Kapitel 28

Rhodes war damit beschäftigt, seinen Schreibtisch auszuräumen, als das Signallämpchen an der Sprechanlage aufleuchtete und der Vorzimmerandroid sagte: »Mr. Paul Carpenter ist hier und möchte dich sprechen, Dr. Rhodes.«

Es war sein letzter Tag in den Santachiara Technologies, und er hatte noch anderthalbmillionen Dinge zu erledigen. Aber er konnte Paul schlecht sagen, er sei zu beschäftigt, ihn zu empfangen.

»Er soll reinkommen«, sagte Rhodes.

Auf das veränderte Aussehen seines Freundes war er nicht vorbereitet. Carpenter sah aus, als hätte er in zwei Wochen zwanzig Pfund Gewicht verloren und sei zehn Jahre älter geworden. Das Gesicht war eingefallen, die Augen rotgerändert und leer, und die langen blonden Haare hatten fast allen Glanz verloren. Zum ersten Mal, soweit Rhodes sich erinnern konnte, hatte er sich den Bart abrasiert, und auch das hagere, hart vorstrebende Kinn war ihm ganz unvertraut.

»Paul!« Er ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. »He, alter Junge! He, Mann!«

Es fühlte sich an, als umarmte er einen Sack voller Knochen.

Carpenter lächelte verkniffen, es war ein geisterhaftes Aschelächeln. »Eine irre Zeit«, sagte er leise.

»Ich wette, das war es. Magst du was trinken?«

»Nein.«

»Ich auch nicht«, sagte Rhodes.

Wieder warf ihm Carpenter dieses leere, fast ausdruckslose, flüchtige Gespensterlächeln zu. »Du hast es doch nicht etwa aufgegeben?«

»Ich? Kommt nicht in Frage. Ich nehme meine Laster ernst, Genosse. Aber ich kann auch ohne, im Moment. Setz dich doch. Mach es dir gemütlich.«

»Gemütlich, sagt der Mann.« Carpenter kicherte hohl. Dann zeigte er auf die Packkisten, die Stapel von Würfeln und Virtuals. »Ziehst du um?«

»Heute ist mein letzter Tag hier. Ich fange am Montag bei Kyocera an.«

»Wie fein für dich.«

»Ich nehme die meisten meiner Leute mit. Hubbard, Van Vliet, Richter, Schiaparelli, Cohen – die ganzen Mitarbeiter in Schlüsselfunktionen. Samurai ist natürlich außer sich. Sie reden von einem gigantischen Prozess. Aber das ist nicht mein Problem.«

»Nein?«

»Kyocera wollen Schadensersatz anbieten.«

»Wie nett von denen«, sagte Carpenter. »Freut mich für dich, Nick. Ja, wechsle rüber zu denen und genmanipuliere alles verdammt höllisch gut. Und dreh alles so hin, wie es nötig ist. Baut eine neue menschliche Rasse, die Methan atmen und Chlorwasserstoff saufen kann … Macht es, Nick. Du und Dr. Wu.«

»Mit dem habe ich noch nicht gesprochen. Der ist noch droben in Cornucopia und arbeitet an den Retrofits der Besatzung für den Interstellarflug.«

»Cornucopia?«

»Der Forschungssatellit von Kyocera. Liegt praktisch gleich neben dem, der …«

»Ach ja«, sagte Carpenter. »Ja.«

Sie schwiegen beide eine ganze Weile.

»Was für eine Scheiße. Das mit Valparaiso Nuevo.«

»Ja.«

»Isabelle kann sich noch immer nicht fassen. Jolanda war doch ihre engste Freundin.«

»Ich weiß«, sagte Carpenter. »Was für eine Vitalität die Frau hatte! Ich kann's einfach nicht glauben, dass …«

»Ich auch nicht.«

»Ich habe gesehen, wie das hochging. Ich saß da in dem Shuttle und habe zugesehen und gedacht: Jolanda, Enron, Davidov. Und die Tausende andrer Menschen … Aber hauptsächlich dachte nur: Jolanda-Jolanda-Jolanda …«

»Sprich nicht darüber, Paul. Denk einfach nicht mehr daran.«

»Ja, klar.«

»Willst du bestimmt keinen Drink?«

»Also hör mal, wenn du gern was trinken möchtest …«

»Nicht für mich. Für dich.«

»Ich möchte es nicht riskieren, Alkohol zu trinken. Ich hab eine Überdosis Hyperdex genommen, als ich dort oben war. Die einzige Möglichkeit, da lebend rauszukommen, aber mein Nervensystem ist davon für lange Zeit gestört.«

»Von Hyperdex? Das hat dir das Leben gerettet?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Carpenter. »Farkas war zu dem Schluss gekommen, dass er mich umbringen müsste, und Jolanda hat mich gewarnt und mir ein paar von ihren Tabletten gegeben, und … ach, Scheiße … Scheiße, Nick! Ich mag nicht darüber reden.«

»Dann tu es auch nicht«, sagte Rhodes.

