Kapitel 12

Tief hier draußen in den kalten Breiten des Südpazifiks, irgendwo zwischen San Francisco und Hawaii, war die See ein unheimliches Gulasch von Meeresströmungen, kalten Massen, die von der Antarktis herauftrieben, und kühlen aufsteigenden Spiralen vom Meeresgrund und kleinen heißen Flüssen, die von dem sonnenverbrannten Kontinentalschelf weit im Osten herüberrollten. Manchmal sah man Dampf aufsteigen, wo kalte Wasser auf warme trafen. Eine irre Gegend, um hier nach Eisbergen zu fischen, dachte Carpenter. Aber die Albedo-Anzeigen besagten, dass da irgendwo ein großer Eisberg war, und deshalb war auch die Tonopah Maru zur Stelle.

Er saß vor dem Scanner in der bedrückend engen Zelle, die der Kommandoraum des Schiffs war, und massierte die Zahlen. Es war Vormittag. Die Screenspritze, die er in der Morgendämmerung genommen hatte, brodelte noch wie flüssiges Gold in seinen Arterien. Fast konnte er es fühlen, wie das Schutzmittel sich langsam nach außen in die Kapillargefäße tastete und angenehm prickelnd in seine Haut vordrang, wo es wie jeden Tag seine Aufgabe erfüllen und ihn mit einer neuen Schutzschicht gegen Ozonrisse und das sengende Dämonenauge der Sonne versorgen würde. Hier draußen auf See musste man sich wirklich mit den Infra-/ Ultra-Drogen vollpumpen, weil die Wasseroberfläche das Licht wie ein Spiegel reflektierte und dir ins Gesicht schleuderte. Seit dem Auslaufen aus San Francisco hatte Carpenter seine reguläre Dosis Screen nahezu verdoppelt, um den Schutz aufzubauen, und inzwischen hatte seine Haut einen irisierenden, schimmernden grünlichpurpurnen Ton bekommen. Es sah seltsam unvertraut aus, aber es gefiel ihm.

Bisher war die Fahrt recht gut verlaufen, abgesehen von der Kleinigkeit, dass sie bislang noch keinen Eisberg ausgemacht hatten. Doch es sah so aus, als wäre dieses Problem jetzt gelöst.

»Da haben wir möglicherweise eine Masse von zweitausend Kilotonnen vor uns«, sagte Carpenter und sah in den Keramikfaserkegel. »Nicht übel, wie?«

»Nicht für unsre beschissene Zeit, nee«, antwortete Hitchcock. Sein Ozeanograph/Navigator war alt genug, dass er sich noch an die Zeit erinnern konnte, wo treibende Eisberge niemals weiter nördlich als im südlichen Chile gesichtet worden waren, und er genoss es stets, einen daran zu erinnern, dass er sich erinnerte. »Mann, wenn heute ein Berg bis hier rauf noch so groß ist, dann muss der mindestens drei Grafschaften lang gewesen sein, wie der vom verdammten Polarschelf abgebrochen ist. Bist du sicher, du hast die Zahlen richtig, Mann?«

Die unterschwellige Herausforderung ließ Carpenters Augen funkeln, und in seinem Innern ringelte etwas sich zornig zum Angriff zusammen und verschwand mit einer heißen dünnen Spur wieder. Hitchcock konnte nie auf Anhieb etwas gut finden, was Carpenter tat. Die Spannungen waren Tag um Tag gewachsen, seit sie aus der Bucht von San Francisco ausgelaufen waren. Obwohl Hitchcock es abstritt – viel zu laut –, war es ziemlich klar, dass er nicht wenig verärgert darüber war, dass man ihm einen Außenseiter vorgezogen und zum Kapitän gemacht hatte, noch dazu eine Landratte, einen Gehaltsbezieher der Firma. Vielleicht hielt er das für Rassismus. Aber da irrte er sich. Carpenter war auf der Managerspur, und Hitchcock war es eben nicht. Und mehr steckte da nicht dahinter.

