Kapitel 6

Carpenter kam zuerst bei dem Restaurant an. Die Fahrt über die Bucht herüber war kürzer gewesen, als er es berechnet hatte. Er wartete draußen auf Rhodes und wanderte in dem weißen mittäglichen Glast auf und ab. Das Restaurant bestand aus einer Reihe von Perspexkuppeln, die sich an die Kante der Kaimauer schmiegten, durch die das tieferliegende Gebiet von Berkeley gegen die fortschreitende Ausweitung der Bucht abgeschottet war. Die Lokale sahen aus wie Büschel von phosphoreszierenden Pilzen.

Vor so etwa vierzig, fünfzig Jahren waren die tiefer gelegenen Teile Berkeleys im Verlauf der ersten großen Fluten verschlungen worden, und bei Ebbe, so hatte man Carpenter erzählt, konnte man noch die Spitzen der alten abgesoffenen Häuser aus dem glitschigen Glitzerüberzug von Mikroorganismen auf dem Wasser der Bucht sehen. Doch seit der Errichtung der Mole hatte es hier keine gravierenden neuen Fluten mehr gegeben. Die Westküste war alles in allem bei der großen Überflutung der Küsten relativ gut weggekommen, die auf der Erde stark unterschiedlich schwer aufgetreten war: Als Katastrophen in China, Japan, Bangladesh, aber auch den östlichen Küstenstaaten der USA, besonders in Florida, Georgia, der Carolinaküste; im westlichen Europa dagegen gab es nur geringere Schäden – außer in Holland, Dänemark und den Ostseeanrainern, die so ziemlich verschwunden waren –, auch an den Pazifikküsten der beiden Amerikas war der Schaden nicht so schlimm. Und nun sagte man, dass das Abschmelzen der Polareiskappen im wesentlichen beendet sei und dass die restlichen Massen gefroren bleiben würden, zumindest für die unmittelbare Zukunft, so dass die Gefahr einer weiteren Zunahme der planetaren Wassermassen gebannt schien. Es ist immer erfreulich, dachte Carpenter, wenn man gesagt bekommt, dass alles wieder gefahrlos und in Ordnung sei, egal in welchem Zusammenhang. Auch wenn es nicht die Wahrheit ist.

Die Mittagssonne knallte hart und heiß herab, und die Luft war wie gewöhnlich, wie dicke Suppe. Rhodes verspätete sich, nichts Ungewöhnliches bei ihm. Carpenter trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen in der klebrigen Hitze, dann ging er die Rampe zur Mole hinauf und fächelte sich mit dem Hemd Kühlung zu und zupfte an seiner Atemmaske, die feucht und warm an der Wange klebte.

Er starrte auf die eleganten alten Brücken und die weite Bucht, die grün, blau und violett schimmernde Haut, wie auf einer schaumigen tropischen Pfütze, und auf die blitzende Eleganz San Franciscos auf der anderen Seite, und auf die schwere dunkle Masse des Mount Tamalpais im Norden. Dann blickte er in die andere Richtung, auf die Berge von Berkeley-Oakland, die dicht bebaut waren, aber immer noch weite Strecken Grasflächen aufwiesen.

Das Gras war jetzt überall braun und verdorrt und sah tot aus, aber Carpenter wusste aus seiner Kindheit, dass es innerhalb von einer oder zwei Wochen wieder zu frischem grünen Leben erwachen würde, sobald die Winterregen kamen. Ärgerlich war nur, dass die Winterregen sich hier nicht mehr sehr oft einstellten. Jahrein, jahraus herrschte die ganze Küste entlang ein endloser Sommer. Statt dessen wurden jetzt ehemalige Wüstenregionen wie etwa im Nahen Osten und Nordafrika von angenehmen Niederschlägen wie nie zuvor gesegnet, und die gesamte Zone im Südwesten der USA, von Osttexas bis Florida, hatte sich in einen einzigen gewaltigen Regenwald verwandelt und stöhnte unter der Last albtraumhafter gigantischer pelziger Schlinggewächse, riesiger Orchideenwucherungen und Kriechpflanzen mit glänzenden Blättern.

