …«
»Glaub nicht, handle! Und was deine Bedenken angeht, du könntest Samurai die Welt auf einem Silbertablett überreichen, auch das ist leicht. Steig bei Santachiara aus und geh woanders hin, etwa zu Kyocera-Merck. Nimm deine ganze Abteilung mit. Bring deine Gentechnologie auf den Wettbewerbsmarkt. Und lass Samurai und K-M um die Weltbeherrschung kämpfen. Aber dabei wird dann wenigstens die Technologie bereit stehen, wenn wir sie brauchen.«
»Das könnte ich nie tun. Es wäre Vertragsbruch. Die würden mich hetzen und umbringen.«
»Es soll schon Leute gegeben haben, die die Firma wechselten und es überlebt haben, Nick. Du könntest Personenschutz erhalten. Geh einfach an die Öffentlichkeit, erzähl der Welt, weshalb du willst, dass nicht nur ein Megamulti über das Geheimnis der Adaptotechnik verfügen sollte. Und dann …«
»Hör zu, Paul, dieses Gespräch wird recht riskant.«
»Ja, ich weiß.«
»Wir beenden es besser. Ich muss über all das nachdenken, was du mir gesagt hast.«
»Wir laufen morgen aus. Ich werde wochenlang draußen im Pazifik sein.«
»Gib mir die Nummer, wie ich dich an Bord erreichen kann.«
Carpenter überlegte kurz. »Nein. Ungute Idee. Samurai-Schiff, Samurai-Funkkanäle. Wir reden, wenn ich wieder zurück in Frisco bin.«
»Okay. Schön.« Rhodes klang sehr nervös, als malte er sich aus, wie ihre Unterhaltung bereits in den höchsten Chefetagen der Firma diskutiert würde. »He, und Paul, danke für alles, was du mir gesagt hast. Ich weiß, du hast mir für mich wichtige Sachen gesagt. Ich weiß aber nicht, ob ich mich danach richten kann.«
»Das liegt ganz bei dir, Kamerad, nicht wahr?«
»Ja, ich denke schon.« Ein blasses Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du, pass gut auf dich auf da draußen auf hoher See. Bring mir einen Eisberg mit, ja? Einen kleinen.«
»So groß.« Carpenter deutete mit Daumen und Zeigefinger ein paar Zentimeter an. »Viel Glück, Nick.«
»Danke«, sagte Rhodes. »Für alles.«
Der Visor wurde leer. Carpenter zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Eine Wallung von Mitgefühl für Nick Rhodes überkam ihn und das fatale Gefühl, dass alles, was er ihm gerade gesagt hatte, vergeblich gewesen sei. Sicher, Rhodes litt; doch er war wirklich zu schwach, zu sehr durcheinander, zu waidwund, als dass er das, was ihn verletzte, einfach hinter sich hätte zurücklassen können. Das Scheitern seiner Ehe hatte ihn damals beinahe umgebracht, und als Reaktion darauf hatte er sich mit einer musterhaften San Franciscoer Radikalziege mit Luft im Hirn eingelassen, und da saß er jetzt, hoffnungslos eingefangen von Isabelle Martins bezaubernder Muschi, kam Abend für Abend aus seinem Labor zurück und ließ ihre wilden Tiraden gegen die Genmanipulation über sich niederprasseln. Hinreißend. Und zu alledem dann die Besorgnis, dass die Arbeit seiner Forschungsgruppe tatsächlich erfolgreich sein könnte und dass durch diesen Erfolg Samurai Industries die Weltwirtschaft in einen mörderischen Würgegriff bekommen würde. Das alles wies auf eine gewisse masochistische Tendenz in Rhodes' Psychostruktur hin, wie sie Carpenter früher nie bewusst wahrgenommen hatte.
Scheiße, dachte er. Rhodes macht sich einfach zu viele Sorgen, das ist die reine nackte Wahrheit. Damit bringt er sich noch in ein frühes Grab. Aber es scheint ihm Spaß zu bringen, wenn er sich Sorgen macht. Carpenter fand das ziemlich schwer zu verstehen.
Er stieg nach oben, um nachzusehen, ob seine restliche Crew an Bord gekommen sei.
Anscheinend waren inzwischen alle da. Auf der Leiter hörte er Stimmen, die grobe heisere Hitchcocks und Nakatas hellen Tenor, aber auch zwei weibliche Stimmen. Er hielt inne und lauschte.
»Wir kommen sowieso klar«, sagte Hitchcock.
»Aber wenn er bloß ein blöder Firmenarsch ist …« Die weibliche Stimme.
»Arsch, ja. Aber wahrscheinlich nicht blöd.« Das war Nakata. »Blödmänner steigen nicht bis Elf auf.«
»Was mir gar nicht passt«, sagte Hitchcock, »ist, dass sie uns dauernd diese verdammten Firmenkerle vorsetzen, statt 'nen echten Seemann zum Käpt'n zu machen. Bloß weil die irgendwie gelernt haben, welche Knöpfe man drücken muss, heißt das keinen verdammten Furz, und das sollten die besser wissen.«
»Hör mal, solang er seinen Job gut macht und uns in Frieden lässt …« Diesmal eine andere Frauenstimme.
