Kapitel 27

In dieser Nacht träumte Carpenter, dass er auf dem Meer war und allein irgendeine Yacht von Kalifornien über den Pazifik nach Hawaii segelte. Aber es war zu einer besseren Zeit und in einer besseren Welt, denn der Himmel war rein und blau, und der Seewind strömte ihm frisch und sauber und mit dem erfreulichen kräftigen salzigen Aroma, nicht diesem schweren Stickstoffoxidgestank in die Nase, und das Meer war an seiner Oberfläche klar und sauber, ohne rötliche glitschige driftende Algenklumpen, ohne phosphoreszierende Haufen von Quallen und ohne breite Driften von fossilen Ölrückständen aus dem zwanzigsten Jahrhundert.

Er trug weiter nichts als eine zerfledderte abgeschnittene Jeanshose am Leib, doch er ging jeden Morgen ohne Angst hinaus auf Deck und unter die Sonne, die sich, unbefleckt von trüben Treibhausgasen, aus dem Meer hob und ein weiches, beinahe zärtliches Licht über das Wasser breitete. Er lauschte dem Wind, und er setzte seine Segel, und er erledigte seine Arbeiten an Bord und war nach ein paar Stunden, am Vormittag, damit fertig, und dann saß er da und las oder zupfte auf seiner Gitarre herum bis zum Mittag. Und dann legte er die Sicherungsleine über die Reling, kletterte hinunter und gönnte sich ein Bad und plätscherte neben dem Boot her durch das klare, warme, saubere unverseuchte Wasser. Und nachmittags …

Am Nachmittag sah er die Insel da ganz einsam in der See liegen, eine kleine Insel, auf keiner Seekarte vermerkt, drei Palmen und ein Streifen von grünem Pflanzenwuchs und ein wundervoller schneeweißer Strand. Und eine hochgewachsene Frau mit dunklem Haar stand einladend in der sanften lichtdurchströmten Brandung und winkte ihm zu. Sie war nackt bis auf einen Streifen roten Tuchs um die Schenkel. In dem hellen Tropenlicht schimmerte ihre Haut wie Bronze, die schweren Brüste, die kräftigen Schenkel …

»Paul?«, rief sie ihm zu. »Paul! Ich bin es, Jolanda – komm doch rüber zu mir an Land und spiel mit mir, Paul …«

»Ich komme«, rief er und legte die Hand an die Pinne. Und fuhr zu ihr und warf den Anker ins seichte Wasser, und dann schwamm er auf ihre erwartungsvollen Arme zu … und… und…

Und dann zirpte das Telefon.

Du hast falsch gewählt. Stör mich bitte nicht weiter.

Aber es hörte nicht auf.

Verpiss dich! Merkst du nicht, dass ich beschäftigt bin?

Und es bimmelte weiter und weiter, endlos, unerbittlich. Schließlich streckte er den Fuß aus und schaltete das Gerät mit der Zehe an.

»Jaah?«

»Zeit aufzustehen, Carpenter.«

Aus dem Visor blickte ihm das Albtraumgesicht von Victor Farkas entgegen.

»Wieso? Es ist doch – noch nicht mal sechs Uhr früh. Ich brauche doch erst in ein paar Stunden im Terminal zu sein.«

»Ich brauche dich jetzt.«

Was sollte nun das, verdammt? Eine Änderung im Plan? Carpenter war sofort hellwach.

»Stimmt was nicht?«, fragte er.

»Nein, alles läuft glatt«, antwortete Farkas. »Aber ich brauche dich jetzt. Zieh dich an und triff mich in einer halben Stunde. In El Mirador, Speiche D, im Café La Paloma. Es liegt genau mitten im Ort auf der Plaza.«

Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig mit ihm. Lass ihn nicht aus den Augen.

»Könntest du mir sagen, warum?«

»Ich treffe mich dort mit Olmo. Und wie du dir denken kannst, werden wir Wichtiges besprechen. Ich brauche einen Zeugen für unsere Unterhaltung.«

»Wäre es nicht logischer, den Israeli dafür zu …«

»Nein! Der wäre der letzte Mensch, den ich dabeihaben möchte. Ich brauche dich. Also, beeil dich, Carpenter. El Mirador, Speiche D. Spätestens um halb sieben. Liegt etwa auf halbem Weg zur Nabe.«

»Verstanden«, sagte Carpenter.

Er konnte sich unmöglich weigern. Aber diese plötzliche Programmänderung war doch seltsam. Wenn Farkas ihn bei seinem Schwatz mit Olmo dabeihaben wollte, dann hätte er dies ja eigentlich schon am vergangenen Abend sagen können. Aber sie waren ein Team; und der kritische Zeitpunkt war heute morgen; und abgesehen von Jolandas unguten Gefühlen hatte er doch eigentlich keinen Anlass anzunehmen, dass der Mann, der ihn für dieses Unternehmen angeworben hatte, ihn jetzt bestellte, weil er irgendwie einen Verrat beabsichtigte. Und Farkas sagte, dass Carpenter benötigt werde; ihm blieb keine andere Wahl, er musste gehen.

Und dennoch … trotzdem …

Er ist völlig skrupellos, und er ist enorm schnell und stark und er kann in sämtliche Richtungen gleichzeitig sehen. Er kann gefährlich werden.