Unerträglich, dachte Rhodes, Paul in diesem Zustand zu sehen, dieses leere Wrack von einem verwirrten orientierungslosen Menschen! Aber Carpenter hatte so eine Menge durchgemacht: diese Eisberggeschichte, seine Entlassung, die Fahrt quer durchs Land und dann noch die Zerstörung von diesem L-5 …

Wieder saßen sie eine ganze Weile schweigend da.

Wenn eine Freundschaft seit so vielen Jahren dauert, sagte sich Rhodes, dann zeigt sich eben, wie tief sie ist, wenn ein Moment kommt, wo es passender ist, gar nichts zu sagen, als irgend etwas Belangloses. Dass man einfach das Maul hält, und der Freund versteht es.

Aber nach einer Weile konnte er das Schweigen einfach nicht mehr aushalten. Er fragte leise: »Und? Paul? Was jetzt? Weißt du schon, was du machen willst?«

»Ja, das weiß ich.«

Rhodes wartete.

»Ich geh wieder in den Raum zurück«, sagte Carpenter. »Ich muss weg von hier. Die Erde ist beschissen und im Arsch, Nick. Für mich ist sie das jedenfalls. Außer dir habe ich hier keinen, an dem mir was liegt. Und Jeanne vielleicht noch. Aber die habe ich ja auch nicht richtig. Und ich möchte ihr Leben nicht noch mehr durcheinander bringen, als es schon ist, also ist es am besten, ich lasse sie ganz in Ruhe. Aber ich will nicht hier herumhängen und zusehen, wie alles immer mehr zugrunde geht.«

»Das wird nicht passieren«, sagte Rhodes. »Wir werden den Laden wieder so in den Griff bekommen, dass wir mit dem fertig werden können, was auf uns zukommt.«

»Wunderbar. Dann bringt das mal so gut in Ordnung, wie ihr könnt, Nick, und mach soviel Dampf dahinter, wie's nur geht. Aber ich, ich muss weg von hier.«

»In welches Habitat willst du denn gehen?«

»In keins. Weiter weg.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Rhodes. »Zum Mars? Ganymed?«

»Noch weiter, Nick.«

Zuerst war Rhodes ganz verwirrt. Dann überlegte er und entdeckte einen gewissen Sinn in dem, was Carpenter gesagt hatte.

»Das Sternenschiff-Projekt?«, fragte er ungläubig.

Carpenter nickte.

»Um Gottes willen, warum denn? Sind dir die L-5er nicht weit genug weg?«

»Bei weitem nicht! Ich will so weit fort, wie es nur geht, und noch einen Sprung weiter! Ich will diese Hölle loswerden. Mich reinigen von allem, was geschehen ist. Neu anfangen.«

»Aber wie kannst du denn das? Das Sternenschiff-Projekt ist doch …«

»Das kannst du für mich tun. Du kannst mich da mit reinkriegen. Nick, das ist doch ein Kyocera-Projekt. Und ab kommenden Montag bist du ein ganz hochrangiger Wissenschaftler in der Firma.«

»Das schon«, sagte Rhodes, obwohl ihn die Vorstellung erschreckte. »Ich nehme an – ja, ich werde dort einigen Einfluss haben. Aber das habe ich gar nicht gemeint.«

»Was hast du denn gemeint, Nick?«

Rhodes zögerte.

»Du willst da wirklich mit an Bord sein?«

»Ja. Ist das nicht klar? Genau das habe ich doch eben gesagt, oder?«

»Ja, aber – denk doch drüber nach, Paul! Die Augen …«

»Genau. Die Augen.«

»Willst du in sowas Monströses wie Farkas umgemodelt werden?«, fragte Rhodes.

»Ich will weg von hier!«, erwiderte Carpenter. »Nur das ist mir wichtig. Alles übrige ist nebensächlich. Okay, Nick? Hast du jetzt endlich kapiert? Gut. Fein. Ich will, dass du mir dabei hilfst. Setz deinen Einfluss ein, wie du's noch nie zuvor getan hast!«

Die Worte hatten etwas Leidenschaftliches, fand Rhodes. Aber keine Spur davon in der Stimme. Er klang, als redete er im Traum: Die Stimme war flach, ausdruckslos, gespenstisch gelassen. Rhodes erschrak.

»Ich will sehen, was ich tun kann«, hörte er sich selbst sagen.

»Ja? Tu das!« Wieder dieses geisterhafte Lächeln. »Es ist zum Besten, Nick.«

»Wenn du meinst.«

»Ich meine es. Ich weiß es, dass es so ist. Alles wirkt doch immer nur zum Besten, Nick. Alles.«

Загрузка...