Yeah, dachte Carpenter. Ich werde die Knöpfe drücken, die ich drücken soll, und ich lasse euch in Ruhe, solange ihr eure Knöpfe drückt, dann sind wir alle glücklich und zufrieden. Okay? Abgemacht?
Das Genörgel beunruhigte ihn nicht. Es gehörte dazu, wenn ein neuer Boss an Bord kam. Jede andere Reaktion wäre viel überraschender gewesen. Es gab keinen Grund, weshalb sie ihn auf Anhieb lieben sollten. Er würde ihnen einfach klarmachen müssen, dass er nur seine Arbeit tat, genau wie sie, und dass er ebenso wenig gern hier bei ihnen war, wie sie ihn haben wollten. Aber er war nun einmal hier. Für eine Weile jedenfalls. Und die ganze Verantwortung für den Betrieb des Schiffs lag bei ihm. Ihm würde man bei der Firma die Füße rösten, wenn irgend etwas auf der Fahrt schiefgehen sollte.
Aber was sollte schon schiefgehen? Es war schließlich bloß ein Eisbergschlepper.
Carpenter kletterte das letzte Stück an Deck. Er machte dabei genügend Lärm, um sie zu warnen. Die Unterhaltung an Deck verstummte, sobald das Echo seiner lauten Bewegung nach oben hallte.
Er trat in den Glast des Nachmittags. Die feuchte Luft war stickig und beißend, und eine geschwollene grünliche Sonne stak aufgespießt über einem der schlanken Hochhäuser San Franciscos auf der anderen Seite der Bucht.
»Cap'n«, sagte Hitchcock. »Das ist Caskie. Communications. Und Rennett. Maintenance/Ops. Cap'n Carpenter.«
»Steht bequem«, sagte Carpenter. Es schien ihm das Passende zu sein.
Caskie und Rennett waren beide eher klein. Doch damit endete ihre Ähnlichkeit auch bereits. Rennett war ein untersetztes, breitschultriges kleines Mädchen und reichte ihm kaum bis zur Brust, aber sie wirkte sehr zäh und kampfbereit. Wahrscheinlich, dachte er, stammt sie aus einer der Staubschüsseln im Mittelwesten; dort sahen sie alle so trotzig-hinterwäldlerisch aus. Ihr Kopf war kahlgeschoren, so wie das jetzt viele machten, und sie war überall braun wie eine Eichel, und der Purpurschimmer von Screen leuchtete stark durch die Haut, wodurch sie beinahe fluoreszierend aussah. Ohne ihre Kleinheit hätte man sie wohl kaum für eine Frau gehalten.
Braune Augen, die funkelten wie Murmeln und doppelt so hart wirkten, blickten ihn an. »Sorry, dass ich verspätet an Bord zurück bin.« Es klang ganz und gar nicht, als bedauerte sie wirklich.
Caskie, der Kommunikationsoffizier, wirkte schlank, beinahe zierlich, viel weicher und eindeutig feminin: schimmernde, dichte schwarze Haare, eine Menge, sie hielt wohl nichts von einem nackten Kopf. Das Gesicht eher unscheinbar, mit einem breiten Mund, einer drolligen kleinen Knopfnase, und ihre Haut war fleckig und verschuppt von zuviel Sonne, aber dennoch und trotz allem besaß sie eine wohlgerundete Attraktivität.
Er hatte sich gefragt, als er erfuhr, dass seine Crew aus zwei Männern und zwei Frauen bestehen werde, wie man verhindern konnte, dass sexuelle Spannungen an Bord sich zu einem Problem entwickelten, und während er sich nun Caskie ansah, überlegte er das erneut. Aber er bekam eine Sekunde später die Antwort, und es war dermaßen offensichtlich, dass er sich Vorwürfe machte, es nicht sofort bemerkt zu haben. Die beiden, Caskie und Rennett, waren ein Paar, ein geschlossenes System. An Bord der Tonopah Maru würde es kein Geflirte geben, keine Sexualrivalitäten, um ihm das Leben zu komplizieren.
Er sagte: »Ich glaube, ihr alle wisst, dass dies meine erste Fahrt ist. Das bedeutet nicht, dass ich keine Ahnung hätte, was Aufgaben und Pflichten eines Kapitäns sind, nur, dass ich sie bisher noch nicht erfüllt habe. Ihr seid eine erfahrene Crew, und es ist bekannt, dass ihr gut zusammen arbeitet, und ich werde mich hüten vorzugeben, dass ich eure Aufgaben besser verstehe als ihr. Wenn ich praktischen Rat brauche und nur theoretisches Material habe, auf das ich mich stützen kann, werde ich mich nicht genieren, euch um eure Hilfe zu bitten. Aber ich möchte euch bitten, zweierlei nicht zu vergessen: Ich lerne sehr rasch, und ich werde es sein, der hinterher vor der Firma geradestehen und Rechenschaft ablegen muss, wenn unsere Leistung der Norm nicht entspricht.«
»Denkst du, wir würden schludern, bloß weil wir einen neuen Mann im Kommando haben?«, fragte Rennett. Mittelwesten, unverkennbar; er hörte es in der Stimme, an dem trockenen flachen Ton. Aufgewachsen in der Staubschüsselarmut, in übler Giftluft, zwischen zerfallenden Schuppen, zertrümmerten Fenstern, der nie aufhörenden Ungewissheit, woher die nächste Mahlzeit kommen sollte.