Carpenter duschte rasch und zog sich an. Er fühlte sich jetzt wach und aufgedreht, doch ehe er sein Zimmer verließ, schluckte er eine von Jolandas Hyperdex-Tabletten. Das Stimulans würde ihn um etliches wachsamer und reaktionsschneller machen, falls etwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Die anderen zwei Pillen steckte er in seine Hemdtasche. Er hatte auf die Reise eine leichte ärmellose Wolljacke mitgenommen, weil er gehört hatte, dass die Lufttemperatur in Raumhabitaten um Grade niedriger gehalten wurde, als er es von der Erde gewohnt war; diese Jacke zog er jetzt an, nicht so sehr, weil ihm kalt gewesen wäre, sondern um zu verhindern, dass die Tabletten aus der Tasche rutschen könnten, falls er sich vorbeugen musste.

Er kannte keinen anderen Weg, um zur Speiche D zu gelangen, als bis zur Zentralnabe zu fahren, dort in die andere Speiche zu wechseln und den Aufzug zurück zu benutzen. Zwar hatte er das Gefühl, es müsse auf halbem Weg Querverbindungen geben, doch hatte ihm niemand gesagt, wie man diese benutzte.

Um diese frühe Stunde war das Leben in Valparaiso Nuevo bereits in vollem Gang. Überall wuselten Menschen herum. Es ist wie in einem riesigen Flugterminal, dachte Carpenter, mit Tag- und Nachtbetrieb und mit vierundzwanzigstündiger Kunstbeleuchtung. Nur dass hier die Hauptlichtquelle eben nicht künstlich war. Diese Energie kam von der Sonne, die hier rund um die Uhr zur Verfügung stand.

In dem Aufzug gab es gekennzeichnete Ausgänge. Als EL MIRADOR kam, stieg Carpenter aus und sah sich nach der zentralen Plaza um. Wegweiser halfen ihm. Wenige Minuten später langte er auf einem neckisch altmodisch gepflasterten Plätzchen an, das von offenen Straßencafés umgeben war. Das Ganze wirkte märchenhaft und unwirklich wie eine künstliche Welt. Aber genau das war es ja auch: eine unwirkliche Welt und in jedem Fall eine künstliche.

Carpenter entdeckte Farkas sofort auf der anderen Seite, er ragte aus den Menschengruppen heraus wie ein Elefant in einer Schafherde. Er ging hinüber.

Farkas war allein.

»Ist Olmo noch nicht da?«, fragte Carpenter.

»Wir werden unser Gespräch in der äußeren Satellitenhülle führen«, sagte Farkas. »Dort ist der einzig sichere Ort, um so etwas zu besprechen, völlig außerhalb der Abhörsysteme des Generalissimo.«

Dies kam Carpenter denn doch sehr merkwürdig vor: eine Besprechung im Satellitenmantel. Er begann sich wieder ein wenig Sorgen zu machen. Vielleicht war es angebracht, seine Sinne noch ein bisschen mehr zu schärfen. Während Farkas ihn zu einem Durchgang in der Wand hinter dem Café führte, langte Carpenter unter seine Jacke, holte sich noch eine von den Hyperdex-Pillen und steckte sie sich in den Mund.

Er zerbiss die Pille zwischen den Zähnen und zwang sich, sie zu schlucken. Er hatte nie zuvor Hyperdex auf diese Art genommen, ohne Wasser, und es schmeckte erstaunlich bitter. Und er hatte auch noch nie zuvor zwei von den Pillen kurz nacheinander geschluckt, und er merkte fast sofort, dass sich in ihm größere Helligkeit einstellte und er in einen fast manischen Zustand geriet. Er wäre am liebsten losgerannt, in die Luft gesprungen oder von einem Baumwipfel zum anderen. Es war ein wenig beunruhigend, dieses Gefühl, aus den Fugen zu geraten, doch außer dieser leichten Unsicherheit empfand er auch eine Sensation von stark gesteigertem Bewusstsein, erhöhten Reflexen, was für ihn etwas vollkommen Neues war. Was immer Farkas mit ihm da draußen in der Satellitenschale vorhaben mochte, er fühlte sich durchaus darauf vorbereitet.

»Hier rein«, sagte Farkas.

Er öffnete eine Tür in der Wandung und bedeutete Carpenter, er solle vorausgehen.

Carpenter sah durch die Öffnung in die Dunkelheit.

»Wenn ich da reingehe, weiß ich nicht, wogegen ich stoßen könnte«, sagte er. »Du bist doch der Mann mit der Supervision, Farkas. Warum gehst du nicht vor?«

»Wenn du meinst. Dann komm mir nach.«

Dann traten sie in die Wandung des Satelliten. Die helle fröhliche Plaza von El Mirador verschwand hinter ihnen. Jetzt befanden sie sich in dem düsteren Schutzpanzer dieses künstlichen Neuen Paradiestales, hinter der Szene, in der dunklen unbekannten Haut des Satelliten.

Kurz nachdem sie eingetreten waren, bemerkte Carpenter, dass hier keine völlige Finsternis herrschte: Gleich links von ihm befand sich ein schmaler Laufsteg, spärlich erhellt von einer Reihe uralt aussehender Glühlampen in der niederen Decke, die ein unmöglich schütteres gelbliches Glimmerlicht ausstrahlten. Als sich sein durch das Hyperdex gesteigertes Sehvermögen an dieses Halbdunkel anpasste, sah Carpenter die Haufen von Gesteinstrümmern, die irgendwie wohl als Ballast für den Satelliten dienten, wie er vermutete, und Wägelchen, die wie Golf-Carts aussahen, wahrscheinlich Hilfsfahrzeuge für das Wartungspersonal. Und dahinter lag ein völlig schwarzer Bereich, so dunkel wie der Weltraum selbst.