»Da bist du ja«, sagte eine tiefe heisere Stimme hinter ihm. »Ich suche dich schon überall.«

Nick Rhodes grinste ihm vom Fuß der Rampe her entgegen. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht, schien es Carpenter. Rhodes trug keine Atemmaske, dafür aber eine luftige weiße Baumwolldschellaba mit auffälligen ägyptischen Motiven. Die dichten lockigen braunen Haare hatten einen Anflug von Grau und waren an den Schläfen merklich schütterer geworden, seit Carpenter ihn zuletzt gesehen hatte, und er wirkte müde und ausgelaugt. Das runde Gesicht war fleischiger, fast feist geworden. Sein überschwängliches Grinsen wirkt irgendwie gezwungen, dachte Carpenter. Da stimmte etwas nicht. Ganz eindeutig.

»Der Herr Doktor«, sagte Carpenter. »Na endlich. Die Pünktlichkeit in Person, wie üblich.« Er stieg zu Rhodes hinunter und streckte ihm die Hand entgegen. Dieser ergriff sie, zog Carpenter zu sich und umarmte ihn heftig, Brust an Brust und Wange an Wange. Carpenter war groß, doch Rhodes war noch ein Stückchen größer und viel breiter und massiger, und so fiel die Umarmung ziemlich heftig aus.

Dann lösten sie sich und betrachteten einander. Sie kannten einander mehr oder weniger schon ihr Leben lang. Rhodes, der zwei Jahre älter war, war zunächst der Freund von Carpenters etwas älterem Bruder gewesen, damals in der fernen Kindheit in Südkalifornien. Aber als sie halbwüchsig wurden, war Rhodes für den Geschmack des älteren Carpenter doch ein bisschen zu verträumt und zu verletzbar geworden, aber rätselhafterweise tickten er und Paul richtig zusammen.

Ihr Leben war die ganze Zeit parallel verlaufen; bald nach dem Collegeabschluss waren beide in das riesige Firmenunternehmen der Samurai Industries eingetreten; mit dem einen Unterschied, dass Rhodes eine echte wissenschaftliche Begabung besaß, während Carpenters geistige Hauptinteressen sich auf weniger steinige Felder wie Geschichte und Anthropologie richteten, wo eine echte Karriere nicht denkbar war. Und so hatte Rhodes sich auf Biogentechnik verlegt, einen erfolgsträchtigen Weg mit raschen Aufstiegschancen, bei dem die Firma für die Kosten der Promotionsarbeit und die Forschungsarbeiten in der Folge aufkam; und Carpenter hatte sich als nichtspezialisierter Azubi für Management verpflichtet, und er wusste, dass dies für ihn eine Reihe völlig unvorhersehbarer, immer anders gelagerter Firmenbereiche bedeuten würde, und er völlig von den Launen seines Arbeitgebers abhängig sein würde. Aber wie verschieden und kompliziert ihr Leben seit damals auch verlaufen war, sie hatten es immer irgendwie zustande gebracht, sich Gefühle einer Art zärtlicher, aber zäher Freundschaft zu bewahren.

»Also«, sagte Carpenter, »es ist ja wirklich ganz schön lange her.«

»Ja, weiß Gott, Paul. Was für eine angenehme Überraschung. Lass mich dir sagen, du siehst großartig aus!«

»Wirklich? Das macht das Leben in dem berühmten Spokane. Der Wein, die Weiber, der Wohlgeruch der Blumen. Und du? Läuft alles glatt? Privat, mit der Arbeit?«

»Wundervoll.«

Carpenter hätte nicht sagen können, ob da Ironie mitschwang. Wahrscheinlich.

»Gehen wir hinein«, sagte er. »Du musst den Verstand verloren haben, dass du ohne Atemmaske im Freien herumläufst. Oder hast du dir die Lunge mit Vanadiumstahl retrofitten lassen?«

»Wir sind hier nicht in deinem Inlandimperium, Paul. Hier gibt's tatsächlich noch sowas wie eine Brise von der See. Es ist durchaus unschädlich, hier ungefilterte Luft zu atmen.«

»Ach, ehrlich?« Carpenter zog sich die Maske ab und steckte sie ein. Er war einigermaßen erleichtert. Dieser ganze Rummel mit den Schutzmasken war wahrscheinlich sowieso nichts als paranoide Überreaktion, vermutete er. In Städten wie Memphis, nun ja, oder Cleveland oder St. Louis, da hatte man es nötig, sich hinter möglichst vielen Filtern zu schützen, wenn man ins Freie ging. Die kaputte Luft dort traf einen wie ein Messer und schnitt einem wie ein Skalpell direkt durch die Lungen bis in die Eingeweide. Aber hier in der Bay-Region? Rhodes hatte recht. Noch war nicht die ganze Welt unbewohnbar geworden. Noch nicht völlig.