Carpenter sagte säuerlich: »Willst du selber den Visor checken? Da. Da, sieh's dir an.«

Er bot Hitchcock den Knüppel an. Aber der schüttelte nur den Kopf.

»Locker, Mann. Was der Schirm da sagt, für mich is' das okay.« Hitchcock grinste entwaffnend mit mahagonidunklen Zahnstummeln.

Auf dem Visor tanzten undurchdringliche Wirbel und Zacken, Schwarz auf Grün, Grün über Schwarz, gelegentlich blühte ein scharfes Gelb auf. Der Sucherstrahl der Tonopah Maru lief 22 500 Meilen weit direkt hinauf zum großen maritimen Scansat der Nippon Telecom, der sein starres gläsernes Auge unentwegt über den gesamten östlichen Pazifik streifen ließ, um dort Albedodifferenzen aufzuspüren. Die Reflexionswerte von Eisbergen waren andere als die von der Meeresoberfläche. Man suchte Abweichungen, holte sich Bestätigung durch die Temperaturanzeigen, scannte die Masse, um festzustellen, ob sich die Fahrt lohnen würde. Wenn es so aussah, steuerte man den Trawler schnell dorthin, um sich das Ding zu schnappen, bevor es ein anderer konnte.

Daheim in Frisco, da war er sicher, lagen sie jetzt wahrscheinlich in den Straßen auf den Knien und beteten, dass er endlich Glück haben möge. Die wunderschöne Stadt an der Bucht, jetzt ein Staubhaufen unter diesem hitzigen, erbarmungslosen Treibhaussuppenhimmel voller interessanter vielfarbiger Giftgase, sehnte sich den Regen entgegen, die jetzt fast nie mehr kamen. Seit zehn, elf Monaten etwa hatte es in der Pazifikküstenregion schon nicht mehr geregnet. Höchstwahrscheinlich wimmelte die See hier jetzt von Trawlern – aus Seattle, San Diego, Los Angeles. Laut Nakata hatten die Angelenos mehr Schiffe laufen als sonst eine Stadt.

Carpenter sagte: »Fangt an und gebt die Nachricht durch. Der Berg liegt hier drunten, SüdSüdWest. Wenn wir ihn morgen an den Haken kriegen, können wir etwa Dienstag in einer Woche mit ihm in San Francisco sein.«

»Falls er nicht vorher schmilzt. Diese verdammte Hitze.«

»Er ist zwischen der Antarktis und hier nicht geschmolzen, also schmilzt er auch nicht bis nach Frisco. Setz dich in Bewegung, Mann. Wir wollen doch nicht, dass L. A. uns zuvorkommt und ihn sich angelt.«


Am frühen Nachmittag hatten sie das Ding im optischen Detektor, zuerst vom Spysat des Samurai Wetterdienstes ein Höhenbild, dann flippte über eine Marinerelaisboje ein Bild in Meereshöhe herein. Der Berg sah aus wie eine schwimmende Burg, prachtvoll und erhaben, unzählige rosa Türme, indigoblaue Wälle, weißblaue Zinnen. Und es war ein Eisberg vom Trockendock-Typ, zwei hohe Flanken mit einer Mulde dazwischen, und er war etwa zweihundert Meter lang und ragte weit aus der See auf. Diesige Nebelvorhänge verbargen die Kanten, und das akustische System des Schiffs fing das krachende Sprudeln der Abschmelze auf, wenn kleinere Eisteile sich lösten und in die See glitten. Das ganze Gebilde bestand aus Gletschereis, also komprimiertem Schnee, und wenn das schmilzt, dann erfolgt das mit einem Zischen.