Der Gang war so niedrig, dass Carpenter kaum aufrecht stehen konnte. Farkas ging gebückt. Weiter hinten wirkte die Decke sogar noch niedriger.

Er war mit Farkas ganz allein hier.

»Wo bleibt denn dein Freund Olmo?«, fragte Carpenter. »Der verspätet sich anscheinend zu unserm kleinen Treffen?«

»Er ist knapp vor uns«, sagte Farkas. »Siehst du ihn nicht? Nein? Aber ich mit meiner Supervision, wie du es zu bezeichnen beliebtest, kann ihn ohne Schwierigkeit da drüben sehen.«

Aber es war außer ihnen beiden keiner hier. Dessen war Carpenter sich vollkommen sicher.

Und das hieß: Es würde Ärger geben. Er nahm die dritte Hyperdex-Pille aus der Hemdtasche, steckte sie in den Mund, kaute und schluckte sie.

Es war, als würde in seinem Schädel eine Bombe explodieren.

Farkas fragte: »Was machst du denn da?«

»Ich kann keinen Olmo sehen«, antwortete Carpenter. »Und auch sonst niemand.« Das kam ziemlich undeutlich über seine Lippen. Seine Stimme kam ihm vor, als spräche er in einem Echoraum.

»Nein. Olmo ist auch wirklich gar nicht hier.«

»Das habe ich mir doch gedacht.«

»Ja, so ist's«, sagte Farkas. »Wir zwei sind hier ganz allein. Und jetzt sagst du mir eins: Du stehst doch immer noch im Sold von Samurai Industries, Carpenter, oder etwa nicht?«

»Bist du wahnsinnig?«

»Antworte! Du spionierst uns für Samurai aus. Ja oder nein?«

»Nein! Was soll denn der Scheiß?«

»Ich glaube, du lügst«, sagte Farkas.

»Wenn ich noch für Samurai arbeiten würde«, sagte Carpenter, und seine Stimme klang schrecklich langsam wie die eines Roboters, dessen Batterieladung zu Ende geht, und er mühte sich, noch verständlich zu sprechen, als die dritte Hyperdex-Pille voll in seinem Nervensystem einschlug, »würde ich dann in einer dermaßen absurden wilden Sache wie der hier mitmachen?«

Statt zu antworten, wirbelte Farkas herum, bückte sich und hob etwas vom Boden auf, vielleicht einen schartigen Schotterklumpen, und schleuderte es in flachem Bogen auf Carpenters Kopf zu. Aber das Hyperdex tat seine Wirkung. Er war auf irgendeinen Angriff vorbereitet; und als dieser kam, wich er rückwärts und zur Seite aus und vermied mit Leichtigkeit Farkas' Schwung, so dass dessen Arm durchs Leere schlug. Er hörte, wie der Riese überrascht und ärgerlich grunzte.

Carpenter sprang vorwärts, um an Farkas vorbei und wieder ins helle Licht in El Mirador zu gelangen. Doch Farkas versperrte den Ausgang, und als Carpenter an ihm vorbeizutauchen versuchte, breitete er nur die enormen Arme weit aus, um ihn abzufangen. Carpenter wich zurück. Er sah hastig über die Schulter zurück, doch dort war nur stygische Düsternis, aber er trabte dennoch dort hinein, ohne zu wissen, wohin es ging.

Farkas kam ihm nach.

»Nur weiter so«, sagte er. »Dann gehst du über den Rand. Dort ist ein Sockel, direkt an der Schutzwandung, und dahinter geht's steil nach unten, und du fällst direkt in den Schwerkraftschacht. Es ist ein langer schwebender Sturz, aber bis du am Rand auf dem Boden landest, ist es ein Ge. Sehr beschissen für dich.«

Bluffte der Mann? Carpenter hatte keine präzise Vorstellung von den geographischen Verhältnissen hier drinnen. So zögerte er ganz kurz, und Farkas stürzte vor. Der Mann war schnell, und er war riesig groß, aber wieder kam ihm die Dreifachdosis Hyperdex zu Hilfe. Ihm erschienen die Bewegungen von Farkas schwerfällig, fast wie erstarrt. Sie ließen sich leicht vermeiden. Carpenter wich zur Seite und bekam nur einen streifenden Hieb an der linken Schulter ab. Er hörte, wie Farkas erstaunt und ärgerlich in sich hineinknurrte.

Aber er stand noch immer zwischen ihm und dem Ausgang. Und er wusste nicht, was hinter ihm, näher zur Außenwandung der Satellitenwelt, liegen mochte.

Vielleicht war es tatsächlich so gefährlich, wie Farkas gesagt hatte, sich weiter zurückzuziehen. Aber vor ihm befand sich eben Farkas. Er ist schrecklich schnell und stark, und er kann in alle Richtungen gleichzeitig sehen, hatte Jolanda gesagt. Ja. Aber ihm blieb keine große Wahl. Carpenter zog den Kopf ein und verlagerte sein Schwerkraftzentrum so tief nach unten wie möglich, dann lief er direkt auf Farkas zu. Als er in seiner Reichweite war, packte Farkas ihn, und sie rangen wütend kurz miteinander. Aber Carpenter konnte den Mann nicht bewegen; er war riesenhaft und maßlos stark, und er stemmte sich gegen ihn. Und seine Hände hatten sich um Carpenters Hals geschlossen, und er drückte zu.