Rhodes schien in dem Restaurant beliebt zu sein. Es war ziemlich viel Betrieb, doch der Maître, ein seidig zirpender Android von leicht orientalischem Aussehen, begrüßte ihn mit theatralisch übertriebener Herzlichkeit und geleitete sie sofort zu einem Tisch hoch oben in der mittleren Kuppel, der mit seinem großartigen Blick auf das Wasser sicherlich bevorzugten Gästen vorbehalten war. »Was trinkst du?«, fragte Rhodes, kaum dass sie sich gesetzt hatten.

Überrascht bat Carpenter um ein Bier. Rhodes bestellte für sich Whiskey-on-the-rocks. Die Getränke kamen fast sogleich, und Carpenter beobachtete interessiert, wie hastig Rhodes sich ans Werk machte und wie geschwind er den Drink beseitigte.

»Eisbergskipper«, sagte Rhodes und ließ auf den Tischvisoren die Speisenkarten erscheinen. »Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«

»Man hat es mir angeboten. Eine Frau in der Personalsektion, drüben in Paris, die ich kenne. Sie sagte, das bringt Aufstieg. Ach, verdammt, Nick, auch wenn's mich nicht höherbringt, ich fand Spokane zum Kotzen. Also wandre ich eben weiter. Ich mache dies, ich mache das, alles, was die Firma sagt. Der brave Gehaltsempfänger unterster Klasse, der sich nie beklagt. Allround-Hanswurst für alle Sparten, und früher oder später in jeder ein Meister.«

»Warst du nicht zuletzt Wetterprophet?«

Carpenter nickte. Irgendwie war eine zweite Runde Getränke auf dem Tisch aufgetaucht. Er hatte nicht bemerkt, dass Rhodes nachbestellt hatte. Er war mit seinem Bier noch nicht fertig.

»Und du, Nick? Schwitzt du immer noch an eurem Frankensteinprojekt herum?«

»He, Vorsicht.« Rhodes sah verletzt drein. »Das geht etwas zu weit.«

»Sorry.«

»Ich werde schon von meinen humanistischen Freunden hier genug mit Mist beworfen, wie teuflisch die Auswirkungen meiner Forschungsarbeiten sind. Es wird allmählich ermüdend, von deinen Freunden für einen Verbrecher gehalten zu werden.«

»Ich verstehe nicht. Wieso Verbrecher?«

Rhodes zeichnete Gänsefüßchen mit den Fingern in die Luft. »›Die Umwandlung der menschlichen Rasse in etwas Groteskes und Hässliches, etwas, das kaum überhaupt noch als menschlich zu bezeichnen ist. Die Erschaffung einer neuen Spezies von Science Fiction-Ungeheuern.‹«

Carpenter trank nachdenklich einen großen Schluck von seinem ersten Bier, dann trank er aus und betrachtete sich das zweite Glas. Er kam zu dem Schluss, es sei allmählich Zeit, für die nächste Runde auf etwas Stärkeres umzusteigen.

Tastend fragte er: »Aber du machst doch sowas nicht. Du versuchst doch bloß, einige brauchbare anatomische Modifizierungen zu entwickeln, damit wir mit den wirklich gravierenden Bedingungen zurechtkommen können, die demnächst auf uns zukommen werden. Richtig?«

»Richtig.«

»Aber wieso dann …?«

»Müssen wir wirklich darüber reden?«, sagte Rhodes mit leichter Schärfe. »Ich möchte bloß ein bisschen ausspannen, verdammt, weg sein von …« Er hob den Blick. »Tut mir leid. Du hast mich was gefragt. Und die Antwort lautet: Nein. Ich plane wirklich nicht, Ungeheuer in Menschengestalt zu erschaffen. Ich bemühe mich nur, mein Wissen zum Besten der Menschheit einzusetzen, so arrogant das vielleicht klingen mag. Im Übrigen sind die Ungeheuer ja längst unter uns. Da draußen.«

Er zeigte durch das gewölbte Perspexfenster auf die Bucht.

»Ich kann dir nicht folgen«, sagte Carpenter.