Carpenter betrachtete den Berg andächtig. Er war sehr viel mächtiger als jene, die er in seiner Trainingssimulation zu sehen bekommen hatte. Die letzten paar Millionen Jahre hatte der Klotz gemütlich über dem Südpol gesessen und sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass er eines Tages so Richtung Hawaii driften würde. Aber die große Klimaverschiebung hatte für alle eine Menge geändert, auch für das antarktische Packeis.

»Himmel«, sagte Hitchcock. »Schaffen wir das?«

»Leicht«, sagte Nakata. Den kleinen wendigen Techniker schien nichts zu erschüttern. »Es wird 'ne Vierkrampensache, aber was soll's? Wir haben die Haken dafür.«

Klar. Sie hatten ausreichend Krampen an Bord der Tonopah Maru. Und Carpenter hatte Vertrauen in das Können von Nakata.

»Hast du gehört?«, sagte er zu Hitchcock. »Also holt ihn euch.«

Sie standen dicht an der mittelpazifischen Kälteschwelle. Die See ringsum war blau, ein Anzeichen für warmes Wasser. Doch direkt westlich, wo der Eisberg schwamm, war die Färbung ein sattes dunkles Olivgrün, Anzeichen für die maritime Mikrowelt, die in Kaltwasser gedeiht. Die Demarkationslinie war deutlich sichtbar. Dies war eine der komischen Sachen, die die Klimaverschiebung mit sich gebracht hatte: Ein Großteil der Erde war nun höllisch heiß, aber da kam dieser kalte Meeresstrom aus der Antarktis, schnitt sich bis in den mittleren Pazifik vor und ließ Eisberge auf die Tropen zutreiben.

Carpenter saß über seiner Triangulation, um zu berechnen, ob sie den Berg unter der Golden-Gate-Brücke durchschleppen konnten, als neben ihm Rennett auftauchte. »Da ist noch ein Schiff, Cap'n.«

»Was sagst du da?«

Aber er hatte sie nur zu genau verstanden.

Ein Schiff? Carpenter starrte die Frau an. Er dachte, Los Angeles, San Diego, Seattle, und überlegte, ob er um seinen Eisberg würde kämpfen müssen. So etwas passierte gelegentlich, wie er wusste. Hier war Freigebiet, eine so ziemlich offene Zone der Gesetzlosigkeit, in der sich eine uralte Art von Piraterie erneut ganz scheußlich ausbreitete.

»Schiff.« Rennett quetschte es seitlich aus dem Mundwinkel hervor, als täte sie ihm einen Gefallen, ihm überhaupt etwas zu sagen. »Genau auf der andern Seite von dem Berg. Caskie hat grad 'ne Nachricht aufgeschnappt. Sowas wie 'n SOS.« Sie reichte ihm einen schmalen Funkstreifen, auf dem nur ein paar Zeilen hellroter Thermoprintlettern waren. Die Worte griffen nach ihm, als fasste eine Hand durch das Deck. Er las laut:

BRAUCHEN HILFE * PROBLEME AN BORD * GEHT UM LEBEN UND TOD * DRINGEND ERFORDERLICH DASS IHR AN BORD KOMMT * SCHNELLSTENS * KOVALCIK # INTERIMKAPITÄN CALAMARI MARU

»Ach, Scheiß!«, sagte Carpenter. »Calamari Maru? Ist das ein Schiff oder eine zehnarmige Krake?«

Ein ziemlich schwacher Witz, und er wusste es. Rennett reagierte nicht, nicht mit dem winzigsten Lächeln. »Wir haben die Registratur gecheckt. Der Eigner ist Kyocera-Merck und der Heimathafen ist Vancouver. Als Kapitän ist Amiel Kohlberg eingetragen. Keine Angaben über einen Kovalcik.«

»Das klingt nicht nach 'nem Eisbergtrawler.«

»Es ist ein Kalmarfischer, Cap'n«, sagte sie mit einem verächtlichen Unterton in der Stimme. Als ob er das nicht wüsste. Er ging nicht darauf ein. Es kam ihm immer noch komisch vor, dass jeder, der zwei Tage länger auf See war als er, ihn wie eine dämliche Landratte behandelte. Was er allerdings tatsächlich war. Aber er kam damit zurecht. Bei der Bonusverteilung daheim in Frisco würde er den großen Kapitänsbrocken abbekommen, und sie eben nicht.