Carpenter geriet in einen Zustand manischer Überdrehtheit, tänzelte wild herum, wand sich, wurde schlaff und packte plötzlich wieder fest zu. Und irgendwie wand er sich so herum, dass er aus Farkas' Würgegriff frei kam, und tänzelte von ihm weg. Er wusste, das war dank einer glücklichen Gewichtsverlagerung möglich, und er würde es wahrscheinlich nicht ein zweites Mal schaffen.

Farkas kam hinter ihm her, er bewegte sich mit unbehinderter Sicherheit, als sie in tiefere Dunkelheit gerieten, wo Carpenter beinahe überhaupt nichts mehr von seiner Umgebung wahrnehmen konnte. Undeutlich sah er, wie Farkas seine langen Arme nach ihm ausstreckte, dunkel strichhaft vor der Dunkelheit. Er tastete mit der Fußspitze vorsichtig nach hinten, um herauszufinden, ob er sich dem Abgrund bereits näherte, von dem Farkas gesprochen hatte, oder aber ob Farkas ihn andererseits in die Enge und an die Wand treiben wollte. Aber er entdeckte nichts dabei. Und inzwischen konnte er wirklich fast nichts mehr sehen.

Aber Farkas, der konnte sehen.

Was vor ihm lag und auch hinter sich. Was hatte Jolanda gesagt? Dass er durch seine Blindheit eine Sehfähigkeit von dreihundertsechzig Grad bekommen hatte.

Aber er hörte den scharfen Atem des Mannes. Er fühlte, ohne sie zu sehen, wie seine massige Gestalt ihm näherkam. Er besaß eine übermenschliche Reaktionsgeschwindigkeit, doch Farkas konnte ›sehen‹, und er war größer und stärker. Und das war hier in der Finsternis kein fairer Kampf.

Carpenter schlüpfte in einer einzigen geschmeidigen Bewegung aus seiner Wolljacke und hielt sie sacht mit zwei Fingerspitzen fest. Farkas kam angerollt. Carpenter war darauf vorbereitet und stemmte sich, so gut es ging, gegen den Boden.

Dann prallten ihre Körper gegeneinander. Carpenter spürte einen heftigen Aufprall an der Brust, und er glaubte schon, dass ihm die ganze Luft auf einmal aus den Lungen gedrückt würde. Sein ganzer Brustkorb schien zertrümmert zu sein.

Doch es gelang ihm, den Schmerz wegzuschieben und auf den Beinen zu bleiben. Er hob seine Jacke wie eine Schlinge hoch, und als Farkas den Kopf senkte, um ihm den Todesstoß zu versetzen, warf er ihm die Jacke rasch über den Schädel zog das untere Ende um seinen Hals, packte die Saumenden, verschnürte und verknotete sie wie eine Haube über dem Kopf von Farkas. Ihm schien, er hätte massenhaft Zeit, um zu tun, was er da tat. In Wirklichkeit dauerte es wahrscheinlich nicht länger als eine Sekunde.

Farkas keuchte. Er brüllte. Er stampfte mit den Füßen und stieß wütende keuchende Schreie aus.

Na?, dachte Carpenter. Funktioniert dein Blindsehen auch, wenn man dir Wolle über den Kopf zieht?

Anscheinend nicht. Farkas tobte und raste wie ein geblendeter Polyphem im Finstern, und Carpenter tänzelte geschickt als geschmeidiger, von Panik erfüllter Odysseus um ihn herum, versetzte ihm einen kräftigen Stoß, so dass er sich im Kreis drehte, während Carpenter an ihm vorbeiglitt. Farkas stolperte, gewann das Gleichgewicht zurück und griff mit enormer Geschwindigkeit erneut an.

Er war schnell, doch Carpenter war noch schneller. Er wich wieder aus. In der Finsternis konnte er fast nichts unterscheiden, doch fühlte er den Lufthauch, als Farkas mit wirbelnden Armen und wütend grunzend mit gewaltigen dröhnenden Schritten an ihm vorbei schoss.

Und danach – der Schrei. Plötzlich. Erstaunen? Wut? Entsetzen?

Ein lang ausgedehnter Schrei, der wie in einem Dopplerecho verhallte.

Und dann, weit unten, ein dumpfer Aufschlag.

»Farkas?«, rief er.

Keine Antwort.

»Bist du ins Loch gefallen, Farkas? He, du da unten, bist du tot?«

Aber alles blieb still. Ganz still. Still.

Also war Farkas weg. Richtig weg und fort. Es fiel schwer zu glauben, dass diese ganze dunkle Potenz so einfach ausgelöscht sein sollte. Dieser seltsame Mensch. Carpenter starrte in die Finsternis hinein.

Doch in diesem Augenblick des Sieges empfand er keinerlei Gefühl von Triumph. Er war nur desorientiert und erschöpft. Er begriff, dass er genau in diesem richtigen Augenblick sein Hyperdex-High erreicht gehabt hatte und nun wieder absackte. Und es war ein sehr hohes High gewesen. Der Abstieg würde scheußlich werden.