»Siehst du die flachen grünen Buckelhaufen dicht vor der Küste? Das sind Monsteralgen. Etwas ganz Neues, eine mutante Gattung, dreißig Zentimeter dick und weiß der Himmel wie lang. Die sind vor ein paar Jahren aus Monterey hierher gekommen. Die Bay erstickt fast an ihnen. Pro Monat wachsen sie fast um einen Meter. Die Umweltschutzkontrollbehörde hat sogar Dugongs importieren lassen, damit die das fressen und hoffentlich die Fahrtrinnen ein bisschen freihalten.«

»Dugongs?«

»Pflanzenfressende, im Wasser lebende Säugetiere aus dem Indischen Ozean. Abgrundhässliche, aber harmlose Riesenbiester. Sie sehen blöde aus und sind fast blind. Aber sie fressen Seetang, als wäre es Karamel. Du kannst sie in den Algenbetten liegen sehen und schmatzen hören wie Schweine in einem Kleefeld. Das Problem ist nur, dass die Krokodile ihrerseits die Dugongs besonders schätzen.«

»Krokodile?«, stammelte Carpenter düster.

»In der San Francisco Bay, ja. Sie haben es schließlich geschafft, von Los Angeles bis hierher zu wandern, und es gefällt ihnen wunderbar.«

»Ich kann's nicht glauben. Krokodile? Hier oben!«

»Du glaubst es besser. Nächstens sind sie im Puget Sound.«

Carpenter starrte ihn an. Er wusste natürlich, dass mit der Klimaerwärmung auf dem Globus Reptilien wie Krokodile ein Comeback erlebten. Schon als er ein Junge war, hatten sie begonnen, von Mexiko aus auf San Diego zuzuwandern. Und in dieser Welt, in der die meisten wildlebenden Tierarten vom Aussterben bedroht oder schon ausgestorben waren, ja praktisch alles atmende Leben hoffnungslos dem Untergang entgegenschlitterte, gab es plötzlich diese groteske Auferstehung der obsoleten Kriechtiere aus dem Mesozoikum.

Sie hatten sich über das ganze dampfende super-tropische Florida verbreitet, natürlich die wenigen Landstriche, die es nach dem Absinken der Küsten da noch gab. In Florida konnte man nicht pinkeln, ohne dass einem ein Krokodil aus der Kloschüssel entgegengrinste. Aber Kalifornien? Kroks in der San Francisco Bay? Das hatte es bisher nicht gegeben. Es war eine Ungeheuerlichkeit.

»Und danach kriegen wir die Tyrannosaurier?«, fragte Carpenter.

»Das bezweifle ich stark. Aber was wir bis jetzt haben, ist schon irre genug. Die Bucht wimmelt von algenäsenden Dugongs und riesenhaften dugongfressenden Krokodilen, und dann gehen sie her und sagen mir, dass ich Monstrositäten schaffe. Wo die Ungeheuer überall schon um uns sind und es von Tag zu Tag mehr werden. Jesus, Paul, es macht mich verrückt!« Rhodes lächelte, beinahe ein wenig schafsmäßig, wie um seinem Ausbruch die Schärfe zu nehmen. Er war schon immer einer, der nicht gern auffällt, dachte Carpenter. Irgend etwas muss tief in ihm bohren, sonst würde er sich nie derart beklagen.

Beide hatten noch keinen Blick auf die Speisenkarte geworfen.

»Es war heute ganz beschissen«, sagte Rhodes nach einer Weile in gelassenerem Ton. »Ein kleines Problem in meiner Abteilung. Einer von diesen eisig stählernen, völlig amoralischen kleinen Buben, der leider ein Genie ist; hat mit neunzehn seinen Doktor gemacht, so ein Typ ist der, und jetzt kommt der und hat etwas Neues gefunden, oder behauptet jedenfalls, er hätte einen Ersatz für das Haemoglobin, entwickelt auf der Basis tödlich giftiger Metallsalze. Sein vorgelegter Plan steckt voll von gewaltigen Unterstellungen und wilden Spekulationen. Doch falls es funktioniert, dann eröffnet sich damit der Weg zur totalen Umgestaltung des menschlichen Körpers, mit dem wir dann mit nahezu jeder Umweltscheiße fertigwerden könnten, die auf uns zukommt.«

»Und wo liegt das Problem? Wird es nicht funktionieren?«

»Das Problem ist, dass es funktionieren könnte. Ich bewerte die Chancen mit neunundneunzig zu eins. Aber Risiko zahlt sich eben manchmal aus, nicht wahr?«