Er sah wieder auf den Ausdruck. Dringend hieß es da. Geht um Leben und Tod.

Mist. Mist-Mist-Mist!

Alles sausen zu lassen, um sich der Schwierigkeiten eines fremden Schiffs anzunehmen, passte ihm gar nicht ins Konzept. Er wurde nicht dafür bezahlt, anderen Kapitänen aus der Patsche zu helfen, schon gar nicht denen von Kyocera-Merck. Von allen Firmen nicht gerade K-M! Ganz gewiss nicht derzeit. In letzter Zeit gab es zwischen Samurai und K-M ziemlich böses Voodoo, schlimmer als gewöhnlich. Irgendwas mit dem Kontrakt zur Fruchtbarmachung der Wüste Gobi, diverse drastische Spionagesachen, die schiefgelaufen waren, irgend etwas von der Art. Außerdem hatte er, Carpenter, ja jetzt seinen Eisberg, um den er sich kümmern musste. Derzeit konnte er weitere Abenteuer wirklich nicht brauchen.

Außerdem stieg von ganz tief unten ein leiser bohrender Argwohn in ihm auf, mit einem ganz, ganz dünnen Anflug von Paranoia, hätte man vermuten können, nur dass eben Carpenter in den letzten dreißig Jahren eine so gründliche Ausbildung in der Realitätenschule des Lebens genossen hatte, dass er ganz und gar nicht sicher war, ob es so etwas wie Paranoia überhaupt gab. Die Welt wimmelte von Mistkerlen, die es immer darauf abgesehen hatten, dich reinzulegen. Und wenn du hier draußen an Bord eines fremden Schiffs gingst, dann liefertest du dich denen absolut aus. Was, wenn die einen Trick mit dir vorhatten?

Aber er wusste auch, dass man die Vorsicht zu stark übertreiben konnte. Ihm war nicht wohl bei der Überlegung, ein Schiff im Stich zu lassen, das in einem Notfall um Hilfe gebeten hatte. Vielleicht hatten ja die uralten Gesetze der Seefahrt – ähnlich wie alle sonstigen Reste des früheren anständigen Verhaltens zwischen Menschen – in dieser elendigen verwirrten, unter Überhitzung leidenden Zeit keine Gültigkeit mehr, doch er fühlte sich noch immer nicht völlig frei von Regungen wie Schuld oder Scham. Außerdem glaubte er daran, dass einem alles im Leben vergolten wird: Du lässt einen andern abfahren, wenn er dich um Hilfe bittet, und ziehst damit vielleicht prompt etwas später genau das gleiche auf dich herab.

Sie beobachteten ihn alle. Rennett, Nakata, Hitchcock.

Hitchcock sagte: »Was wirste jetzt machen, Cap'n? Gehst du rüber zu denen?« Ein Glitzern in den Augen, auf dem Gesicht ein boshaftes überhebliches Grinsen.

Was für ein ekliger Arsch, dachte Carpenter.

Er warf dem älteren Mann einen grimmigen Blick zu und fragte: »Du denkst also, es ist sauber?«

Hitchcock zuckte nichtssagend die Achseln. »Kann ich nich' sagen. Du bist hier Käp'n, Mann. Ich weiß bloß, die sagen, sie haben Trabbel und brauchen Hilfe.«