Ihn überkam nur ein Schwindelgefühl, wie er es nie vorher erlebt hatte, und ein fast unüberwindlicher Brechreiz. Das ganze Universum kreiste wirbelnd um ihn herum. Er ging auf die Knie und klammerte sich an die unsichtbare grobe Fläche unter seinen Händen. Und die schwankte und pulste und wölbte sich. Sein Magen begann sich zu heben und zu verkrampfen. Es war ein trockenes Würgen, aber es ließ nicht nach, bis er das Gefühl bekam, er werde umgestülpt und sein Inneres nach außen gewürgt wie bei einem Seestern, und als es aufhörte, kroch er auf dem Bauch ein bisschen weg von der Stelle, und dann lag er da lange mit dem Gesicht gegen den scharfen körnigen Boden gepresst, und ließ die Dreifachdosis Hyperdex durch sich hindurchtoben, als wären es drei Orkane. Und aus der Finsternis kam nichts Neues von Farkas. Farkas war fort. Farkas war tot.

Es könnten Stunden gewesen sein, die Carpenter da so lag. Eine ganze Weile befand er sich in einer Art von Halluzinationszustand. Dann fand er zum vollen Bewusstsein zurück, oder doch fast.

Sein Körper zitterte, er bebte, er stöhnte, er weinte, während sich der Rest der Überdosis durch sein überbeanspruchtes Nervensystem brannte.

Als er sich bemühte, auf die Beine zu kommen, merkte er, dass es ihm nicht möglich war. Seine Beine waren wie Gummi, der Kopf fühlte sich leer an, und er besaß nicht die geringste körperliche Kraft. Also legte er sich wieder flach hin und wartete, und nach einiger Zeit wurde er etwas ruhiger. Langsam begann er vorwärts zu kriechen, ertastete sich den Weg, um ganz sicher zu sein, dass keine Abgründe vor ihm lagen, und nach einer Weile erkannte er, dass er wieder in den Bereich gekommen war, wo das schwache Licht der Glühlampen eine gewisse Orientierung erlaubte.

Dann fand er die Tür zurück nach El Mirador.

»Farkas?«, rief er noch ein letztes Mal und blickte zurück in das Dunkel.

Nichts. Nur Stille.

Dann stolperte er auf das Katzenkopfpflaster der Plaza.


Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Bei dem Kampf in der Satellitenhülle war ihm irgendwann die Armbanduhr abgerissen worden. Aber, wie es aussah, war der Vormittag bereits weit fortgeschritten. An der Plaza waren die meisten Tische der Cafés besetzt. Aber er fand einen freien Platz und sank auf den Stuhl. Er spürte, dass man ihn neugierig anstarrte, und er fragte sich, wie stark angeschlagen und verdreckt er wohl aussah.

Er fühlte sich ausgelaugt und stumpf und benommen.

Aber in seinem Kopf brannte immer noch ein Rest von Hyperdex. Der Beschleunigungseffekt hatte etwas nachgelassen, er konnte sich nun mit normalem Tempo bewegen, doch seine Gedanken rasten immer noch in wilden Kreisen mit reichlich Überlichtgeschwindigkeit.

Konnte die Dreifachdosis fatale Schädigungen bewirken? Sollte er einen Arzt aufsuchen?

Eine reicht unter normalen Umständen, hatte Jolanda gesagt. Zwei für außergewöhnliche Umstände. Und er hatte alle drei geschluckt.

Er fröstelte und zitterte. Es kostete ihn Mühe, nicht mit dem Gesicht vornüber auf den Tisch zu sacken.

Ein Android fragte: »Kann ich etwas bringen, Sir?«

Die Frage kam Carpenter unglaublich drollig vor. Er brach in wildes Gelächter aus. Der Android stand weiter geduldig und höflich an seinem Tisch.

»Etwas zu trinken? Oder vielleicht zu essen?«

»Nichts, danke.« Carpenter zwang sich zu der Antwort. »Danke, ich brauche nichts.« Seine Stimme kam ihm immer noch verwaschen und zu hastig vor. Und sich bei einem Androiden bedanken, also wirklich!

Der Android ging. Carpenter saß still da. Einatmen … Ausatmen …

Nach einer Weile fiel ihm wieder ein, dass nach Davidovs Plan Farkas sich mit einem gewissen Oberst Olmo von der Guardia Civil um sieben Uhr an diesem Morgen in Verbindung setzen sollte, um ihn zu informieren, dass die Bomben überall im Habitat platziert worden seien und dass Generalissimo Callaghan bis Mittag zurückgetreten sein müsste, oder alles hier würde zerstört werden. Aber hatte Farkas diesem Olmo tatsächlich das 07:00-Ultimatum durchgegeben?

Nein. Nein, das konnte er bestimmt nicht. Um 06:00 Uhr hatte Farkas ihn ja durch die Wanten der Satellitenhülle gehetzt. Farkas hatte zunächst den angeblichen Spion von Samurai Industries beseitigen wollen, ehe er mit Olmo sprach. Also war das Ultimatum höchstwahrscheinlich überhaupt nicht gestellt worden, außer dass Farkas sich nicht an den Zeitplan gehalten und mitten in der Nacht schon mit Olmo gesprochen hatte.

Also wusste Olmo vermutlich nichts über die Deadline. Der Umsturzversuch war gescheitert.

Aber die Bomben waren noch immer per Zeitzünder zur Explosion auf halb zwei eingestellt.

»Entschuldige«, sagte Carpenter zu einer Frau, die am Tisch neben seinem saß. Seine Stimme klang keuchend, heiser, rau, gebrochen, wie die Stimme eines gerade aus den Folterkammern der Inquisition Entronnenen. »Könntest du mir bitte sagen, wie spät es ist?«

»Elf-dreißig«, sagte die Frau.