»Das habe ich nicht gesagt. Aber ich will auch nicht, dass ihr euch einredet, dass das hier wegen meiner angeblichen Unerfahrenheit eine weniger gewinnträchtige Fahrt werden wird. Wir werden okay sein. Wir werden unsere Arbeit gut und richtig erledigen und verdammt feine Gratifikationen einstecken, wenn wir wieder in San Francisco zurück sind.« Carpenter setzte ein kurzes höfliches Lächeln auf. »Ich freue mich, euch kennengelernt zu haben, und ich bin verdammt froh, mit einer so tüchtigen Besatzung in See zu gehen. Mehr habe ich euch nicht zu sagen. Wir laufen um 1800 Uhr aus. Abtreten.«
Er sah, dass die Leute Blicke tauschten, ehe sie aus dem Glied traten, doch er konnte die Mienen nicht interpretieren. Erleichterung, dass der neue Kapitän kein völliger Trottel war? Bestätigung des Verdachts, dass er es eben doch sei? Bildung einer Allianz der echten Arbeiter gegen den verhassten parasitären Elftgradigen?
Sinnlos, ihre Gedanken lesen zu wollen, sagte er sich. Nimm den Turn Tag um Tag, mach deine Arbeit, lass dich nicht unterkriegen, und alles wird gut laufen.
Seine erste dienstliche Aufgabe war die Erledigung der offiziellen Auslaufformalitäten beim Hafenkapitän. Er ging in seine Kabine, um sich darum zu kümmern. Er fand sich nur mühsam in den engen, unvertrauten, vollgestopften Räumen unter Deck zurecht, zwischen dem ganzen Material und den Instrumenten und Geräten.
Als er zum Telefon griff, kam ihm der Gedanke, Nick Rhodes noch einmal zurückzurufen, um dem, was er ihm vorher gesagt hatte, vielleicht ein wenig den Stachel zu nehmen. Es ist ein ganz schön dicker Hund, einem Mann an den Kopf zu knallen, dass die Frau, die er liebt, eine gefährliche Verrückte ist, die über Bord geworfen werden müsste, sogar wenn es der engste Freund ist. Möglich, dass Rhodes gerade jetzt zornig und beleidigt über dies nachgrübelte. Vielleicht wäre es doch besser, man verpasste ihm rückwirkend eine kleine Linderung.
Nein, dachte er dann. Tu das nicht!
Er hatte Rhodes die Wahrheit gesagt, wie er sie sah. Falls er sich in Isabelle täuschte – und er glaubte nicht, dass er das tat –, würde Rhodes ihm vergeben, dass er so vorlaut gewesen war. Ihre Freundschaft hatte im Laufe der Jahre weit Schlimmeres überdauert. Sie waren unverbrüchlich an den anderen gebunden, durch die gemeinsame Zeit und Geschichte, und nichts, was sie einander sagten, konnte dieser Bindung je auf Dauer Schaden zufügen.
Aber dennoch …
Der arme unglückliche Schwanz. Ein dermaßen liebenswerter, sanftmütiger Kerl, ein so brillanter Mann. Und stets trieb es ihn irgendwie auf Beklemmung und Kummer zu. Er hat etwas Besseres im Leben verdient, dachte Carpenter. Aber nein, statt dessen traf er immer wieder Frauen, die mehr waren, als er verkraften kann; und sogar in dem einen Lebensbereich, wo er wirklich genial ist, in seiner Forschungsarbeit, bringt er es jetzt fertig, sich durch leidvoll selbstproduzierte moralische Bedenken aufs heftigste lustvoll zu quälen. Kein Wunder, dass er so viel trinkt. Wenigstens verstrickte ihn die Flasche nicht in philosophische Streitgespräche. Sie bot ihm einfach einen kleinen Trost, für eine, zwei Stunden. Carpenter fragte sich besorgt, was werden sollte, wenn bei Rhodes auch die Kontrolle über das Trinken verloren ging und die Droge den Bereich zu unterminieren begann, in dem sein Leben bislang noch funktionierte.
Ein schwieriger Fall, dachte er traurig.
Aber es ist doch besser, ihn jetzt nicht noch einmal anzurufen.
»Büro des Hafenmeisters«, sagte die Androidenstimme aus dem Visor.
»Hier ist Captain Carpenter von der Tonopah Maru«, sagte er. »Erbitte Clearance zum Auslaufen um achtzehn-null-null Uhr …«