»Und falls das hier so kommt …?«

»Falls es kommt«, sagte Rhodes, »dann werden wir wirklich in eine Welt von Science Fiction-Monstern ohne Menschen gehen. Wenn man das Haemoglobin verändert, bedeutet das, die chemische Zusammensetzung des Blutes von Grund auf umzumodeln, und dann muss das Herz-Lungen-Interface modifiziert werden, und die Lungen müssen sowieso wegen der veränderten Luftzusammensetzung einen anderen Weg gehen, vielleicht müssen wir sie zu arachnidischen Buch-Lungen umbauen, und die Nieren müssen dann ebenfalls umgebaut werden, und das wiederum führt zur Modifizierung der Skelettstruktur, wegen der Kalziumdifferentiale, und dann …« Rhodes holte tief Luft. »Ach, Scheiße, Paul, und wenn wir das alles gemacht haben, dann haben wir eine Kreatur, die möglicherweise recht hübsch an die neuen Bedingungen angepasst ist, aber was für ein Ding ist das dann wirklich? Kann man es noch als menschlich bezeichnen? Es erschreckt mich. Ich hätte gute Lust, diesen Burschen nach Sibirien versetzen zu lassen, damit er dort Gurken züchtet, bevor es ihm gelingt, die fehlenden Teile in sein Puzzle einzubauen und seine gottverfluchte Idee zu verwirklichen.«

Carpenter war verwirrt. Doch diese Verwirrung, das spürte er, kam eigentlich von Nick Rhodes.

»Ich will dich ja nicht mit dem ganzen Zeug nerven«, sagte er. »Aber du hast vor fünf Minuten zu mir gesagt, dein Ziel ist es, für die Menschheit zu arbeiten, während unser Planet sich um uns herum verändert.«

»Ja. Aber ich will, dass wir dabei Menschen bleiben.«

»Selbst wenn die Erde für menschliches Leben nicht mehr geeignet ist?«

Rhodes wandte den Blick ab. »Ich sehe den Widerspruch. Ich kann ihn ja kaum nicht sehen. Das alles beunruhigt mich sehr. Einerseits glaube ich, dass meine Arbeit für das Überleben der Menschheit grundsätzlich notwendig ist, aber andererseits entsetzt es mich, zu welchen Abgründen meine eigene Arbeit führen kann. Es reißt mich also wirklich in zwei verschiedene Richtungen gleichzeitig. Und ich marschiere weiter wie ein braver Soldat, mache meine Forschungsarbeit, erringe den einen und anderen kleinen Sieg – und versuche dabei, mich vor den Großen Fragen zu drücken. Und dann gelingt einem jungen Kerlchen wie diesem Alex Van Vliet der Durchbruch auf die nächste Ebene, jedenfalls sieht es so aus, beziehungsweise, er behauptet, er hätte es geschafft, und zwingt mich damit, mich den Letzten Fragen zu stellen. Ach, Scheiße. Bestellen wir unser Essen, Paul.«

Fast ohne darauf zu achten, drückte Carpenter die Knöpfe auf dem Tischmenü. Einen Hamburger, Fritten, Kohlsalat, angenehme alte Gerichte, höchstwahrscheinlich sämtlich aus synthetischen Zutaten oder aus Kalmaren und Algen recycliert, doch das machte ihm im Moment nichts aus. Er war nicht besonders hungrig.

Er stellte fest, dass Rhodes eine neue Runde Getränke herbeigezaubert hatte. Er schien Alkohol mit gelassener gleichmäßiger Regelhaftigkeit zu sich zu nehmen, saugte ihn sozusagen wie Luft in sich hinein, ohne große Wirkung erkennen zu lassen.

Er war also inzwischen ein Trinker. Schlimm. Aber im Grunde, stellte Carpenter fest, hat sich ja in den vielen Jahren seit der Schulzeit bei Rhodes nichts geändert. Schon damals war Rhodes oft zu ihm gekommen, hatte ihn um Rat gefragt und um so etwas wie Schutz vor seiner Neigung, sich in seinen eigenen Gedanken zu verirren, bei Carpenter zu finden. Und obwohl er jünger war, hatte er sich stets als der ältere von ihnen beiden gefühlt und besser gerüstet, mit alltäglichen Problemen zurecht zu kommen. Rhodes verstrickte sich immer gern in schwierige, von ihm selbst produzierte moralische Fragen – Mädchen betreffend, sein erwachendes politisches Bewusstsein, seine Lehrer, seine Erwartungen und Pläne für seine Zukunft, tausend Probleme –, und Carpenter, in seiner pragmatischen direkten Art, hatte es fertiggebracht, den älteren Freund durch die Irrgärten zu steuern, die dieser immer wieder um sich herum zu schaffen gezwungen schien. Und jetzt war Rhodes ein berühmter Wissenschaftler, genoss bei den Schwellschädeln der Firma hohes Ansehen, war unaufhaltsam in steilem Aufstieg begriffen, verdiente wahrscheinlich das Zehnfache; doch Carpenter spürte, dass Rhodes innerlich noch immer so ziemlich der gleiche war wie in ihrer Jugend. Ein großer hilfloser Junge, der durch eine Welt stolperte, die für ihn immer ein wenig zu kompliziert war.