»Und wenn das irgendwie 'ne schiefe Nummer ist?«

Hitchcocks Blick blieb ruhig, unverbindlich, desinteressiert. Die breiten Schultern schienen von einer Seite des Schiffs bis zur anderen zu reichen. »Sie bitten um Hilfe, Cap'n. 'n Schiff braucht Hilfe, du bringst Hilfe, daran hab ich immer geglaubt, meine ganzen Jahre auf See. Aber vielleicht denken da die Leute weiter oben anders drüber. Und wie ich schon gesagt hab, du bist der Boss, nicht ich.«

Carpenter stellte fest, dass er sich wünschte, dieser Hitchcock würde seine verdammten alten Fahrensmannerinnerungen an die gute alte Zeit für sich behalten. Aber – scheiß drauf! Der Mann hatte recht. Ein Schiff in Seenot war ein Schiff in Seenot. Er würde also zu denen hinübergehen und nachsehen, was da los war. Selbstverständlich würde er das tun. Ihm war auf einmal klar, dass er von Anfang an gar keine andere Wahl hatte.

Er sagte zu Rennett: »Sag Caskie, sie soll diesen Kovalcik informieren, dass wir den Berg ansteuern und Markierungshaken anbringen, um unseren Besitzanspruch festzulegen. Das dürfte etwa anderthalb Stunden dauern. Und hinterher gehe ich dann vielleicht zu ihnen rüber und sehe nach, was sie für Probleme haben.«

»Verstanden«, sagte Rennett und ging unter Deck.

Inzwischen waren neuere Daten über den Berg hereingekommen. Carpenter konnte nun erstmals die Erosionsnarben über der Wasserlinie an der Aufwindseite des Eisbergs sehen, die Unterspülungen, die stark abbruchgefährdeten Überhänge, die sich da bildeten. Die Ausspülung bedeutete nicht unbedingt, dass der Berg kentern musste – das gab es bei Bergen von diesem Trockendocktyp selten –, aber sie würden es mit einer Menge lausiger Schwankungen zu tun bekommen, mit Krängen und Rollen in kabbeligem Wasser, kurz, einer echten verpissten Sache rundum. Der Tag entwickelte sich sehr schnell zu einer sehr ekligen Geschichte.

»Jesus!« Carpenter schob Nakata die Visuals hin. »Da, schau dir das mal an.«

»Kein Problem. Wir müssen ihn einfach mit den Krampen von Lee packen, das ist alles.«

»Yeah. Klingt gut.« Es klang so einfach. Irgendwie brachte Carpenter trotz allem ein Grinsen zustande.


Die Rückseite des Eisbergs war eine glatte senkrechte Wand, eine hohe weiße Klippe, porzellanglatt und gute hundert Meter hoch, mit einer bösen, ins Wasser vorgestreckten, etwa vierzig Meter langen Eiszunge wie ein Wellenbrecher. Auch die Calamari Maru benutzte sie dazu. Der Tintenfischfänger ankerte dicht hinter dieser Zunge.

Es gefiel Carpenter gar nicht, dass ein anderes Schiff sich so dicht an seinem Berg eingenistet hatte. Doch der Kalmarfänger war nur für seine Spezialaufgabe ausgerüstet und besaß keine Greifer und war also wohl kaum eine Bedrohung für seinen Berg.

Er gab Nakata, der weit vorn auf dem Vorschiff bei seinem Schaltbrett stand, ein Zeichen.

»Haken frei!«, rief Carpenter. »Und los! Los!«

Nakata winkte bestätigend zurück und legte die Hände auf die Steuertasten. Und eine Minute später erklang das Ächzen der sich öffnenden Greiferluke und das Rumpeln der Greifergestänge. Irgendwo tief im Bauch des Schiffs bewegte sich eine gigantische Mechanik in Position. Der große Eisberg lag reglos in der stillen See.

Es war ein wenig ähnlich wie in der Hochseefischerei, der Trick war nicht so sehr, die Beute an den Haken zu kriegen, sondern später in der Geschicklichkeit beim Einholen.