Himmel! Keine halbe Stunde mehr bis zu dem für die Abdankung vorgesehenen Zeitpunkt. Und nur zwei Stunden, bis die Bomben hochgehen würden.

Carpenter begriff, dass er nach dem Kampf mit Farkas für Stunden bewusstlos auf dem Boden gelegen haben musste.

Er suchte nach einem öffentlichen Kommunikator und fand einen links an seinem Tisch angeklemmt. Die Tastatur war winzig, seine Finger kamen ihm dick wie Baumstümpfe vor, und als er sich an den Anrufcode von Davidovs Hotel zu erinnern versuchte, bekam er fünfzigtausend verschiedene achtziffrige Nummern in einer Fünfzigtausendstelsekunde vor die Augen.

Ruhig. Nur ruhig! Er fädelte sich durch das Labyrinth der Nummern und fand schließlich die richtige und gab sie durch.

Niemand meldete sich.

Es kam auch keine Suchanzeige.

Carpenter drückte die ›Hilfe‹-Taste und befahl, Davidov in ganz Valparaiso Nuevo zu suchen. Wieso dies nicht automatisch erfolgte, wusste er nicht; doch eine Minute später kam der Apparat mit einer Fehlanzeige für den gewünschten Teilnehmer an.

Wo war Davidov?

Dann versuchte er es mit der Nummer des Hotelzimmers, das Jolanda und Enron teilten. Nichts.

Irgendwas war hier oberfaul. Wo waren die alle? Die Bomben tickten doch bereits.

Er holte tief Luft, dann tippte er, wie er hoffte, den richtigen Code für die Vermittlung und erklärte, dass er mit Oberst Olmo von der Guardia Civil sprechen wollte. Er wurde in die Operationszentrale der Guardia verbunden.

»Den Colonel Olmo, bitte.«

»Wer spricht da?«

»Mein Name ist Paul Carpenter. Ich gehöre zu …« Beinahe hätte er gesagt: zu Samurai Industries. Aber er bremste sich noch rechtzeitig. »Kyocera-Merck Limited. Ich bin Mitarbeiter von Victor Farkas. Sag ihm das. Victor Farkas!« Es fiel ihm enorm schwer, deutlich zu sprechen.

»Bitte warte einen Augenblick.«

Carpenter wartete. Er überlegte sich, wie viel er Olmo sagen sollte, ob er ihm gegenüber das ganze Komplott bloßlegen sollte. Es war nicht seine Aufgabe und Verantwortung, das Ultimatum zu übermitteln. Er war bei dem Geschäft nur ein kleiner unbedeutender Handlanger. Andererseits hatte aber er Farkas von der Bildfläche beseitigt, und das wusste außer ihm keiner. War er jetzt verpflichtet, Farkas' Rolle zu übernehmen?

Eine Stimme fragte: »Was ist der Grund für den Anruf, Mister Carpenter?«

Oh, du heiliger Jesus!

»Es ist streng vertraulich. Ich kann nur mit Colonel Olmo selbst sprechen.«

»Der Colonel ist im Augenblick nicht verfügbar. Vielleicht möchtest du mit dem diensthabenden Beamten sprechen. Mit Capitano Lopez Aguirre?«

»Nein! Olmo, nur Olmo, bitte. Es ist sehr dringend.«

»Der Capitan Lopez Aguirre wird gleich mit dir sprechen können.«

»Olmo«, sagte Carpenter noch einmal. Ihm war zum Heulen.

Dann eine andere Stimme, die scharf und gelangweilt sagte: »Lopez Aguirre. Worum geht es, bitte?«

Carpenter sah benommen auf den Kommunikatorstab in seiner Hand, als hätte der sich plötzlich in eine Schlange verwandelt.

»Ich muss versuchen, mit Colonel Olmo zu sprechen. Es geht um Leben und Tod.« Er musste sich anstrengen, seine Worte verständlich zu machen.

»Colonel Olmo ist nicht zu sprechen.«

»Das hat man mir bereits gesagt. Aber du musst mich trotzdem mit ihm verbinden. Ich rufe wegen Victor Farkas an.«

»Wer?«

»Farkas. Farkas. Kyocera Merck.«

»Mit wem spreche ich, bitte?«

Carpenter wollte erneut seinen Namen sagen. Aber dann sagte er: »Es spielt keine Rolle, wer ich bin.« Er kämpfte noch immer mit dem Hyperdex und stolperte beständig übe seine Zunge. »Wichtig ist, dass Mister Farkas Colonel Olmo etwas sehr Wichtiges zu sagen hat, und …«

»Wer bist du? Und was soll das Ganze? Du bist betrunken, ja? Denkst du, ich kann meine Zeit mit Saufköpfen vergeuden?«

Himmel! Lopez Aguirre klang wirklich sehr ärgerlich. Im nächsten Moment, erkannte Carpenter, würde der Mann wahrscheinlich jemand zur Plaza entsenden und ihn festnehmen und zum Verhör abführen lassen, als verdächtige Person, die öffentliches Ärgernis erregt. Ihn in irgendein Hinterzimmer sperren und sich irgendwann nach dem Mittagessen mit ihm befassen. Oder vielleicht auch irgendwann morgen.