Er fand es angebracht, zu einem etwas leichteren Gesprächstoff überzuwechseln. Carpenter fragte: »Und wie steht's mit deinem Privatleben? Du hast doch nicht etwa wieder geheiratet?«

Sofort erkannte er seinen Fehler. Blödmann!

»Nein.« Es war nicht zu übersehen, wie stark die Frage Rhodes zusetzte. Carpenter erkannte zu spät, dass das Scheitern seiner Ehe, das ihn vor acht Jahren so tief getroffen hatte, für Rhodes noch immer eine offene Wunde war. Rhodes hatte seine Frau schrecklich geliebt, und als sie ihn verließ, hatte ihn das schrecklich niedergeschmettert. »Ich habe eine Beziehung. Eine ziemlich schwierige. Schöne intelligente Frau, sexy, sehr gebildet. Wir sind nicht immer einer Meinung.«

»Welche Partner wären das schon?«

»Sie ist Radikalhumanistin. Alte Tradition in San Francisco, du weißt ja. Sie verabscheut meine Arbeit, fürchtet sich vor den möglichen Auswirkungen, würde es am liebsten sehen, wenn unsere Labors geschlossen würden, etc., etc. Nicht etwa, dass sie Alternativen anzubieten hätte, aber sie ist trotzdem dagegen. Reaktionärer Trip reinsten Wassers, komplette laienhafte Wissenschaftsfeindlichkeit, absolut mittelalterlich. Und trotzdem haben wir es fertiggebracht, uns zu verlieben. Abgesehen von der Politik verstehen wir uns ziemlich prächtig. Ich fände es schön, wenn du sie mal kennenlernen könntest, solange du hier in der Stadt bist.«

»Das können wir doch sicher irgendwie arrangieren«, sagte Carpenter. »Ich würde sie sehr gern sehen.«

»Ich fände es auch nett.« Rhodes überlegte einen Moment. »He, wie wäre es mit heute Abend? Isabelle und ich müssen zu einem Dinner mit einem von diesen Plagegeistern, einem israelischen Journalisten, der mir indiskrete Fragen über meine Arbeit zu stellen beabsichtigt. Ich könnte dich irgendwo in der City mitnehmen, so gegen viertel vor acht. In deinem Hotel, oder wo immer du meinst. Wie sieht dein Zeitplan aus?«

»Ich muss um halb vier wieder drüben in Frisco und im Samurai-Office zurück sein, um Indoktrinationsmaterial abzuholen«, sagte Carpenter. »Das dürfte bis fünf dauern. Danach habe ich nichts vor.«

»Du magst also mitkommen?«

»Warum nicht? Ich wohne im Marriott Hilton in China Basin. Weißt du, wo das ist?«

»Klar.«

»Aber hör mal. Wenn es sich da um ein Interview handelt, bist du sicher, dass ich euch da nicht störe?«

»Es könnte sich eventuell als ganz nützlich erweisen, wenn das so wäre. Um die Wahrheit zu sagen, ich hab eine Scheißangst, dass ich dem Mann Sachen erzähle, die ich nicht sagen dürfte. Und der ist wahrscheinlich verflixt geschickt darin, sie einem aus der Nase zu ziehen. Wenn Freunde dabei sind, wird das Gespräch lockerer. Je mehr, desto besser, denke ich mir, um zu vermeiden, dass die Sache zu sehr in die Tiefe geht. Deshalb nehme ich ja Isabelle mit. Und nun dich.« Rhodes setzte sein Glas ab und warf Carpenter einen neugierigen Blick zu. »Übrigens, wenn du möchtest, könnte ich dir für den Abend eine Partnerin besorgen. Eine Freundin von Isabelle, sehr attraktive, ein bisschen verrückte Person. Sie heißt Jolanda Bermudez. Tänzerin, oder Sängerin, oder beides.«

Carpenter lachte glucksend. »Bei meinem letzten Blind date war ich dreizehn.«

»Ich erinnere mich. Wie hieß die doch gleich? Die Sommersprossige?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Also, soll ich fragen, ob Jolanda mitkommen möchte?«, fragte Rhodes.

»Sicher«, erwiderte Carpenter. »Warum nicht? Je mehr, desto besser, wie du so schön gesagt hast.«

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