Der ganze Schiffsrumpf bebte, als der erste Haken in Sicht kam. Er schwebte hoch oben, ein erschreckendes Krallending, schwarz vor dem leuchtenden hellen Himmel, den es halb verdeckte. Dann drückte Nakata erneut auf seine Tasten, und der Greifer, am höchsten Punkt seiner Kurve angelangt, fuhr scharf und wuchtig abwärts auf die Flanke des Bergs zu.

Der Haken traf, schlug ein und hielt. Der Berg wich zurück, bebte, schwankte. Von den oberen Graten polterten Schauer von losem Eis nieder. Als sich die Wucht des Einschlags in die große Eismasse unter der Wasserlinie ausbreitete, wälzte sich die ganze Masse etwas weiter vornüber, als Carpenter erwartet hätte, und gab ein hässliches Schmatzen über dem Wasser von sich, und als der Berg wieder zurückrollte, schoss ein zwanzig Meter hoher Geysir empor.

Den armen Hunden an Bord des Kalmarschiffs würde das gar nicht gefallen. Aber sie hätten ja nicht dort vor Anker bleiben müssen, während ein Eisbergfang im Gang war, nicht wahr? Was hatten die denn erwartet? Einen kleinen Spritzer oder zwei?

Drunten am Bug machte Nakata seine ›Ich-hab-dich-Geste‹, einen ausgestreckten Mittelfinger über der Faust.

Vom Berg her wehte ein kalter Wind. Es war wie der Atem eines riesenhaften wunden Tieres, ein Hauch wie aus uralter Zeit, ein Hauch, der nach Fossilem roch.

Sie fuhren ein Stück weiter die Bergflanke entlang.

»Harpune Zwei!«, befahl Carpenter.

Der Berg war mittlerweile fast wieder stabil. Anscheinend war da mehr Masse unter Wasser, als sie angenommen hatten. Aber sie würden es schaffen. Carpenter auf seinem Beobachtungsposten im Kontrollturm an der Achterreling wartete auf das hochsteigende Gefühl von Freude und Erleichterung, das sich, wie alle ihm versichert hatten, nach der erfolgreichen Inbesitznahme einstellen sollte, doch da war nichts. Er verspürte einzig einen ungeduldigen Drang, rasch alle vier Haken anzubringen und zum Golden Gate zurückzuskippern.

Die zweite Harpune flog hoch, schwebte, senkte sich, traf und biss sich fest.

Wieder klatschte der Berg aufs Wasser, und wieder schoss schäumend das Wasser auf. Carpenter sah nur kurz, wie das andere Schiff auf und ab tanzte wie ein treibender Korken, und er überlegte, ob die Eiszunge, die die da drüben so angenehm gefunden hatten, abbrechen und sie ersäufen würde. Sie hätten weit klüger daran getan, anderswo zu ankern. Ach, zum Teufel mit ihnen. Er hatte sie gewarnt.

Der dritte Haken war einfacher.

Jetzt nur noch einen.

»Vier!«, rief Carpenter. Ein Vierer-Berg war etwas Besonderes. Massenhaft Gelegenheit, dass dabei die Leinen rissen oder sich die Trossen verhedderten. Aber Nakata beherrschte seinen Job. Noch einmal flog die Eisenkrampe durch die Luft, diesmal in steilem Bogen über die Spitze des Bergs auf die andere Seite, und dann hatten sie ihn, ihren Berg, dieses ganze monströse Eiland von treibendem Eis, fest an der Trense und gut verschnürt. Und jetzt brauchten sie nichts weiter zu tun, als den Berg mit Spiegelstaub einzupudern, ihm an der Wasserlinie einen Plastikschurz zu verpassen, um die Erosion zu verlangsamen, und ihn dann nach San Francisco zu schleppen.

So, alles in Ordnung, dachte Carpenter.

Und nun endlich hatte er ein wenig Zeit, sich mit dem verdammten Krakenschiff und seinen Problemen zu befassen.

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