Er schaltete den Kommunikationsstab ab und machte sich quer über die Plaza davon. Er rechnete damit, dass hinter einer der Palmen ein Mann der Guardia hervortauchen und ihm Magnetos anlegen werde, bevor er die andere Seite des Platzes erreicht hatte. Aber niemand hielt ihn auf. Er torkelte mit zuckenden verdoppelt schnellen Schritten weiter, immer noch bis zu einem gewissen Grad von dem Hyperdex beschwingt. Und er wusste, das würde noch einige Stunden lang so bleiben.

In den Aufzug. Hinunter zur Nabe, zum Shuttle-Terminal. Dort würden sie höchstwahrscheinlich alle sein: Enron, Jolanda, Davidov und seine Leute. Und warteten dort, bis sie ins Shuttle gehen konnten, falls es Olmo nicht gelungen war, den Generalissimo vom Thron zu stürzen.

Durch die Glaswand des Aufzugschachts erhaschte er einen Blick auf eine Uhr. Viertel vor zwölf war es jetzt. Und wenn Davidov keinen Ausweichplan vorbereitet hatte, würde die Mittags-Deadline verstreichen, ohne dass Olmo irgend etwas erfahren hatte. Aber das war nicht das wirklich ernste Problem. Wirklich ernst wurde es, wenn die neunzig Minuten Gnadenfrist verstrichen, ohne dass man von Olmo Nachricht hatte, und wenn dann die Bomben gezündet würden.

Das Shuttle zur Erde wartete startbereit im Terminal. Carpenter sah die schimmernde Lanze des Rumpfs exakt im Ring des Dockmoduls und direkt dahinter das lange hochragende Shuttle selbst. Überall blinkten helle Lampen verwirrend. Verdammt, wo war die Abflughalle?

Er befand sich in einer Art Warteraum. Eine Handvoll jugendlicher Einheimischer hing da herum. Er erinnerte sich, dass sie ihm bereits bei seiner Ankunft aufgefallen waren: Es waren Kuriere, scharfe Typen, die sich auf die Anreisenden stürzten. Er suchte nach dem Jungen, der ihnen bei der Ankunft geholfen hatte – Natathaniel, so hatte der Typ geheißen –, aber er sah ihn nicht. Doch dann kam ein anderer, ein untersetzter blonder Junge mit rosigem Gesicht, der wohl nicht so sanft war, wie er aussah, auf ihn zu und fragte ihn: »Kann ich dir helfen, Sir? Ich bin lizenzierter Kurier. Ich heiße Kluge.«

»Ich habe ein Ticket für das Zwölffünfzehner zur Erde«, sagte Carpenter.

»Dann gehst du da drüben direkt durch die Tür, Sir. Soll ich dir dein Gepäck aus dem Schließfach holen?«

Aber das wenige, was Carpenter an Gepäck mithatte, befand sich noch in seinem Hotelzimmer. Ach, zum Teufel damit!

»Ich habe kein Gepäck«, sagte er. »Aber ich suche Freunde von mir, die auch mit diesem Shuttle fliegen wollten.«

»Dann sind die bestimmt schon in der Abflugs-Lounge. Oder bereits im Shuttle. Die Boardingtime ist nämlich fast vorbei, musst du wissen.«

»Ja. Hast du sie vielleicht gesehen?« Er beschrieb ihm Enron, Davidov, Jolanda. Bei der Beschreibung Jolandas begannen seine Augen zu leuchten.

»Die sind hier noch nicht durchgekommen«, sagte Kluge.

»Bist du sicher?«

»Ich kenne diese Menschen. Mister Enron aus Israel und Miss Bermudez. Und den anderen, den großen Mann mit den kurzen Haaren, der verschiedene Namen hat. Ich habe schon bei ihrem letzten Besuch für Mister Enron und Miss Bermudez gearbeitet. Ich hätte es bestimmt bemerkt, wenn sie in der letzten Stunde hier irgendwo aufgetaucht wären.«

Carpenters Augen weiteten sich enttäuscht.

»Du gehst jetzt besser in die Lounge, Sir«, sagte Kluge. »Gleich kommt der letzte Aufruf. Wenn ich wen von deinen Freunden kommen sehe, sage ich ihnen, dass du bereits an Bord gegangen bist. Geht das so okay, Sir?«

Wo waren sie? Verdammt, was war passiert?

Olmo sollte doch eigentlich ein paar der Bomben entdecken. So war jedenfalls der Plan, hatte Davidov gesagt: Er sollte ein paar von den Sprengsätzen finden; damit er begriff, dass die Drohung kein leerer Bluff war. Angenommen aber, dieser Olmo hatte eine oder mehrere der Bomben gefunden, aber auch die Leute, die sie anzubringen hatten, also Davidovs Leute, und hatte die mehr oder weniger subtilen Methoden angewandt, mit denen die Polizei hier in der Regel Informationen aus Menschen herausholte. Und dann hatte er die Übrigen festnehmen lassen, Davidov, Jolanda, Enron – und jetzt saßen sie irgendwo in Haftzellen, und Olmo beabsichtigte, sich später mal um sie zu kümmern, um sie zu vernehmen – oder vielleicht auch erst morgen …

»Letzter Aufruf für Flug 1133«, sagte eine Stimme aus den Lautsprechern. »Passagiere nach San Francisco, Shuttle zur Erde, bitte an Bord gehen …«

»Du gehst da jetzt besser rein, Sir«, riet Kluge ihm noch einmal.

»Ja. Ja, richtig. Hör mal, wenn die noch auftauchen, sag ihnen bitte, dass ich an Bord gegangen bin und – hör genau zu – dass Farkas heute früh die Nachricht nicht weitergegeben hat. Hast du verstanden? Dass Farkas die Nachricht nicht durchgegeben hat.«

»Genau, Sir. Farkas hat die Nachricht nicht durchgegeben.«

»Fein. Danke.« Carpenter suchte in seinen Taschen und fand eine der hier gebräuchlichen Münzen. Callaghanos nannten sie die. Es waren nicht eigentlich Münzen aus Metall, sondern Geldkärtchen aus Plastik. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was das Scheibchen wert war, aber es war groß und schimmerte silbern und hatte die Ziffer 20 eingeprägt, also sollte es wohl reichen. Er gab es Kluge.

»Letzter Aufruf für Flug 1133 …«

Wo blieben Enron und Jolanda, verdammt? Wo Davidov. Sie waren festgenommen, daran hatte er jetzt keinen Zweifel mehr.

Und Olmo hatte die Bomben gefunden, ja. Aber hatte er auch alle Sprengsätze gefunden? Wusste er überhaupt, wie viele da versteckt worden waren? Hatte er überhaupt daran gedacht, danach zu fragen?

Carpenter trat in die Lounge. Er rechnete fast damit, verhaftet zu werden, sobald er seine ID-Plakette vorwies, aber nein, man sagte ihm, alles sei in Ordnung, also lag anscheinend nichts gegen ihn vor, und er wurde in keiner Weise mit der Verschwörung in Verbindung gebracht; er war wohl so völlig bedeutungslos, dass er nicht einmal bei seinem Kurzaufenthalt in Valparaiso Nuevo aufgefallen war.

Mittag.

Er sollte eine Störung provozieren, falls die anderen nicht rechtzeitig erschienen – eine Verzögerung, damit sie den Abflug stoppen müssten, bis die andern erschienen. Am Check-in sagte er: »Einige Freunde von mir sind noch nicht da. Ihr müsst den Abflug verschieben, bis sie da sind.«

»Das ist leider unmöglich, Sir. Der Orbitalplan …«

»Ich habe gestern Abend noch mit ihnen darüber gesprochen, und sie wollten unbedingt rechtzeitig hier sein.«

»Aber dann sind sie möglicherweise ja bereits an Bord.«

»Nein. Ein Kurier da draußen, der sie kennt, sagte mir, dass …«

»Möchtest du mir bitte ihre Namen sagen, Sir?«

Carpenter rasselte die Namen herunter. Er war immer noch überschnell. Der Schalterbeamte bat ihn, die Namen langsamer zu wiederholen, und er tat es. Ein Kopfschütteln.

»Diese Personen sind nicht auf dem Flug, Sir.«

»Sind sie nicht?«

»Ihre Buchungen wurden storniert. Für alle drei Personen. Wir haben den Eintrag, dass sie nicht mitfliegen werden.«

Carpenter glotzte nur stumpf.

Sie sind verhaftet worden, dachte er. Daran besteht kein Zweifel mehr. Olmo hat sie, und wenn's schief ging, haben sie ihm von dem Komplott erzählt, außer natürlich, er hat sie zur späteren eingehenden Vernehmung weggepackt.

Und die Bomben – hatte Olmo die alle gefunden? War er überhaupt im Bild?

»Entschuldige, aber wenn es dir nichts ausmacht, du musst jetzt deinen Platz an Bord einnehmen …«

»Ja. Natürlich«, sagte er mechanisch.

Mit einem bleischweren Schädel wie ein sterbender Roboter schlurfte er ins Shuttle. Suchte nach Jolanda, Enron, Davidov. Nichts von ihnen zu sehen. Natürlich nicht.

Ließ sich in seiner G-Schale festzurren. Wartete auf den Start des Shuttles.

Enron. Davidov. Jolanda.

Eine Kolossalpleite. Und er konnte nichts dagegen tun. Gar nichts. Den Start verschieben? Das wollten sie nicht und würden sie nicht. Sie würden ihn einfach rausholen und im Shuttle-Terminal in eine Arrestzelle stecken. Es wäre der reinste Selbstmord, weiter nichts.

»Bitte legen Sie sich zurück und genießen Sie den Flug.«

Na klar doch. Klar!

Und dann bewegte sich das Shuttle nach außen. Viertel nach zwölf. Pünktlich. Carpenter legte die Hände über die Augen. Schon vor einer kleinen Weile hatte er gemerkt, dass er todmüde war, wie kaum jemals vorher; aber jetzt, kam ihm der Verdacht, war er da einen Schritt weitergekommen: er war so erschöpft, wie er es überhaupt werden konnte. Wenn du an bloßer Erschöpfung sterben kannst, dachte er, dann müsste ich jetzt tot sein.

»Wie spät ist es?«, fragte er, viel später, einen Mann neben sich.

»Valparaiso-Zeit?«

»Ja.«

»Genau eins-achtundzwanzig.«

»Danke«, murmelte Carpenter. Er wandte sich zu seiner Bordluke und starrte wie gebannt hinaus. Welche Seite des Shuttles war Valparaiso Nuevo zugewandt? Und wenn es diese hier war, welcher der zahlreichen kleinen Lichtpunkte da draußen war das Habitat, das er gerade verlassen hatte?

Er brauchte nicht lang zu warten, um die Antwort zu erhalten.

Als die Explosion kam, war das wie das Aufblühen einer fernen scharlachroten Blüte im Himmel. Plötzlich. Und dann ein zweites rotes Flammen. Ein drittes …

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